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Tschechiens Sozialdemokraten tolerieren die Regierung Klaus / Friedrich-Ebert-Stiftung, Abteilung Industrieländer. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 3 Bl. : graph. Darst. = 10 Kb, Text . - (Politikinformation Osteuropa ; 64)
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Am 31. Mai und am 1. Juni 1996 wählte Tschechien zum ersten Mal als neues Land (nach der Teilung der Tschechoslowakei) sein Parlament. Von den 16 kandidierenden Parteien zogen sechs ins Parlament ein: die drei Parteien der konservativ-liberalen Regierungskoalition (ODS, ODA und KDU-CSL), die Sozialdemokraten (CSSD), die Kommunisten (KSCM) und die rechtsextremen Republikaner (SPR-RSC). Alle übrigen Parteien scheiterten an der 5%- bzw. 7%-Hürde.

Die Regierungskoalition verlor 13 der 1992 errungenen 112 Sitze und verpaßte mit den verbliebenen 99 Mandaten knapp die notwendige Mehrheit von 101 Sitzen im 200-köpfigen Parlament. Die Sozialdemokraten verdreifachten ihren Stimmenanteil und vergrößerten ihre Fraktion von 24 auf 61 Abgeordnete. Die Kommunisten verloren elf und die Republikaner gewannen dreizehn Sitze. Die folgende Tabelle vergleicht die Ergebnisse von 1992 und 1996:


Das Wahlergebnis gestaltete die Regierungsbildung schwierig. Mit den extremen Parteien der Kommunisten und Republikaner wollte keine andere Partei kooperieren. Einer großen Koalition zwischen Vaclav Klaus' Demokratischer Bürgerpartei (ODS) und Milos Zemans Sozialdemokraten standen persönliche und politische Differenzen entgegen. So blieb letztlich nur eine Fortsetzung der alten Koalition als von den Sozialdemokraten geduldete Minderheitsregierung.

Für ihre Nachsicht erhielten die Sozialdemokraten eine Reihe wichtiger Parlamentspositionen: der Vorsitzende Zeman wurde Parlamentspräsident, seine Stellvertreterin Buzkova Mitglied des Präsidiums, und weitere Fraktionsmitglieder übernahmen den Vorsitz in wichtigen Ausschüssen, darunter im Haushaltsausschuß.

Reizungen in der Regierungskoalition

Obwohl Klaus' Partei ODS kaum Stimmen im Vergleich zu 1992 eingebüßt hat, hat der Verlust der absoluten Mehrheit die Position des Premierministers innerhalb der Regierungskoalition geschwächt. Dabei ist die neue Minderheitsregierung mehr denn je auf den Zusammenhalt unter den Koalitionspartnern angewiesen. Klaus machte daher Zugeständnisse bei der Verteilung der Ministerposten. Beide Partner erhielten je vier Minister, die ODS acht.

Auch Klaus' Politik der "Marktwirtschaft ohne Adjektive" wird innerhalb der Regierung nicht mehr kritiklos akzeptiert. Nicht nur die immer schon etwas sozial eingestellten Christdemokraten (KDU-CSL) von Lux, sondern auch innerhalb der ODS kritisierte der stellvertretende Vorsitzende und Außenminister Zieleniec den Führungsstil und forderte einen maßvolleren Kurs nach Vorbild der deutschen CDU. Die KDU-CSL setzte sich außerdem mit ihrer alten Forderung nach der Rückgabe des verstaatlichten Kircheneigentums durch. Die Koalitionspartner erreichten auch die früher von Klaus immer abgelehnte Regionalreform. Die ebenfalls bisher verschleppten, in der Verfassung vorgesehenen Wahlen zur zweiten Kammer, dem Senat, finden nun am 15./16. November statt.

Der Senat hat Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung und wählt gemeinsam mit dem Abgeordnetenhaus den Präsidenten. Die Wahlen für diese zweite Kammer werden nach dem Mehrheitswahlrecht in zwei Wahlgängen und 81 Wahlbezirken durchgeführt, wobei im ersten Gang der Kandidat die absolute Mehrheit erreichen muß, um in den Senat einzuziehen. Der sonst notwendige zweite Gang entscheidet zwischen den beiden bestplazierten Kandidaten des ersten Gangs, also voraussichtlich oft zwischen den Vertretern von ODS und CSSD. Das Abschneiden der Koalitionsparteien und insbesondere der ODS wird sicher über den Fortbestand der Koalition entscheiden. Im Fall einer Niederlage kann man wohl von Neuwahlen vor Ende der Legislaturperiode ausgehen.

Die Sozialdemokraten bündeln die demokratische Opposition

Der Erfolg der Sozialdemokraten (CSSD) ist vor allem ein persönlicher Erfolg ihres Vorsitzenden Milos Zeman. Ihm gelang es, die vorher oft zerstrittene Partei zu einigen und zur wichtigsten Oppositionskraft zu machen. Dies war angesichts einer Regierungspolitik, die marktwirtschaftliche Rhetorik mit einer de facto vorsichtigen Reformpolitik verband, nicht einfach. Die CSSD hat dazu besonders die sozialen Sorgen der Tschechen und ihre egalitären Werte angesprochen. Mit dieser Strategie hat sie das Wählerpotential der Kommunisten teilweise abgeschöpft.

Die Wählerschaft der Partei umfaßt im wesentlichen dieselben Bevölkerungsgruppen wie die Wähler der anderen Oppositionsparteien. Regional ist sie in Mähren besonders stark, in Prag relativ schwach. In der Außenpolitik nahmen die Sozialdemokraten weitgehend Rücksicht auf die nationalen Gefühle ihrer Wähler. So vertraten sie in der Frage der deutsch-tschechischen Beziehungen eine eher unnachgiebige Position, die oft auf den alten tschechischen Ansprüchen und Sichtweisen beharrte.

Das tschechische Modell hat etwas von seinem Glanz eingebüßt

Tschechien sieht sich gerne selbst als ein Modell für erfolgreiche Transformation von kommunistischer Planwirtschaft zu demokratischer Marktwirtschaft. Das Ausland teilt oft diese Ansicht und hat das Land in den Europarat und die OECD aufgenommen. Die meisten Indikatoren bestätigen den Befund: Wachstum, Beschäftigung und Staatshaushalt zeigen sich in besserem Zustand als etwa in Deutschland. Die Inflation ist zwar noch relativ hoch (ca. 9%), sinkt aber. Das starke Handelsbilanzdefizit ist etwas bedenklicher, spiegelt aber das Vertrauen ausländischer Investoren wider.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, daß einige Anpassungskosten mehr aufgeschoben als aufgehoben wurden. Der niedrigen Arbeitslosigkeit entspricht ein geringer Anstieg der Arbeitsproduktivität. Dieser wird ermöglicht durch eine langsamere Liberalisierung der Kapitalmärkte, die die Unternehmen schont. Die Privatisierung hat die Anteile zunächst den Bürgern übereignet, die sie aber oft Investitionsfonds überließen, die ihrerseits von überwiegend staatlichen Banken kontrolliert werden. So kann die weitgehend alte Wirtschaftselite über ihre Netzwerke die Betriebe am Laufen halten. Die jüngste Bankenkrise enthüllt jedoch die Grenzen dieses bequemen Weges.

Der Wahlerfolg der Sozialdemokratie belegt auch, daß die Tschechen sich zunehmend Sorgen um ihre soziale Sicherheit machen. Zwar hat die Regierung Klaus auch hier weniger liberalisiert als ihre marktwirtschaftliche Rhetorik glauben macht. So besteht z.B. weiter eine Mietkontrolle. Aber vor allem die Pläne zur Rentenreform haben die Bevölkerung beunruhigt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998