FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Solidarnosc kehrt zurück / Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Industrieländer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1997. - 8 Bl. : graph. Darst. = 26 Kb, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 73)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1998

© Friedrich-Ebert-Stiftung

(Dieses Politikinfo stützt sich weitgehend auf ein Papier von Hans R. Blumenthal)

In den vierten freien Wahlen seit 1989 wählten die Polen am 21. September 1997 ihr Parlament zum ersten Mal nach Ablauf einer vollen Regierungsperiode. Auf einen eher moderaten, fast langweiligen Wahlkampf folgte ein Erdrutschsieg des "Post-Solidarnosc-Lagers” über die "linke”, "postkommunistische” Regierungskoalition aus sozialdemokratischem Bündnis der Linken (SLD) und Bauernpartei (PSL).
Das "politische Erdbeben” legte die durch das Wahlergebnis 1993 verschütteten, ursprünglichen politischen Kräfteverhältnisse Polens nach der Wende wieder frei. Eine Mehrheit fühlt sich besser durch die konservativ-liberal-gewerkschaftlichen Gruppen der "Post-Solidarnosc” vertreten. Dies war 1993 nicht anders, jedoch hatte sich damals die Solidarnosc-Bewegung in zu viele untereinander zerstrittene Gruppierungen gespalten. Obwohl diese Kräfte zusammen etwa 35 % der Stimmen erhielten, scheiterte jede einzelne an der 5- bzw. 8-%-Hürde des im Mai 1993 eingeführten Wahlrechtes und war daher nicht im Parlament vertreten. So gelang es damals dem Bündnis der Linken mit 20,4 % der Stimmen 171 Sitze (37%) und der Bauernpartei mit 15,4 % der Stimmen 132 Sitze (29%) zu erobern und damit eine satte Mehrheit der insgesamt 460 Parlamentarier zu stellen.

Die Wahlen von 1997 haben mit einer Beteiligung von nur 47,9% der Wähler die Parteienlandschaft klarer konturiert und zur Mitte geschoben. Tendenzen zu einem bipolaren Parteiensystem sind sichtbarer geworden: Dem Bündnis der Demokratischen Linken (SLD), mit der sie dominierenden Sozialdemokratie Polens (SdRP) mit 27% auf der Linken steht die Wahlaktion Solidarnosc um die sie organisatorisch tragende Gewerkschaft "Solidarnosc” mit über 33% gegenüber. Die zunehmend rechtsliberale Freiheitsunion (UW), die die meisten, auch im Westen bekannten früheren intellektuellen Oppositionellen der "Solidarnosc” wie Tadeusz Mazowiecki, Jacek Kuron, Bronislaw Geremek oder Hanna Suchocka in sich vereinigt, befindet sich, unter Führung des "Vaters der polnischen Wirtschaftsreformen”, Ex-Finanzminister Leszek Balcerowicz, mit 13,37 % in der Mitte.


Im Gegensatz zu 1993 spiegelt die Sitzverteilung das Stimmenverhältnis

In der entscheidenden ersten Kammer des Parlaments, dem Sejm, hat das Solidarnosc-Lager eine komfortable Mehrheit. Wahlsieger AWS verfügt über 201 der 460 Sitze. Der mögliche Koalitionspartner Freiheitsunion erzielte 60 Mandate, was eine Mehrheit von 30 Sitzen ermöglicht. Die ehemalige Regierungskoalition hat 164 Abgeordnete der SLD und 27 der Bauernpartei. Hinzu kommen noch 6 Deputierte der national-konservativen Bewegung für den Wiederaufbau Polens (ROP) und zwei Vertreter der deutschen Minderheit.
Auch in der zweiten Kammer, dem nicht allzu machtvollen 100-köpfigen Senat hat sich das Kräfteverhältnis grundsätzlich verändert. Im Jahre 1993 gewählten Senat hatte die Regierungskoalition die überwiegende Mehrheit (SLD: 37 Sitze, PSL: 34). Im neuen Senat verfügen dagegen AWS und UW über eine eindeutige Mehrheit (AWS: 51, UW: 8 - SLD: 28). Die Bauernpartei verfügte 1993 über 34 Sitze, im neuen Senat wird sie mit knapp zwei Sitzen vertreten sein, ROP mit fünf.

Zu den Verlierern zählen Parteien aller Lager

Größter Verlierer der Wahl war der kleinere Partner der bisherigen Regierungskoalitions die Bauernpartei (PSL) unter Führung von Ex-Premierminister Waldemar Pawlak. Mit 7,31 % erhielt sie kaum mehr als die Hälfte ihrer Stimmen von 1993 (15,4 %). Ihr Sitzanteil im Sejm fiel von 132 auf 27 Mandate. Erste Wählerstromanalysen deuten darauf hin, daß etwa 20 % ihrer Wähler zum SLD, ca. 30 % zur AWS gewandert sind. Als ehemalige "Blockflöten-Partei” versuchte sie sich, nach dem dürftigen Ergebnis ihres Vorsitzenden Pawlak bei den Präsidentschaftswahlen 1995 zunehmend als kirchennah, konservativ und national zu profilieren. Ihre Anstrengungen, Reformen als Koalitionspartner zu bremsen, ihre erratischen Absetzbewegungen vom Regierungspartner SLD vor den Wahlen, ihr Mangel an innovativen Vorstellungen zur Restrukturierung der Landwirtschaft, ihre ungehemmte Posten- und Pfründenjägerei, aber auch die unsicher - autoritär wirkende Person ihres Vorsitzenden Pawlak wurden von den Wählern abgestraft. Auf dem Lande scheint sie nach vorläufigen Daten nur noch 35 % (AWS: 32 %, SLD: 14 %) der Wähler binden zu können. Die Vorstellung Pawlaks, die Partei durch diesen Kurs als "Zünglein an der Wage” bzw. "Partner für jede Koalitionsgelegenheit” positionieren zu können, ist gründlich fehlgeschlagen. Zu den möglichen Szenarien nach dieser Wahlkatastrophe zählen: Eine Dominanz des Parteiflügels um Ex-Landwirtschaftsminister Roman Jagielinski, der für eine modernere Landwirtschaft eintritt; der Zerfall der Partei in zwei verbandsähnliche Lobby-Parteien; eine Koalition mit AWS und UW oder gar eine mit SLD und UW - im Falle des Scheiterns von AWS und UW.
Obwohl zum ersten Mal angetreten, gehört auch die Bewegung für den Wiederaufbau Polens (ROP) unter Ex-Premierminister Jan Olszewski mit 5,56 % der Stimmen und sechs Sejm-Sitzen zu den Verlierern der Wahl. Dies, da ihr Umfragen noch vor Jahresfrist bis zu 18% der Stimmen zuschrieben. Ihre fundamentalistischen, nationalistischen, mit fremdenfeindlichen Elementen durchsetzten, euroskeptischen Aussagen wie auch ihre Strategie, sich, trotz gleicher Herkunft, von der AWS abzusetzen, wurden von den Wählern nicht honoriert.
Enttäuschter Verlierer war die kleinere, sozialdemokratische Partei Unia Pracy (UP), die mit 4,74 % keinen Sitz im neuen Sejm erhalten wird. Enttäuscht auch, da sie sich durch die Verbindung mit Labour-nahen Beratern ein erheblich besseres Ergebnis erhoffte. Sie gab mindestens 2 %-Punkte an das größere sozialdemokratische SLD ab. Ihr Wahlkampf war vom Mitteleinsatz und Auftreten eher schwach und farblos. Zudem schien er falsch konstruiert zu sein. Ihre Wähler waren "linksliberaler”, als ihre, auf ein imaginäres, linkeres Milieu abzielenden Wahlaussagen. Sie sendete zu sehr auf der gleichen Frequenz wie SLD, allerdings erheblich schwächer. Ebenso wie ROP auf der Rechten scheint UP den richtigen Moment zum Arrangement mit dem größeren sozialdemokratischen Partner SLD verpaßt und die Tendenz des Stimmbürgers, stärkere Formationen zu wählen, unterschätzt zu haben.
Die beiden Rentnerparteien, denen vor den Wahlen bis zu 9 % der Bürger Sympathie bezeugten, blieben mit 2,18 und 1,63 % weit unter der 5-%-Hürde.
Die deutsche Minderheit erhielt in Oppeln zwei Mandate, verlor aber ihren Sitz im Senat.

Die Regierungspartei SLD: ein geschlagener Gewinner

Das Bündnis der Demokratischen Linken (SLD) kann sich nach der Wahl zugleich als Verlierer und Gewinner fühlen. Als parteiähnliches Bündnis legte es mit 27,13 % der Stimmen gegenüber 1993 (20,4 %) fast 7 % zu, als führender Regierungspartner wurde es abgewählt. Es verließ sich in seiner Kampagne zu sehr auf die im Präsidentenwahlkampf 1995 und im Referendum zur neuen Verfassung im Frühjahr des Jahres erprobte Strategie. Damals hatte es sich als Schutzmacht gegen eine Klerikalisierung des öffentlichen Lebens, Kommunistenhetze, Bewahrung polnischer Interessen in einem abzuschließenden Konkordat, Verteidigerin der Frauen durch ein liberales Abtreibungsgesetz und Garant einer weiteren Westintegration gegen AWS profilieren können. Diesmal schien sie nicht zu bemerken, daß AWS, die aus den Fehlern der Präsidentschafts- und Referendumskampagne gelernt hatte, einen ganz anderen Wahlkampf führte.
Insgesamt kann SLD eine positive Regierungsbilanz vorweisen. Trotz eines schwierigen Koalitionspartners sicherte sie zum ersten Mal nach der Wende eine stabile Regierung während einer vierjährigen Legislaturperiode. Wirtschaftswachstum bis 7%, Anstieg der Realeinkommen, Senkung der Inflationsrate und Arbeitslosenquote von 34% auf unter 14% bzw. 16% auf weniger als 12%, Reduktion des Haushaltsdefizits auf 2,4%, Aufnahme Polens in die OECD, Einladung zur NATO, Klärung von Minderheitenproblemen und Aussöhnungsprozesse mit seinen Nachbarn, vor allem Litauen und Ukraine, positiver EU-Avis waren beim Amtsantritt 1993 von "Postkommunisten” nicht erwartet worden.
Allerdings verlangsamte die Regierung notwendige Strukturreformen - auch aus sozialpolitischen Gründen - und ging (in weiser Voraussicht?) zu "machtbewußt” mit der Besetzung von Ämtern und Posten um.Viele Wahlbürger befürchteten, eine Fortsetzung der Koalition von SLD und PSL bedeute eine für Polen abträgliche Zunahme der Verfilzung von Wirtschaft, Administration und Politik.
Der Wahlkampf von SLD war seltsam lahm und plump, wohl auch machtarrogant. Die meist indirekt vorgetragene Kritik aus den eigenen Reihen am Vorsitzenden der SdRP, Ex-Premierminister Jozef Oleksy, brachte Unschärfen in das bisher geschlossene Bild des SLD. Das zunächst inkompetente Management der Flutkatastrophe und vor allem die unklugen Äußerungen Premierministers Cimoszewicz zu Beginn der Flut sorgten dafür, daß SLD nicht die erwarteten "30 und mehr %” erreichten. SLD verlor bei Bauern, Arbeitern, Jugend (Schüler und Studenten) und beim professionellen Mittelstand gegenüber AWS. Überproportional war sie bei Polizei, Armee, Rentnern und vor allem Unternehmern repräsentiert. Das Wählerspektrum von SLD hat sich dennoch verbreitert. Ebenso wie bei AWS sind in ihr alle Schichten und Gruppierungen Polens vertreten. In diesem Sinne ist ihr ein weiterer Schritt in Richtung "linker” Volkspartei gelungen.
Nun wird von ihr erwartet, sich zu häuten, von Lasten ihrer Vergangenheit zu befreien, um die neue Rolle einer starken und konstruktiven Opposition zu spielen. Der Rücktritt des Vorsitzenden Jozef Oleksy, der selbst von Präsident Kwasniewski schon indirekt gefordert wurde, wird von vielen als Symbol dafür gesehen.

Das liberale Zünglein an der Waage: die "Union der Freiheit"

Gegenüber den düsteren Prognosen noch vor einem Jahr ist der liberalen Union der Freiheit (UW) mit 13,37 % ein bedeutender Erfolg gelungen. Ein großer Sieg war es nicht, wenn man die Ergebnisse der in ihr aufgegangenen beiden Gruppierungen, der Demokratischen Union und des Liberal-Demokratischen Kongresses, die sich 1993 auf 15,5 % der Stimmen addierten, als Maßzahl nimmt. Als wirtschaftsliberaler, am deutlichsten für Westintegration, eine offene Gesellschaft und Beschleunigung der Strukturreformen plädierender, im Wählerbild intellektuellster Partei ist es ihr gelungen, Mitglieder- und Wählerabflüsse zum SLD und zur AWS zu stoppen.
Der Vorsitzende, Leszek Balcerowicz, der nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren gerne als Professor und "Nicht- Politiker” belächelt wurde, hat Parteistrukturen und -organisation verbessern und der Partei ein zupackenderes, dynamischeres Image vermitteln können. Balcerowicz selbst gelang ein persönlicher Triumph in seinem Wahlkreis Kattowitz, in dem er den Vorsitzenden der "Solidarnosc” Krzaklewski an Direktstimmen erheblich übertraf. Die klare Absage an eine, von den meisten ausländischen Diplomaten und Experten, polnischen Meinungsträgern und Unternehmern gewünschte Koalition mit dem SLD zahlte sich aus. UW wurde auch als reformorientiertes, liberales, weltoffenes Korrektiv in denkbaren Koalitionen mit AWS und SLD gewählt. UW kann im neuen Sejm die Rolle des "Spielmachers” zufallen, der im Notfalle, sollte AWS sich als nicht regierungsfähig erweisen, auch mit SLD (und PSL) koalieren könnte.

Das siegreiche Sammelsurium Solidarnosc

Mit 33,83% sind die vor etwas mehr als einem Jahr gegründete Wahlaktion Solidarnosc (AWS) und ihr Vorsitzender Marian Krzaklewski, zugleich Vorsitzender der Gewerkschaft "Solidarnosc”, der strahlende Sieger. Aber AWS umfaßt 35 recht unterschiedliche, von liberal-konservativ, christdemokratisch, national-katholisch bis radikalnational reichende Gruppierungen, deren mit Abstand stärkste die Gewerkschaft "Solidarnosc” ist.
Ihr Wahlkampf hat mit seinen ungewohnt moderaten Tönen, seiner Professionalität und der Disziplin ihrer Wortführer alle Beobachter überrascht. Daß sie 6%-7% mehr Wähler anziehen konnte, als ihr in Umfragen zugestanden wurden, ist auch der intelligenten, gegenüber früheren Kampagnen erheblich moderateren Haltung der katholischen Kirche zu verdanken. Zwar warb diese für AWS, diesmal aber eher in indirekter und zurückhaltender Weise. AWS gelang es auch, etwa 6% der Kwasniewski-Wähler des Präsidentschaftswahlkampfs von 1995, anzuziehen.
Zentrum ihres Wahlkampfs waren die Begriffe "Zawsze” (Immer), Polen, Freiheit und Familie. Mit "Immer” suchte sie sich von der, an seiner kommunistischen Vergangenheit tragenden SLD abzugrenzen. "Familie” sollte PSL-Wähler anziehen und mit "Freiheit” immunisierte man sich gegenüber der Union der Freiheit. AWS gelang es, ihren potentiellen Wählern ein "Wir-Gefühl” zu vermitteln, das gegen die "Anderen” mobilisierbar war. Die "Anderen” waren vor allem SLD, die Regierungspartei, die Eliten der Administration, die ihre Wahlversprechen nicht eingehalten, zu wenige Wohnungen gebaut, ein für Polen schädliches Handelsbilanzdefizit und die Zunahme von mehr armen Menschen in Polen zugelassen hätten. Mit Letzterem gelang es AWS, z.T. die sozialorientierte Wählerschaft des SLD zu demobilisieren und Verlierer der Wende, die 1993 für SLD gestimmt hatten, zur Wahlenthaltung zu bewegen.
Die von AWS bekannten, nationalistischen, wirtschaftsetatistischen, klerikalen und emotional-antikommunistischen Töne wurden im Wahlkampf vermieden, womit sie den Angriffen der SLD wenig Widerstandsfläche bot. Auch das Image geringer Regierungskompetenz, konnte AWS durch ihre Einigkeit, die Vorstellung eines 21-Punkte-Programms im August und die Präsentation von bekannten Figuren aus Wissenschaft und Kultur zumindest zum Teil korrigieren. Sicherlich wurde ihr Wahlerfolg auch durch die Flutkatastrophe und das folgende Absinken der Sympathiewerte von Premierminister Cimoszewicz um 10%-15% begünstigt.
AWS ist bei Arbeitern und Hausfrauen in der Wählerschaft über-, bei Führungskräften der Wirtschaft unterrepräsentiert. In anderen Gruppierungen und Schichten der Bevölkerung sind AWS und SLD ähnlich vertreten. Wichtige Bedingung für den Erfolg der Wahlaktion Solidarnosc war, daß sie im Unterschied zu der zerstrittenen Situation im Jahre 1993 eine feste, von der Gewerkschaft "Solidarnosc” getragene Organisationsbasis hatte, die den aus der Vergangenheit kommenden Organisationsmöglichkeiten von SLD und PSL Paroli bieten konnte.
AWS hat angekündigt, sich von einem Wahlbündnis zur Partei wandeln zu wollen. Wie dann die Trennung von Partei und Gewerkschaft aussehen soll, wird eine schwierige Lösungsaufgabe. Zunächst soll die Gewerkschaft einzelne Abgeordnete und die Fraktion kontrollieren. Ob dabei alle Gruppierungen der AWS mitspielen werden, ist zweifelhaft. Marian Krzaklewski hat angekündigt, Fraktionsführer (und später Präsident) werden zu wollen. Seine Vorstellungen vor der Wahl, eine Minderheitsregierung zu bilden, wie auch gewisse romantische Aussagen zum Privatisierungsprozeß und dem der Westintegration, hat Krzaklewski nach der Wahl nicht mehr wiederholt. Hier zeigt sich im 47 Jahre alten, promovierten Ingenieur für Regelungstechnik das realpolitische Gespür des Siegers.

Regierungskoalition aus AWS und UW: wahrscheinlich, aber nicht einfach

Nach der am 17. Oktober 1997 in Kraft tretenden neuen "großen Verfassung” muß der Präsident 14 Tage nach Beginn der neuen Legislaturperiode (20. Oktober), einen neuen Premierminister vorschlagen. Dieser hat dann 14 Tage, also bis zum 3. November, Zeit, seine Regierung vorzustellen. In den nächsten 14 Tagen muß der neue Premierminister vom Sejm bestätigt werden. Erhält der vom Präsident vorgeschlagene Premierminister keine Mehrheit im Parlament, kann der Sejm einen eigenen Kandidaten benennen und ist verpflichtet, innerhalb 14 Tagen seinerseits eine Regierung zu bilden.
Derzeit scheint eine Koalition aus AWS und UW wahrscheinlich. Für eine solche spricht die gemeinsame Herkunft aus der "Solidarnosc”-Bewegung. Ex-Präsident Walesa empfiehlt sie, er empfiehlt aber auch eine "Allparteienkoalition ohne SLD”, Präsident Kwasniewski scheint auf sie zu setzen. Programmatische und weltanschauliche Unterschiede, aber auch langjährige Animositäten ihrer wichtigsten Vertreter trennen die beiden potentiellen Koalitionäre. Selbst die beiden Führungsfiguren, der rationale Analytiker Balcerowicz und der gelegentlich romantisch wirkende, im katholischen Milieu verhaftete, dennoch autoritär-machtbewußte Marian Krzaklewski dürften allerlei Reibungen verursachen.
Gemeinsam könnten sie eine stärkere Dezentralisierung des Landes und die mit ihr verbundene Verwaltungsreform anpacken. Stärkere Kontrolle des Haushaltsdefizits und der öffentlichen Verschuldung, Reduktion des Handelsbilanzdefizits, Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitswesens, Beschleunigung des Wohnungsbaus, Beitritt zur NATO und anderes mehr haben beide Formationen auf ihre Fahnen geschrieben.
Große Unterschiede gibt es hinsichtlich ihrer Vorstellungen des Privatisierungsprozesses, wobei es jedoch manche Anzeichen für einen sanften Rückzug der AWS aus ihren bisher offensiv vorgestellten, unrealisierbaren Privatisierungsstrategien gibt. Die größte Hürde eines Zusammenkommens stellt derzeit die Verfassungsfrage und deren jeweiliger ideologischer Hintergrund dar. Während UW der Verfassung zugestimmt hat, hat AWS sie aufs heftigste als nicht dem christlichen Naturrecht entsprechend, bekämpft.
Eine Koalition, die neben UW und AWS auch die Bauernpartei PSL und die Bewegung für den Wiederaufbau Polens ROP umfassen würde, könnte mit 294 Mandaten und so mit mehr als drei Fünfteln der Stimmen des Vetorecht des "linken” Präsidenten Kwasniewskis überwinden. Dann wäre es auch möglich, in der Nationalversammlung, in der beide Kammern tagen, mit Dreiviertelmehrheit die Verfassung zu ändern.
Eine wichtige Rolle wird bei allen Koalitionsgesprächen die Figur eines möglichen Premierministers spielen. Zwar hat Präsident Kwasniewski schon indirekt Leszek Balcerowicz ins Spiel gebracht, dem auch vom unterlegenen SLD das Amt angeboten wurde, jedoch scheint diese Kandidatur für AWS und ihren Vorsitzenden kaum akzeptabel. Einen Premierminister Marian Krzaklewski hingegen würde die Union der Freiheit akzeptieren können. Der aber möchte eher Fraktionsvorsitzender und später Präsident werden. In der Presse wurden als mögliche Kandidaten der ehemalige Chef des Rechnungshofes, Lech Kaczynski, der langjährige enge Mitarbeiter von Lech Walesa und Chef seines Präsidialamtes, Prof. Andrzej Zakrzewski, kurzzeitig auch Hanna Gronkiewicz-Waltz, die Präsidentin der Polnischen Nationalbank, der frühere Präsident des Polnischen Fernsehens Wieslaw Walendziak, aber auch Marek Kempski und Janusz Tomaszewski als prominente Vertreter der Gewerkschaft "Solidarnosc” benannt.

"Reifezeugnis der Demokratie" oder brüchige Scheinstabilität ?

Adam Michnik kommentierte das Wahlergebnis damit, Polens Demokratie habe ihre Reifeprüfung bestanden. In der Tat deutet sich nun ein Zweiparteiensystem ähnlich dem deutschen an mit einer sozialdemokratisch-laizistischen Volkspartei auf der Linken, einer christlich-national-konservativen Volkspartei auf der Rechten und einer liberalen Partei in Mitte.
Leider ist diese Bild nur ein mögliches Szenario der künftigen Entwicklung, dessen Verwirklichung gewaltiger politischer Anstrengungen bedarf - vor allem innerhalb der beiden potentiellen Volksparteien. Denn gegenwärtig handelt es sich bei den beiden Exponenten um zwei Sammelsurien unterschiedlicher Kräfte, die weit davon entfernt sind, politische Parteien nach westlichem Verständnis zu sein.
In beiden Konglomeraten, SLD und AWS, gibt es erhebliche innere Interessen- und Wertekonflikte:

  • In der SLD stehen sich "rote Manager" und die Gewerkschafter der mitgliederstarken OPZZ gegenüber. Die führende Partei des Linksbündnisses, die "Sozialdemokratie der Republik Polen" (SdRP) steht unter heftiger Kritik. Adam Krzeminski bezeichnete sie als "Haus der toten Seelen". Die enge klientelistische Bindung des Bündnisses an das alte Establishment des kommunistischen Polen stellt weiter eine Belastung dar. Sie fördert einen Strukturkonservatismus, der sich schlecht mit den Notwendigkeiten eines modernen Polen verträgt, das der EU beitreten will.
  • In der AWS dominiert die Gewerkschaft Solidarnosc, deren Antikommunismus und Patriotismus nicht über den Mangel an klaren strategischen Vorstellungen hinwegtäuschen kann. Sie hat auch bisher keine Einbindung in internationale Parteienstrukturen gefunden, die ein wichtiges Korrektiv provinzieller Haltungen bilden könnte. Statt dessen hängt sie von starken Einzelgruppierungen wie z.B. "Radio Maria" ab, die teilweise sehr radikale und spezifische Positionen vertreten, die eine Zusammenarbeit mit anderen politischen Kräften erschweren. In der Parteibildung steht AWS noch mehr am Anfang als SLD, das sich wenigstens auf die SdRP stützen kann.
Diesen politischen Sammelsurien steht mit der Freiheitsunion ein Koalitionspartner gegenüber, dessen programmatische Schärfe alle Ungereimtheiten grell beleuchtet. Andererseits ist auch die Freiheitsunion in sich uneins. Ihr Reformwille und ihr klares Eintreten für die Westintegration decken sich weitgehend mit der Programmatik und Praxis der alten Regierung. Ihre historische Herkunft aus der Solidarnosc treibt sie zum Bündnis mit der AWS trotz programmatischer Differenzen. Balzerowicz wäre auch in einer SLD-UW-Koalition vorstellbar, die aber Widerstände seitens der Basis der UW provozieren würde.
Damit zeichnen sich bei allen drei Hauptakteuren der "reifen" polnischen Demokratie schon Bruchlinien ab, die zu kitten es der ganzen Kunst der jeweiligen politischen Führung bedarf.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998