FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Wahllose Zustände in Weißrußland / Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Internationaler Dialog. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1995. - 8 Kb, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 49)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung


Am 14. und 28. Mai 1995 sollte Weißrußland (Belarus) zum ersten Mal sein Parlament frei wählen. Die letzten Wahlen davor hatten 1990 noch unter kommunistischer Herrschaft - wenn auch schon im Zeichen ihres Zerfalls - stattgefunden. Die meisten Abgeordneten waren daher Kommunisten, von denen allerdings viele 1991-92 aus der Partei austraten. 260 Mandate waren 1995 zu besetzen. Das Wahlrecht sah nur Direktwahl ohne Parteilisten, ein Quorum von 50% Wahlbeteiligung und zwei Wahlgänge vor. Im ersten Wahlgang mußte der erfolgreiche Kandidat die absolute Mehrheit erreichen, ansonsten kam es zur Stichwahl im zweiten Wahlgang.

Wahlordnung und wahlfeindliches Verhalten des Präsidenten erschwerten den Wahlkampf erheblich und demotivierten die Wähler. Westliche Wahlbeobachter kritisierten das Vorgehen. Trotzdem lag die Wahlbeteiligung im ersten Wahlgang bei 64,9% und ermöglichte somit gültige Abstimmungen in 234 der 260 Stimmbezirke. Aber nur 18 Kandidaten erzielten die notwendige absolute Mehrheit. Im zweiten Wahlgang sank die Beteiligung auf 56%, wodurch in 86 Wahlkreis das Quorum verfehlt wurde. Immerhin erhielten weitere 102 Kandidaten die nötige Mehrheit. Damit sind insgesamt 120 von 260 Abgeordneten gewählt. Da die Verfassung ein Minimum von 174 vorschreibt, ist das neue Parlament nicht beschlußfähig. Damit ist ein Konflikt mit dem Präsidenten angelegt. Weitere Wahlen im Herbst sind wahrscheinlich notwendig. Die Kommunalwahlen Anfang Juni scheiterten in den meisten Bezirken (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 47,6%).

Die Macht der Parteilosen

Im Sommer 1994 wählte Belarus mit 81% Mehrheit den parteilosen Alexander Lukaschenko, einen ehemaligen Sowchosenvorsitzenden, zum Präsidenten. Er repräsentiert damit in typischer Weise die politische Kultur Weißrußlands. 43% der Kandidaten der Wahlen waren parteilos und im jetzt gewählten Parlament sind es 59 der 120 Abgeordneten. Diese Parteilosen kommen aber praktisch alle aus den alten Machtstrukturen und verdanken ihre Wahl ihrem starken lokalen Einfluß.

Lukaschenko tritt für eine Abschwächung der Reformen und engere Beziehungen zu Rußland ein. Dem Präsidenten lag wenig an den Parlamentswahlen. Er selbst kündigte öffentlich an, nicht wählen zu wollen, unterband weitgehend die Nutzung der immer noch staatlich kontrollierten Massenmedien durch die Kandidaten und schränkte deren Finanzmittel für Wahlkampfzwecke massiv ein.

Statt dessen setzte er sich für das gleichzeitig auf seine Initiative stattfindende Referendum ein, das seine Politik der Gegenreform absichern sollte. Vier Fragen standen zur Abstimmung:

Russisch als zweite Staatssprache

Rückkehr zu den alten, sowjetischen Staatssymbolen (Fahne, Wappen etc.)

Engere wirtschaftliche Integration mit Rußland

Vollmacht für den Präsidenten, bei verletzung der Verfassung das Parlament aufzulösen.

Die Wähler stimmten mehrheitlich (um 80%) für die Vorschläge des Präsidenten.

Offene Kommunisten als zweitstärkste Kraft

Die ''Partei der Kommunisten Weißrußlands'' unter dem Vorsitz von Sergej Koljakin hatte im alten Parlament 52 Abgeordnete. Bei den Wahlen errang sie 27 Mandate. Sie tritt für die Wiederherstellung der Sowjetunion und engere Beziehungen zu Rußland ein. Sie lehnt das Privateigentum an Grund und Boden ab.

Bei den Wahlen hatten sich die Kommunisten mit der Agrarpartei verbündet, die ebenfalls eher reformfeindlich orientiert ist und die Nomenklatura auf dem Land repräsentiert. Die Agrarpartei erhielt 30 Mandate. Kommunistische und Agrarfraktion bilden die beiden stärksten Fraktionen im neu gewählten Parlament, wenn man von den Parteilosen absieht.

Abgeschlagen: Die Volksfront

Im Zuge der Perestroika gründete sich 1988 auch in der damaligen Sowjetrepublik Weißrußland eine demokratische Oppositionsbewegung, die ''Belarussische Volksfront''. Sie war die führende gesellschaftliche Reformkraft, die der in Weißrußland fortbestehenden Herrschaft der alten Elite entgegentrat. Die Volksfront befürwortete ein selbständiges Weißrußland sowie engere Beziehungen zum Westen und zu den übrigen Nachbarn (Polen, Litauen, Ukraine), um ein gleichgewichtiges Netz von Außenbeziehungen als Alternative zur einseitigen Abhängigkeit von Rußland aufzubauen. Auf dem Höhepunkt des Umbruchs nach dem Putsch in Moskau wählte das alte Parlament 1991 den Volksfrontpolitiker Stanislaw Schuschkewitsch zu seinem Präsidenten. 1994 setzte ihn die Mehrheit der Nomenklatura-Vertreter wieder ab - ein deutliches Zeichen der Abkehr vom Reformkurs.

1994 ging aus der Bewegung die Partei der Belarussischen Volksfront hervor. Ihr Vorsitzender ist Senon Poznjak. Sie hat angeblich 10.000 Mitglieder und verfügte im alten Parlament über 22 Abgeordnete. Bei den Wahlen im Mai 1995 errang sie kein Mandat.

Sozialdemokratie mit geringen Chancen

Die ''Belarussische Sozialdemokratische Gramada'' wurde 1991 gegründet und ging aus der Volksfront hervor, mit der sie seitdem eng zusammenarbeitet. Ihr Vorsitzender Oleg Trusow kann sich auf etwa 4000 Mitglieder stützen. Im alten Parlament verfügte die Gramada über 15 Abgeordnete. Für die Wahlen hatte sie sich mit der Volksfront verbündet. Es gelang ihr aber, einen Abgeordnetensitz zu erringen.

Ebenfalls sozialdemokratisch orientiert ist die 1992 gegründete ''Partei der Volkseintracht'', die ca. 4000 Mitglieder und angeblich 25 Abgeordnete im alten Parlament haben soll. Ihr Vorsitzender Genadij Karpenko ist sehr bekannt. Als langjähriger Bürgermeister der Großstadt Molodetschno hat er vorbildliche Reformarbeit bei der Umstrukturierung der lokalen Wirtschaft geleistet. Bei den jüngsten Wahlen erzielte die Partei drei Mandate.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998