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Tschechien : Nachbarschaft im Wandel / Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Internationaler Dialog. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1995. - 12 Kb, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 50)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


Ein Jahr vor den nächsten Wahlen zeigen sich Innen- und Außenpolitik der tschechischen Republik in verändertem Licht. Innenpolitisch hat Ministerpräsident Vaclav Klaus und seine Regierungskoalition an Glanz und Ansehen zugunsten der Sozialdemokraten verloren. Eine selbstkritischere Haltung der Tschechen im Hinblick auf Besetzung und Vertreibung hat außenpolitisch eine Entspannung im deutsch-tschechischen Verhältnis ermöglicht.

Prominente Tschechen griffen seit Jahresbeginn die Frage des deutsch-tschechischen Verhältnisses auf: Havel vor der Karlsuniversität im Februar, die Bischöfe und Außenminister Zielenec im März, eine gemeinsame Erklärung deutscher und tschechischer Persönlichkeiten im April, Premier Klaus in Furth i.W. im Mai. Im Juni gab es eine gemeinsame Erklärung deutscher und tschechischer Sozialdemokraten. Trotz eines Urteils des tschechischen Verfassungsgerichts zugunsten der Benes-Dekrete ist inzwischen zumindest das Amnestiegesetz für tschechische Vergehen während der Vertreibung nicht mehr unumstritten.

Die konservativ-liberale Regierung Klaus leidet unter einer Reihe von Skandalen, zuletzt um Klaus selbst, der sich eine der knappen kommunalen Wohnungen mit subventionierter Miete besorgen wollte. Innerhalb der Regierungskoalition zwischen ''Demokratischer Bürgerpartei'' (ODS), den Christdemokraten (KDS), der ''Demokratischen Bürgerallianz'' (ODA) und der ''Christdemokratischen Union - Tschechoslowakische Volkspartei'' (KDU-CSL) kriselt es ebenfalls angesichts schlechten Abschneidens vor allem der ODA in den Meinungsumfragen (siehe Grafik unten).

Die Sozialdemokraten (CSSD) dominieren die Opposition

Die Hauptgewinner der Koalitionsschwäche sind die tschechischen Sozialdemokraten unter ihrem Vorsitzenden Milos Zeman. Sie sind neben den Kommunisten (KSCM) die einzige größere Oppositionspartei. Allerdings sind die Erfolge bei den Meinungsumfragen mit Vorsicht zu betrachten. Die Gewinne gehen hauptsächlich auf Verluste der Kommunisten zurück, deren Anhänger unter den Befragten sich weniger gern bekennen, aber bei Wahlen trotzdem für sie stimmen. Dies zeigte sich auch bei den Kommunalwahlen 1994, in denen die CSSD schlechter als vorhergesagt abschnitt und die Kommunisten besser.

Die Sozialdemokraten profitieren nicht nur von den Skandalen der Regierung, sondern auch von den sozialen Sorgen weiter Teile der Bevölkerung. Denn trotz relativ guter volkswirtschaftlicher Indikatoren (Wachstum ca. 3%, Arbeitslosigkeit 3%, Inflation 10%, Devisenreserven stark steigend) liegen die Realeinkommen noch unter dem Niveau von 1989. Erste Streiks und eine große Gewerkschaftsdemonstration gegen die Rentenreformpläne der Regierung zeugen davon, daß der Reformwille und die Opferbereitschaft an ihre Grenzen gekommen sind.

Die übrigen Oppositionsparteien scheinen diese Entwicklung weniger nutzen zu können. Die orthodoxen Kommunisten der KSCM sind in den Umfragen auf 7% gefallen, bilden aber immer noch die mitgliederstärkste Partei in Tschechien. Zwei kleine reformkommunistische Gruppen, die sich von der KSCM abgespalten haben, der ''Linke Block'' (LB) und die ''Partei der demokratischen Linken'' (SDL) von Mecl, kommen in den Meinungsumfragen nicht über 1%. Auch die Nationalisten von Sladek, die im Parlament vertreten sind, würden den Umfragen zufolge, bei den nächsten Wahlen nicht die 5%-Hürde überwinden.

Krach und Skandale in der Regierungskoalition

Die insgesamt recht erfolgreiche Regierungskoalition leidet unter wachsenden Spannungen. Die dominierende ODS von Vaclav Klaus will ihre beherrschende Stellung sichern und lehnt daher jede Streuung der stark zentralisierten Macht ab. An ihrem Widerstand scheiterten bisher die in der Verfassung vorgesehene Einführung von selbstverwalteten regionalen Körperschaften und der zweiten Kammer (Senat). Mit den Christdemokraten streitet sich die ODS insbesondere noch um die Rückgabe des enteigneten Vermögens an die Katholische Kirche. Für den Fall der von Klaus angekündigten Privatisierung drohen sie mit dem Austritt aus der Koalition.

Dazu kommen Skandale:

  • Anfang 1995 beschuldigte der ODA-Vorsitzende und Klaus-Stellvertreter Jan Kalvoda mit Unterstützung des Vorsitzenden der KDU-CSL Josef Lux den Geheimdienst, seine Partei zu bespitzeln.
  • ODA und KDU-CSL waren in fragwürdige Kreditgeschäfte verwickelt.
  • Der Leiter der Privatisierungsbehörde (ODS) mußte wegen Bestechung gehen.
  • Der stellvertretende ODS-Vorsitzende Cernak stolperte darüber, daß er sich kostenlos Luxuslimousinen von einem straftatverdächtigen Mietwagenunternehmer zur Verfügung stellen ließ.
  • Premier Klaus mußte nach heftiger Kritik der Öffentlichkeit eine mietsubventionierte Wohnung aufgeben, die er sich besorgt hatte.

Die ODA muß besonders um ihr Profil in der Regierungskoalition besorgt sein, da sie nach den jetzigen Meinungsumfragen nicht mehr ins Parlament einzöge, obwohl sie mit Wirtschaftsminister Dlouhy über einen der beliebtesten Politiker in Tschechien verfügt.

Der kleinste Koalitionspartner der ODS, die Christdemokratische Partei (KDS) von Vaclav Benda, ist in den Umfragen unter 1% gerutscht und hat sich kürzlich mit der ODS vereinigt.

Die deutsch-tschechischen Beziehungen entspannen sich

Eine leidvolle Geschichte und kommunistische Propaganda haben das Deutschlandbild der Tschechen geprägt. Noch im März 1995 glaubte ein Viertel der Tschechen, daß Deutschland die potentiell größte äußere Gefahr für Tschechien darstelle. Dieses Viertel setzte sich zu 51% aus KSCM-Wählern, 29% CSSD-Anhängern und nur zu 11% aus ODS-Sympathisanten zusammen. Hierin liegt eine besondere Aufgabe für die beiden sozialdemokratischen Parteien, da gerade die tschechische Parteiführung sich oft als besonders harter Vertreter der tschechischen Interessen gegenüber Deutschland zu profilieren suchte.

Die Betonung des tschechischen Nationalstolzes mit ihrer latent antideutschen Komponente machte seit Anfang 1995 einer öffentlichen Debatte in Tschechien Platz, die auf Selbstkritik, offene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Versöhnung zielte. Sie wurde von einer entsprechenden Welle von Äußerungen aus Deutschland begleitet. Wichtige Erklärungen gaben Deutsche und Tschechen gemeinsam ab, so die Bischöfe und die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Der laufende Dialog zwischen den tschechischen und deutschen Sozialdemokraten könnte sowohl zur Entspannung wie auch zur Entwicklung konstruktiver Lösungen bilateraler Probleme einen wichtigen Beitrag leisten.

Denn die Bundesregierung reagierte zwar durch die Erklärung von Außenminister Kinkel am 17. März und von Bundeskanzler Kohl am 1. Juni. Bundespräsident Herzog sprach sich Anfang Mai bei einem privaten Besuch bei Vaclav Havel für eine Entschädigung der tschechischen NS-Opfer aus. Aber noch steht ein konkretes deutsches Angebot hierzu aus und die Bundesregierung will offensichtlich die Frage möglicher Sudetendeutscher Ansprüche noch offen halten - sehr zum Verdruß der Tschechen.

Diese zögerliche Haltung der deutschen Regierung muß in Tschechien auch auf dem Hintergrund der Annäherung an die EU Besorgnis auslösen. Das Beispiel Slowenien, dessen Assoziierung sich lang wegen italienischer Entschädigungsforderungen verzögerte, steht im Raum. Sudetendeutsche sehen auch im rechtlichen Fortbestand der Benes-Dekrete ein juristisches Hindernis für einen EU-Beitritt Tschechiens. Aber noch hat Prag keinen formellen Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt. In ihren bisherigen Äußerungen unterstrich die tschechische Regierung gern ihre Beitrittsreife im Vergleich zu anderen Reformstaaten und ihre kritische Haltung gegenüber der Brüsseler Bürokratie.


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