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Europa und Nordafrika : mehr Paranoia als Partnerschaft
/ Michael Dauderstädt. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 20 S. = 82 Kb, Text
. - (Reihe Eurokolleg ; 36). - ISBN 3-86077-459-X
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997
© Friedrich-Ebert-Stiftung
Zusammenfassung
- Seit dem Ende des Kommunismus hat sich auch Nordafrika verändert,
allerdings eher durch zögerliche Reformen als durch revolutionäre
Umbrüche. Die EU versucht ihre Beziehungen neu zu definieren.
Aber übertriebene Ängste vor islamischen Fundamentalisten
prägen die politische Debatte stärker als eine nüchterne
Analyse europäischer Interessen und nordafrikanischer Entwicklungen.
- Seit ihrer Gründung pflegte die EU besondere Beziehungen
zu Nordafrika, teils in Fortsetzung der kolonialen Vergangenheit,
teils zur Sicherung wichtiger Ölinteressen. Trotz Ölkrise
und Jahrzehnten der Zusammenarbeit blieb es bei der Abhängigkeit
Nordafrikas, dessen gesamtes Nationaleinkommen heute etwa die
Hälfte des von Baden-Württemberg ausmacht. Entsprechend
ungleichgewichtig sind die Handelsbeziehungen und die Arbeitsmigration
entwickelt.
- Alle nordafrikanischen Länder haben inzwischen begonnen,
sich vom Modell staatlich gelenkter Entwicklung unter Führung
autoritärer Einheitsparteien zu distanzieren. Während
die wirtschaftliche Liberalisierung unter dem Druck abnehmender
Deviseneinnahmen voranschritt, kam die Demokratisierung nur langsam
voran und machte wegen der Unterdrückung der radikalen islamischen
Opposition eher wieder Rückschritte. Krise und Austeritätspolitik
trocknen die Rentenverteilung an die Klienten der regierenden
Eliten aus und untergraben deren Legitimität. Damit sinkt
die Bereitschaft zur weiteren politischen Öffnung. Dieser
Teufelskreis ist nur durch parallele Demokratisierung und Wirtschaftsreform
zu durchbrechen.
- Europa muß sich von der Fixierung auf das Fundamentalismusproblem
lösen. Es kann auch mit dem politischen Islam als Nachbar
und Wirtschaftspartner leben. Die Paranoia wegen der islamistischen
Gefahr verzögert die notwendigen politischen Reformen und
bindet Europa an die für die Krise in Nordafrika verantwortlichen
Staatsklassen. Ein Verständigungs- und Aussöhnungsprozeß
sollte versuchen, die antiwestlichen Vorurteile der Islamisten
abzubauen. Ebenso wichtig ist die Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen
Kräften zwischen regierenden Eliten und gewaltbereiten Islamisten.
- Die Antwort Brüssels setzt auf das traditionelle Politikbündel
von Freihandel, Finanzhilfe, Politikdialog und sektoraler Kooperation.
Freihandel bedeutet vor allem die Öffnung der nordafrikanischen
Märkte und somit zusätzliche Anpassungslasten. Die Finanzhilfen
erhöhen - soweit sie Kredite sind - die schon hohe Verschuldung
und helfen nur, wenn sie effizienter eingesetzt werden als nationale
Ersparnis. Politikdialog und Kooperation in einzelnen Beziehungsfeldern
finden schwerlich gemeinsame Interessen mit Eliten, die angesichts
der islamischen Opposition kaum kompromißbereit sind. An
den beiden Hauptsorgen Europas, dem Migrationsdruck und dem Fundamentalismus,
geht die neue Strategie weitgehend vorbei.
- Statt dessen muß sich die EU an die schwierige Aufgabe
machen, die Modernisierung klientelistischer Rentenstaaten von
außen zu unterstützen. Gezielte Mikropolitiken auf
lokaler Ebene und ein gesellschaftspolitischer Dialog mit allen
Kräften muß dabei die zwangsläufig auf die Zentralregierung
und Eliten ausgerichtete zwischenstaatliche Kooperation ergänzen.
- Europas Mischung aus Paranoia, symbolischer Politik und praktischer
Unbeweglichkeit hilft Nordafrika nicht. Mit Anpassungsbereitschaft
im eigenen Haus und gezielten Hilfen könnte die EU dazu beitragen,
daß die Reformen auf die Dauer zum Erfolg und damit auch
zur Linderung von Europas Sorgen führen. Aber die Grenzen
der europäischen Handlungsbereitschaft enthüllen den
niedrigen Stellenwert Nordafrikas für Europa.
- Die neuen Sorgen der EU: Nordafrika zwischen
Krise und Fundamentalismus
Fünf Jahre nach der Öffnung in Mittel- und Osteuropa
ist die Europäische Union (EU) zwar noch voll damit beschäftigt,
ihre Beziehungen zu dieser Nachbarregion zu strukturieren; aber
schon drängen vor allem die Mittelmeermitglieder Frankreich,
Spanien und Italien, die 1995/96 drei aufeinander folgende EU-Präsidentschaften
stellen, darauf, daß die EU sich intensiver um ihre südliche
Nachbarregion kümmert. Der spanische EU-Kommissar Marin fordert
für die Union ein ''Gleichgewicht in ihren Beziehungen
nach Osten und Süden''. Der Europäische Rat bestätigte
diese Politik auf seinem Gipfeltreffen im Dezember 1994 in Essen.
Die südliche Nachbarregion umfaßt dabei einen Raum
von Mittelmeeranrainern ohne EU-Mitgliedschaft, der vom Balkan
über die Türkei, den Mittleren Osten bis zum Maghreb
(Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko) reicht. Innere und äußere
Probleme innerhalb dieses Raums unterscheiden sich erheblich
und rechtfertigen eine getrennte Behandlung trotz mancher Gemeinsamkeiten:
- Der Balkan fällt eher unter die östliche
Nachbarregion der ehemals kommunistischen Länder, allerdings
mit dem Sonderproblem des ehemaligen Jugoslawiens. Vor allem der
Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina spiegelte mit seinen ethnisch-religiösen
Konfliktlinien Elemente der größeren Mittelmeerproblematik
wider.
- Die Beziehungen der EU zur Türkei sind geprägt
von den griechisch-türkischen Spannungen, dem Zypernkonflikt
und der Kurdenfrage. Menschenrechtsfragen haben den Abschluß
der Zollunion in Frage gestellt. Die große türkische
Ausländerbevölkerung und das Überschwappen der
türkisch-kurdischen Auseinandersetzungen in Deutschland erinnern
an die Konfliktstrukturen und ihre Übertragbarkeit, wie sie
auch für Algerien und Frankreich zu befürchten sind.
- Der Mittlere Osten ist vom israelisch-arabischen Konflikt
mit seiner eigenen Logik geprägt. Der Friedensprozeß
hat auch für die Außenbeziehungen der EU im Mittelmeerraum
neue Möglichkeiten eröffnet.
- Die Länder des Maghreb dagegen haben bei aller
Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Tradition enger, früher
kolonialer Beziehungen zu den EU-Mittelmeeranrainern und eine
Reihe gemeinsamer, wenn auch unterschiedlich ausgeprägter
Entwicklungstendenzen und Probleme: Demokratisierung, wirtschaftliche
Liberalisierung und Präsenz islamischer Oppositionsbewegungen.
Diese Gemeinsamkeiten unter den nordafrikanischen Staaten und
die Unterschiede zu den anderen drei Regionen rechtfertigen
eine gesonderte Behandlung der Teilregion, die aus Marokko, Tunesien,
Algerien und Libyen besteht, im Rahmen der gesamten EU-Mittelmeerpolitik.
Zusätzlich zählt zu den nordafrikanischen Mittelmeeranrainern
noch Ägypten, dessen Außenpolitik zwar stark durch
seine Rolle im israelisch-arabischen Friedensprozeß bestimmt
wird, dessen Binnenprobleme aber durch die gleiche Triade Demokratisierung,
wirtschaftliche Liberalisierung und Präsenz islamischer Oppositionsbewegungen
gekennzeichnet sind.
Warum gerade jetzt ein neues großes Mittelmeerprogramm der
EU ? Im Gegensatz zu Mittel- und Osteuropa hat es in diesem Raum
keine dramatischen Regimezusammenbrüche gegeben, die eine
Neustrukturierung der Beziehungen zwingend nahelegen. Die Befürworter
einer neuen Mittelmeerpolitik führen mehrere Gründe
an:
- Das Ende des Kommunismus hat auch die Entwicklungs- und
Verständigungsspielräume im Mittelmeerraum spürbar
geöffnet: Der Friedensprozeß im Nahen Osten ist
davon das deutlichste Zeichen. Aber auch für die nordafrikanischen
Länder gilt, daß alte Konzepte politischer Herrschaft
(Einparteiensysteme, militärisch gesicherte Präsidialdiktaturen
bzw. Monarchie) und wirtschaftlicher Steuerung (großer Staatssektor,
interventionistische Wirtschaftspolitik), die denen der sozialistischen
Systeme ähnelten, langsam reformiert werden. Diesen Reformprozeß
gelte es zu unterstützen.
- Starkes Bevölkerungswachstum in Nordafrika ohne entsprechendes
Wirtschaftswachstum und politische Krisen könnten den Migrationsdruck
erhöhen, der sich zunächst auf die klassischen europäischen
Aufnahmeländer mit schon hohem nordafrikanischen Ausländeranteil
(vor allem Frankreich) richten würde.
- Neben der Migration gibt es weitere Gebiete gegenseitiger
Abhängigkeit wie Umweltschutz, Energieversorgung, Handel,
Investitionen und Drogenpolitik.
- Die neue Welthandelsordnung nach der Uruguay-Runde verbietet
die bisherigen einseitigen Handelspräferenzen der EU für
Nordafrika und erfordert eine handelspolitische Anpassung.
Das in der westlichen Öffentlichkeit vorherrschende Motiv
für eine neue Mittelmeerpolitik ist aber die sogenannte ''fundamentalistische
Bedrohung''. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es eine
mehr oder weniger bewußte Suche nach einem neuen Feindbild
für ''den Westen''. Der damalige Nato-Generalsekretär
Claes identifizierte im Februar 1995 den Islam als Gegner. Die
dahinter liegenden Interessen sind vielfältig: Militärs
und Rüstungsindustrie suchen neue Bedrohungen zur Rechtfertigung
ihrer Budgets; Außenpolitiker fürchten die wachsenden
Divergenzen im westlichen Lager nach dem Ende des Belagerungszustandes.
Die EU hat sich davon nur wenig anstecken lassen, nennt aber ''die
Zunahme des religiösen Fundamentalismus und Integralismus''
als Stabilitätsrisiko (Erklärung des Europäischen
Rates in Lissabon 1992) oder ''fundamentalistischen Extremismus''
in einem Atemzug mit Massenauswanderung, Terrorismus, Drogensucht
und organisiertem Verbrechen als für die Union schädliche
Folgen der krisenhaften Situation in den nordafrikanischen Ländern
(die EU-Kommission in ihrem Mittelmeerpapier 1994).
Die EU-Mittelmeeranrainer dürften aber noch ein weiteres
Motiv für ihr verstärktes Mittelmeerengagement haben:
Die Konzentration der EU auf Mittel- und Osteuropa sowie die EFTA-Erweiterung
haben das geographische und strategische Zentrum der Union nach
Nordosten verschoben. Die Entwicklung, Assoziation und Integration
der ehemals kommunistischen Reformstaaten nutzen in erster Linie
Deutschland und Österreich als deren Hauptwirtschaftspartnern.
Eine stabile und dynamische Nachbarregion in Nordafrika und deren
engere Anbindung an die EU würden dagegen zunächst den
südwestlichen EU-Mitgliedern zugute kommen.
- Auch nach Dekolonialisierung und Ölkrise
bleibt die dauerhafte Abhängigkeit
Die mediterranen EU-Mitglieder, vor allem Frankreich, haben bisher
die Struktur der Beziehungen der EU zu Nordafrika bestimmt. Bei
Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 zur EWG-Gründung
war Algerien noch Teil des französischen Staates, Marokko
und Tunesien hatten gerade erst 1956 ihre Unabhängigkeit
erhalten. Libyen und Ägypten waren zwar formal schon länger
unabhängig (seit 1922 bzw. 1949), aber die letzten englischen
Truppen verließen Ägypten erst 1954. Entsprechend diesen
politisch und wirtschaftlich engen Beziehungen waren entweder
bei Gründung der EG schon Regelungen vorgesehen (z.B. für
Algerien und Libyen) oder sie folgten in Form von Teilassoziationsabkommen
für Marokko und Tunesien 1969 bzw. eines präferentiellen
Handelsabkommens mit Ägypten 1972.
In den 70er Jahren restrukturierte die EU ihre Südbeziehungen
- vor allem unter dem Eindruck der Ölkrise, die die
Abhängigkeitsverhältnisse im Nord-Süd-Konflikt
zeitweilig umzukehren schien. Die Lomé-Konvention, der
Euro-Arabische Dialog und die Mittelmeerpolitik waren Produkte
dieser neuen Sichtweise. Ab 1972 entwickelte die EU ein ''globales
Mittelmeerkonzept'', das für die meisten Anrainerstaaten
Vertragsbeziehungen umfaßte, die unbeschränkte Gültigkeitsdauer
hatten, freien Zugang zum EG-Markt (außer im Kohle- und
Stahl-, Agrar- sowie im Textilbereich) und finanzielle
und technische Zusammenarbeit (Finanzprotokolle) vorsahen. Im
Zuge dieser Politik schloß die Gemeinschaft 1976 entsprechende
Kooperationsabkommen mit den Maghrebstaaten (außer Libyen)
und 1977 mit den Maschrek-Ländern (Ägypten, Jordanien,
Syrien, Libanon). Die nordafrikanischen Länder erhielten
von 1978 bis 1996 im Rahmen von vier Finanzprotokollen fast 1,7
Mrd. ECU an Haushaltsmitteln und über 1,9 Mrd. ECU an Krediten
der Europäische Investitionsbank (EIB).
Neben diesen offiziellen Kapitalströmen investieren auch
private Firmen aus der EU direkt in Nordafrika, allerdings in
relativ geringem Umfang. Ausländische Direktinvestitionen
spielen in Ägypten, Tunesien und Marokko eine größere
Rolle. Während die EU in Ägypten deutlich hinter arabischen
Investoren liegt, ist sie in den beiden anderen Ländern der
größte Auslandsinvestor.
Während das Kapital von Nord nach Süd floß, strömten
die Arbeitskräfte in die andere Richtung. Vor allem Marokkaner
und Algerier leben und arbeiten in Ländern der EU.
Das mit Abstand wichtigste europäische Aufnahmeland ist Frankreich
mit etwa 1,4 Millionen Nordafrikanern, davon 44% Algerier, 41%
Marokkaner und 15% Tunesier. In den übrigen Ländern
stellen die Marokkaner die größte nordafrikanische
Einwanderergruppe.
Ausländerbevölkerung in ausgewählten EU-Mitgliedsstaaten
1993
Land |
Gesamte Ausländerbevölkerung in Tausend |
Nordafrikaner in Tausend |
Anteil in % |
Belgien |
920,6 |
161,6 |
17,6 |
Deutschland |
6878,1 |
131,8 |
1,6 |
Frankreich |
3596,6 |
1393,2 |
38,3 |
Italien |
987,4 |
146,6 |
14,9 |
Niederlande |
779,8 |
167,0 |
21,4 |
Spanien |
430,4 |
61,3 |
14,2 |
Quelle: OECD
Zur gesamten legalen Ausländerbevölkerung nordafrikanischen
Ursprungs in der EU (ca. 2,1 Millionen) ist allerdings eine nicht
unbeträchtliche Zahl illegaler Einwanderer (geschätzt
auf 0,5 Millionen) sowie etwa zwei Millionen vor allem in Frankreich
eingebürgerte Nordafrikaner zu addieren. Damit erreicht die
Zahl der in der EU lebenden Personen nordafrikanische Ursprungs
etwa 4,6 Millionen, also 1,5% der Bevölkerung der EU.
Das Bruttosozialprodukt Nordafrikas ist knapp halb so groß
wie das Baden-Württembergs. Entsprechend ungleichgewichtig
sind seine Handelsbeziehungen mit der EU. Die EU ist für
alle nordafrikanischen Länder der wichtigste Handelspartner,
der über die Hälfte der Importe liefert und der Exporte
abnimmt. Allerdings sind die Exporte in die EU meist auf wenige
Produkte konzentriert: Öl und Gas im Falle Libyens und Algeriens,
Nahrungsmittel, Baumwolle, Textilien und Bekleidung aus Marokko,
Tunesien und Ägypten. Unter den EU-Mitgliedern sind Frankreich,
Spanien und Italien die wichtigsten Handelspartner Nordafrikas.
Umgekehrt ist Nordafrika für die EU ein relativ unbedeutender
Handelspartner mit einem Anteil von unter 3% an den europäischen
Ein- und Ausfuhren.
Die Mittelmeerländer hatten dabei - trotz asymmetrischer
Marktöffnung - immer mit starkem EU-Protektionismus
zu kämpfen. Den freien Zugang für Industrieprodukte
gewährte die EU, ohne daß ein wettbewerbsfähiges
Exportangebot existierte oder auch deswegen. Eine Ausnahme bildete
der Textil- und Bekleidungssektor, dessen Importe die EU mittels
Welttextil- und Selbstbeschränkungsabkommen regulierte. Die
Regelung erlaubte aber ein kräftiges Wachstum der Textilexporte.
Die Gemeinsame Agrarpolitik beschränkte die Importe von Agrarprodukten.
Sowohl im Agrar- als auch im Fertigwarenhandel blieben aber Importmöglichkeiten
(Quoten, Kontingente) unausgeschöpft, was eine strukturelle
Angebotsschwäche der nordafrikanischen Ökonomien signalisiert.
Die Süderweiterung der EG um Griechenland, Spanien
und Portugal erhöhte zwar das Handelsvolumen, aber gleichzeitig
auch die Wettbewerbsintensität zwischen EU-Anbietern und
Mittelmeerländern, vor allem im Bereich der mediterranen
Agrarprodukte (Tomaten, Orangen, Oliven, Wein etc.) sowie bei
einfachen, lohnintensiven Fertigprodukten. Weitere handelspolitische
Zugeständnisse gestalteten sich unter diesen Bedingungen
sehr schwierig.
Seit 1990 unternahm die EU mehrere Versuche, ihre Mittelmeerpolitik
neu zu gestalten, wobei sie sich schrittweise vom alten bilateralen
Konzept entfernte:
- In Vorbereitung der Vierten Finanzprotokolle legte die Kommission
am 1.6.1990 ein Konzept für eine ''Erneuerte Mittelmeerpolitik''
vor, zu der der Rat 1992 entsprechende Durchführungsbestimmungen
erließ. Ohne vom bisherigen Ansatz bilateraler Vereinbarungen
abzuweichen, unterstreicht die neue Politik die Bedeutung der
regionalen Kooperation und der sicherheitsrelevanten Nachbarschaft.
- Am 30.4.1992 stellte die Kommission ein neues Konzept der
Beziehungen zwischen der EU und dem Maghreb vor, das die regionale
und partnerschaftliche Dimension noch stärker betont und
eine EU-Maghreb-Freihandelszone ins Auge faßt.
- Im September 1993 band die Kommission die Nahostpolitik in
dieses Konzept mit ein und schlug eine regionale Kooperation
und Freihandelszone nach dem Vorbild des europäischen
Integrationsprozesses vor.
- Dieser konzeptionelle Entwicklung erreichte ihren vorläufigen
Abschluß mit der Mitteilung der Kommission vom Oktober 1994
mit dem Vorschlag einer ''Euromediterranen Zone des Friedens
und der Stabilität''.
- Die euromediterrane Außenministerkonferenz in Barcelona
im November 1995 verabschiedete eine gemeinsame Erklärung
der 27 Partner aus EU und dem arabischen Raum, mit der die neue
Partnerschaft ins Leben gerufen werden soll. Sie sieht insbesondere
vor, bis zum Jahr 2010 eine Freihandelszone für Industriegüter
einzurichten, bis 1999 Hilfegelder in Höhe von 4,7 Mrd. ECU
nach Süden fließen zu lassen sowie den politischen
Dialog und die sektorale Kooperation zu verstärken.
Diese Veränderungen der EU-Mittelmeerpolitik standen
im Zeichen des weltpolitischen Umbruchs seit 1989, des beginnenden
Friedensprozesses im Nahen Osten, der Liberalisierungstendenzen
in Nordafrika und des Erstarkens des islamischen Fundamentalismus.
Diese miteinander verschränkten Entwicklungen haben die Herausforderungen
für die EU in Nordafrika grundlegend verändert.
- Begrenzte Reformen von oben in Nordafrika
Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems konnte an Nordafrika
nicht spurlos vorübergehen. Der Sozialismus war
in vielen arabischen Ländern, darunter auch in Ägypten,
Libyen und Algerien eine staatstragende Ideologie gewesen. In
ihr verbanden sich antikolonialistische und antiimperialistische
Elemente aus der Phase der Unabhängigkeitsbewegung mit einer
am sowjetischen Modell orientierten Vorstellung nachholender Industrialisierung
(staatliche Wirtschaftspläne, Großprojekte im Schwerindustrie-
und Energiesektor), engen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen
(u.a. Rüstungsimporte) Beziehungen zum Ostblock und einem
autoritären System der Einparteienherrschaft. Die konkrete
Ausprägung und die Mischung dieser Elemente folgte spezifischen
nationalen Bedingungen.
Da diese Systeme nicht von außen aufgezwungen waren, brachen
sie auch nicht fast gleichzeitig zusammen - wie in Mitteleuropa,
als die Sowjetunion den Regimen ihre Unterstützung entzog.
Der Wandel erfolgte nicht als plötzlicher Umbruch, sondern
ergab sich aufgrund jeweils spezifischer Konstellationen, in denen
außenpolitische Reorientierung, Wirtschaftsreform und
Demokratisierung ungleichzeitig voranschritten:
- Ägypten löste sich endgültig vom sowjetischen
Einfluß, als die außenpolitische Zusammenarbeit mit
den USA eine weitgehende Lösung seiner Probleme mit Israel
(Wiedereröffnung des Suezkanal, Rückgabe des Sinai)
ermöglichte. Aber die wirtschaftliche Öffnung (Infitah)
begann schon mit der Machtübernahme Sadats nach dem Tod Nassers
1970. Außenwirtschaftlich lösten der Westen und Israel
den Ostblock als Haupthandelspartner ab. Zur Schwächung der
Sozialisten förderte Sadat die islamischen Oppositionskräfte,
vor allem die Muslim-Bruderschaften. Ansonsten blieb aber die
Demokratisierung beschränkt und unter Mubarak setzte in den
80er Jahren eine verstärkte Repression der islamischen Opposition
ein. Mit der Verschärfung der Zahlungsbilanz- und Verschuldungsprobleme
versuchte Ägypten seit den 80er Jahren ohne großen
Erfolg, Anpassungsprogramme mit dem Internationalen Währungsfonds
(IWF) und der Weltbank durchzuführen.
- Libyen bezeichnet sich noch immer als sozialistisches
Land. Seit dem Umsturz von 1969 regiert Qaddafi das Land mit einem
eigenwilligen System einer arabisch-sozialistischen ''Volksherrschaft''.
Dank der hohen Erdöleinnahmen und der geringen Gesamtbevölkerung
geriet es bisher unter relativ geringeren, aber allmählich
zunehmenden Reformdruck. Immerhin räumt seit 1987 die leichte
ökonomische Liberalisierung dem Privatsektor größere
Möglichkeiten ein. Außen- und sicherheitspolitisch
bleibt Libyen gegen seinen Willen vom Westen isoliert und damit
auf Rußland angewiesen. Qaddafi hat sich aber in den 90er
Jahren immer wieder entschieden, ja aggressiv gegen den radikalen
Islam ausgesprochen.
- Tunesien wies nur in den sechziger Jahren sozialistische
Tendenzen auf, die sich vor allem in der Etablierung eines staatlichen
Planwirtschaftssystems unter dem Gewerkschaftsführer Ben
Salah äußerten. Die Einparteienherrschaft und das Präsidialsystem
von Bourgibas Destour-Partei waren eher nationalistisch, modernisierend
und antikommunistisch. Schon ab den 70er Jahren öffnete sich
Tunesien wirtschaftlich und verfolgte seitdem eine exportorientierte
Strategie, die ab 1987 in Verbindung mit einem IWF-Strukturanpassungsprogramm
betont auf die Privatwirtschaft setzt. Die Demokratisierung erfolgte
in kleinen Schritten nach dem Sturz Bourgibas 1987. Islamistische
Kräfte, die Bourgiba brutal unterdrückt hatte, erhielten
mehr Spielraum, ohne allzu großen Einfluß zu gewinnen
(15% der Stimmen bei den relativ freien Wahlen von 1989). Selbst
diese bescheidenen Erfolge veranlaßten die Regierung, die
seit 1989 gewährten Freiräume wieder einzuschränken.
- Algerien sah sich nach seiner Unabhängigkeit als
islamische und sozialistische, demokratische Volksrepublik, in
der die Front de Libération Nationale (FLN) die Rolle der
KP in den kommunistischen Ländern übernahm. Allerdings
übte gleichzeitig das Militär starken Einfluß
aus, vor allem seit dem Sturz Ben Bellas durch Boumedienne 1965.
Außenpolitisch verstärkte sich die Annäherung
an den Ostblock in den 60er Jahren bei gleichzeitiger Verstaatlichung
der Erdölgesellschaften und Übergang zu einem Programm
der importsubstituierenden Planwirtschaft. Parallel betrieb Algerien
eine aktive Politik der Arabisierung, die - z.T. unbeabsichtigt
durch Import islamistisch orientierter Arabischlehrer aus Ägypten
- eine Islamisierung bewirkte und den Keim der späteren islamistischen
Opposition legte. Mit dem Rückgang der Öleinnahmen ab
1985 kam das Entwicklungsmodell zunehmend unter Druck. Seit der
bescheidenen politischen Öffnung ab 1988 sank der Einfluß
der FLN auf die Regierung und die Islamisten (Front Islamiste
du Salut - FIS) erwiesen sich in den Wahlen 1990/91 als erfolgreichste
Kraft. Der Abbruch der Wahlen und der Versuch der militärischen
Unterdrückung der FIS seit 1992 führten zum immer noch
anhaltenden blutigen Bürgerkrieg. Die relativ hohe Wahlbeteiligung
bei den Präsidentschaftswahlen Ende 1995, die die Opposition
boykottierte, zeugt vom Friedenswunsch großer Bevölkerungsteile.
- Marokko nimmt als seit langem prowestliche, konstitutionelle
Monarchie in Nordafrika eine politische Ausnahmestellung ein.
Aber Demokratisierung und Liberalisierung stehen auch hier auf
der Tagesordnung. Marokko hatte ebenfalls lange ein etatistisches
Planwirtschaftskonzept verfolgt, das in den 80er Jahren mit hohen
Zahlungsbilanzdefiziten und Verschuldung in die Krise geriet und
damit den IWF und seine Strukturanpassungsprogramme auf den Plan
rief. Die Demokratisierung entwickelt sich in kleinen Schritten
bei weiter bestehender Dominanz des Königs, dessen islamische
Legitimation (''Beschützer der Gäubigen'') und nationalistische
Saharapolitik den Einfluß der Islamisten in Marokko bisher
sehr gering gehalten hat.
Die differenzierte Parallelität der Reformen fand 1989 ihren
außenpolitischen Ausdruck in der Gründung der regionalen
Organisation Union du Maghreb Arabe (UMA), der allerdings
nicht Ägypten, aber zusätzlich Mauretanien angehört.
Die geplante Kooperation geht weit über den Handelsbereich
hinaus und umfaßt die Außenpolitik, die meisten Wirtschaftszweige
sowie Kultur, Bildung und Wissenschaft. Real hat sie aber bisher
kaum Bedeutung erlangt. Der regionale Handel ist gering. Die am
stärksten regional orientierten Länder, Marokko und
Tunesien, exportieren unter 10 % ihrer gesamten Ausfuhren in die
Region. Regionale Investitionen spielen ebenfalls kaum eine Rolle.
Nur in Libyen arbeiten eine größere Anzahl Gastarbeiter
aus Ägypten und Tunesien.
Der Vergleich mit Mittel- und Osteuropa (MOE) zeigt die höhere
Differenzierung und Komplexität der Reformprozesse in Nordafrika:
- In MOE hatte die siegreiche demokratische Opposition
ein in sich weitgehend stimmiges Dreifachkonzept von Demokratie,
Marktwirtschaft und Westintegration zur Ablösung von Parteidiktatur,
Planwirtschaft und sowjetischer Vorherrschaft. Der Westen hatte
ein außenpolitisches und wirtschaftliches Interesse an der
Förderung aller drei Komponenten.
- In Nordafrika gibt es keine siegreiche demokratische
Opposition. Die oppositionellen Demokraten sind relativ schwach.
Die stärkste Opposition zur bestehenden Herrschaft ist
islamistisch. Die Ideologie und die Konzepte des politischen
Islam liegen quer zu den traditionellen westlichen, liberalen
Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft, was aber nicht
bedeutet, daß sie damit unverträglich wären. Nicht
zuletzt aufgrund der geschichtlichen Konfrontation, wegen der
Unterstützung Israels durch westliche Mächte und westlichen
Feindschaftsbekundungen ist der politische Islam außenpolitisch
eher anti-westlich - vor allem nach dem Ende ihres gemeinsamen
Gegners, des Kommunismus.
Die Regierungen sind - außer in Libyen - eher prowestlich,
und selbst Qaddafi ist zumindest antifundamentalistisch. Gleichzeitig
sind sie - bzw. die mit ihnen verbundenen Eliten -aber
für die wirtschaftliche und soziale Krise und die undemokratischen
Verhältnisse in ihren Ländern hauptverantwortlich und
deren Nutznießer. Es ist fraglich, ob die notwendigen grundlegenden
Reformen mit der Zustimmung dieser Eliten gegen ihre - zumindest
kurzfristigen - Interessen durchgeführt werden können.
Der Westen und insbesondere die EU stehen dann vor folgendem Dilemma:
entweder sie versuchen, die alten Regime und damit den Krisendruck
zu erhalten, oder sie fördern deren Machtablösung mit
der ungewissen Aussicht auf Reformen.
Bis jetzt haben die Eliten Liberalisierung und Demokratisierung
nach dem Motto ''Soviel wie nötig, so wenig wie möglich''
betrieben. Nur unter starkem Druck der Gläubiger haben
sie Schritte zur Stabilisierung und Öffnung ihrer Wirtschaften
bzw. in Richtung auf freie Wahlen und Respektierung der Menschenrechte
unternommen, um weitere Kredite zu erhalten oder den Marktzugang
nicht zu verlieren. In Tunesien und Marokko haben sie in einigen
Fällen erkannt, daß die notwendigen Reformen in ihrem
eigenen langfristigen Interesse liegen, allerdings kurzfristig
schwer fallen.
Liberalisierung und Demokratisierung sind dabei in enger und widersprüchlicher
Weise miteinander verknüpft:
- Die nordafrikanischen Regime sind kaum reformierte klientelistische
Rentenstaaten, die Einkommen aus Öl (Libyen, Algerien,
in geringerem Umfang auch Ägypten und Tunesien), Suezkanalgebühren,
westlicher Hilfe (Ägypten), Tourismus und Gastarbeiterüberweisungen
verteilten, in dem sie Jobs im Staatssektor schufen und Lebensmittel
subventionierten. Mit dieser Politik haben die Eliten einen großen
Teil der städtischen Bevölkerung an sich und an das
Wirtschaftsmodell gebunden. Zwang ein Rückgang der Staatseinnahmen
zu Einschränkung dieser Politik, so konnte es zu Massenprotesten
kommen, wie sie als typische ''IWF-Unruhen'' Mitte der 80er Jahre
in einigen nordafrikanischen Ländern nach Erhöhung der
Brotpreise auftraten.
- Nur in dem Maße, wie Reichtum und Einkommen durch eigene
Arbeit und Unternehmenstätigkeit erworben werden, was sich
u.a. in einer Diversifizierung der Exporte (vor allem in Tunesien
und Marokko, die zunehmend verarbeitete Produkte ausführen)
ausdrückt, kann sich die politische Ökonomie dieser
Länder ändern. Denn mit dem Einkommen entsteht potentiell
eine Steuerbasis, deren Steuerzahler ein politisches Interesse
an sparsamer und verantwortungsvoller Haushaltsführung und
demokratischer Kontrolle der Regierung haben. Oft genug sind die
''neuen'' Unternehmer aber Teil der alten Eliten, die ihre Machtbeziehungen
gebrauchen, um einer Besteuerung zu entgehen. Diese ''neuen''
Eliten nutzen häufig die durch die Liberalisierung eröffneten
Spielräume zur rascheren Bereicherung ohne Rücksicht
auf die im alten klientelistischen System eingebauten Fürsorgeverpflichtungen.
- Reformen in Nordafrika bedeuten daher, daß ''weniger
Staat'' nur durch einen unabhängigeren Staat möglich
wäre, der sich aus der Vereinnahmung durch die alten Eliten
lösen kann und relativ unabhängig Regeln für die
(private) Wirtschaft setzt, die die Marktteilnehmer weg von einer
Logik des ''rent-seeking'' zu einer Logik marktorientierter Leistungserstellung
zwingen.
Eine konsequente Demokratisierung, praktisch eine Revolution
wie in Mittel- und Osteuropa, in der die harten wirtschaftlichen
Reformen mit ihren sozialen Kosten dadurch akzeptabel werden,
daß sie mit politischer Freiheit und Partizipationsmöglichkeiten
kompensiert werden, könnte einen Ausweg aus diesem Dilemma
bieten. Aber schon die Entwicklung in MOE zeigt, wie schnell sich
ökonomische Frustrationen in politische Wendungen umsetzen.
In Nordafrika kommt erschwerend hinzu, daß der einzige derzeit
sichtbare Träger einer solchen Revolution der politische
Islam ist, dessen spezifisches Programm auch in Nordafrika weniger
konsensfähig sein dürfte als es die liberale Programmatik
der Oppositionsbewegungen in MOE war.
- Paranoia: Die voreilige Gegnerschaft zum
politischen Islam verhindert eine sachorientierte Nordafrikapolitik
Nicht nur unter den Regierungen, auch in weiten Kreisen der Bevölkerung
findet der politische Islam in Nordafrika keine Unterstützung.
Und es gibt keine Garantie, daß er - einmal an der Macht
- seinen Gegnern die demokratische Möglichkeit ließe,
ihn wieder abzuwählen. Der undifferenzierte Terrorismus extremer
Islamisten gegen Unschuldige, die nicht Vertreter der regierenden
Eliten sind, läßt wenig Respekt vor Menschenrechten
erwarten. Aber dies gilt nicht für große, gemäßigte
Teile des politischen Islam.
Europa als Wertegemeinschaft zöge es sicher vor, wenn seine
südlichen Nachbarn die gleichen Werte (Demokratie, Menschenrechte,
etc.) teilen würden. Aber es wäre ungewöhnlich
und nicht ungefährlich, dies zur Bedingung für friedlich-nachbarschaftliche
Beziehungen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Handel zu erheben.
Sieht man also von dieser Gesinnungsethik ab, so gibt es wenig
Gründe, warum Europa Partei gegen die islamische Opposition
und für eine korrupte Elite ergreifen sollte.
Der Westen (einschließlich Europa) hatte während des
Kalten Krieges immer wieder gute Beziehungen zum politischen
Islam, wenn es ihn als einen Verbündeten gegen den Kommunismus
und den arabischen Sozialismus nutzen konnte. Staaten, die im
Inneren ein rigides islamisches Regime anwenden, wie z.B. Saudi-Arabien,
zählten und zählen zu den Partnern des Westens. In Ägypten
hatte der Westen nichts gegen mehr Freiräume für die
Muslimbrüder einzuwenden, um die sozialistisch orientierten
Gruppierungen zu schwächen.
Die politischen Prioritäten der Islamisten liegen eher
im kulturellen Bereich und in Lebensstilfragen (Rolle der
Frau, Bekleidungs- und Ernährungsvorschriften, etc.), die
- beschränkt auf Nordafrika - weder außenpolitisch
noch ökonomisch zentrale westliche Interessen tangieren.
Die westlichen Gebräuche auf diesem Gebiet mögen vielleicht
effizienter im Sinne des Wirtschaftswachstums sein, aber moralisch
können sie keine Überlegenheit beanspruchen. Im Gegenteil:
Fundamentalistische Strömungen im Westen zeugen davon, daß
die Einengung des Lebenszwecks auf Wohlstandsmehrung schmerzliche
Lücken läßt, die auch viele Europäer durch
radikale Identifizierung mit alten oder neuen Grundwerten wie
Nation, Rasse oder Sekten zu füllen versuchen.
Von diesen Sorgen um die Sinnentleerung überfütterter
Konsumgesellschaften sind die Gesellschaften Nordafrikas weit
entfernt. Das Beispiel Iran zeigt, daß leere Bäuche
auf Dauer auch dem islamischen Radikalismus die Legitimationsbasis
entziehen. Es ist also absehbar, daß auch ein vom politischen
Islam regiertes Nordafrika die wirtschaftliche Entwicklung anstreben
wird und dazu auf den Handel und die Kooperation mit der EU angewiesen
ist. Auch ordnungs- und wirtschaftspolitisch stellen die islamischen
Normen einer modernisierenden Marktwirtschaft wenig Hindernisse
in den Weg. Für Spezialprobleme wie die Verzinsung von
Kapital sind längst Lösungen gefunden. Gefährlich
für die wirtschaftliche Entwicklung könnte der mögliche
Exodus von größeren Teilen der westlich akkulturierten
technischen Elite sein. Ansonsten zeigen Beispiele wie Saudi-Arabien,
daß z.B. die gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen
ihre wirtschaftliche Initiative kaum dauerhaft hemmt.
Ähnliches gilt auch für ein weiteres der nordafrikanischen
Probleme: das starke Bevölkerungswachstum. Auch hier
fördert ein Blick auf den Iran den Realismus. Nachdem Khomeini
zunächst die Familienplanungspolitik des Schah verurteilt
und revidiert hatte, verfolgt die islamische Führung inzwischen
seit einigen Jahren eine sehr entschiedene, offene und erfolgreiche
Politik zur Senkung der Geburtenrate.
Problematischer für Europa wäre ein plötzlicher
Flucht- und Migrationsschub als Folge einer islamistischen
Machtergreifung. Dann droht ein Exodus gerade der westlich
eingestellten Elite - ganz zu schweigen von der Staatsklasse,
die sich zu ihren Hartwährungsguthaben im Ausland absetzen
würde. Aber die Islamisten hätten selbst großes
Interesse daran, eine Abwanderungswelle zu unterbinden. Europa
könnte - je nach Interessenlage - die Zuwanderung an der
Grenze blockieren oder sie billigend hinnehmen, um eine eher gut
qualifizierte, westlich orientierte Emigrantenelite zu gewinnen.
Die außen- und sicherheitspolitische Tendenz zur Konfrontation
zwischen dem politischem Islam und dem Westen ist über weite
Strecken ein historischer Ballast, der in Einzelfällen immer
beiseite geräumt wurde, wenn andere politische oder wirtschaftliche
Interessen (Antikommunismus, Öl, lokale Konflikte) für
ein Zusammengehen sprachen. Trotzdem hat die Geschichte in den
Beziehungen ein Gewicht, das besondere Beachtung verdient. Der
politische Islam ist - nach der arabischen Einheitsbewegung, dem
arabischen Sozialismus und anderen Ansätzen - nur das jüngste
(und sicher nicht letzte) aus einer Reihe von politisch-ideologischen
Konzepten, mit denen die Araber ihren relativen Niedergang gegenüber
dem Westen erklären und umkehren wollen. Jeder der Ansätze
sucht dabei die Schuld einerseits in der arabischen Welt selbst
(in ihrer Uneinigkeit, ihren Klassenstrukturen, ihrer Abkehr von
islamischen Werten, etc.), aber andererseits immer auch in der
Politik des Westens. Dafür gibt es auch in einer jahrhundertelangen
Konfrontationsgeschichte genügend Gründe, deren jüngste
aus diesem Jahrhundert noch besonders klar im arabischen Bewußtsein
gegenwärtig sind: der Verrat an den Arabern nach dem Sieg
über das osmanische Reich, Kolonialismus und die Unterstützung
Israels.
Gegen eine solche Haltung hilft nur ein längerer Versöhnungs-
und Verständigungsprozeß nach der Art, wie ihn
Deutschland mit seinen europäischen Nachbarn vollzogen hat.
Die Europäer sollten offen ihre Fehler eingestehen und sich
gegebenenfalls dafür entschuldigen (Kolonialismus, schwacher
Einsatz für die Rechte der Palästinenser, Ausländerfeindlichkeit,
etc.). Besonders in Frankreich bedarf es noch einer öffentlichen
Aufarbeitung des Algerienkriegs, an dem wichtige Mitglieder seiner
politischen Klasse in verantwortungsvollen Positionen beteiligt
waren. Europäisch-arabische Institutionen wären einzurichten,
die sich gezielt mit der Vergangenheit befassen: Historikerkommissionen,
Gespräche über die Behandlung in den Schulbüchern,
Religionskontakte, Gedenkstätten, Museen, gemeinsame Forschungseinrichtungen
und -programme. Parallel muß der Kontakt und Austausch unter
der jungen Generation gefördert werden. Kontraproduktiv ist
dagegen, aus einer gedankenlosen Verlängerung einer unglücklichen
Vergangenheit eine große Konfrontation herbeizureden, wie
es Huntington, Claes u.a. betreiben. Dies produziert erst die
Bedrohung, die sie unterstellt.
Ein schwierigeres Problem bleibt es, die Rolle der Gewalt
in den bestehenden Konflikten zu verringern. Solange Europa und
die USA die Gewaltanwendung durch autoritäre Regime schweigend
oder gar billigend in Kauf nehmen oder diese Regime aktiv unterstützen,
wird sich die ohnmächtige Wut der Opfer auch gegen den Westen
richten. Hier müssen politische und wirtschaftliche Interessen
an guten Beziehungen zu Staaten und damit zu Regierungen sorgfältig
gegen die dadurch verursachten Probleme und Risiken und die Kosten
ihrer Bekämpfung abgewogen werden. Grundsätzlich sollte
jede Dialogmöglichkeit wahrgenommen werden, um alle Beteiligten
zur Mäßigung und zur Gewaltlosigkeit anzuhalten. Die
europäische Position muß sich einer einseitigen Vereinnahmung
entziehen und beiden Seiten verständlich machen, daß
sie keine Partei ergreift, sondern für die Einhaltung bestimmter
demokratischer Regeln und Ordnungsprinzipien eintritt.
Denn extreme Islamisten und Regierung spielen im Effekt zusammen,
um Europas Spielräume einzuengen. Auf der einen Seite erwarten
die nordafrikanischen Regierungen Europas Unterstützung,
um angeblich gemeinsame Werte gegen die islamistische Bedrohung
zu verteidigen. Auf der anderen Seite bedrohen islamistische Extremisten
europäische Interessen und verweigern den Dialog. Beide polarisieren
so die Beziehungen und blenden Alternativen aus. Um so intensiver
muß Europa das Gespräch und die Zusammenarbeit mit
allen gemäßigten, demokratischen Kräften in Nordafrika
suchen, seien sie nun islamisch, liberal oder sozialistisch.
Die Distanzierung von Terroristen wäre mit diesen
Kontakten zu islamistischen Gruppen zu verbinden, die sich gegen
Gewalt und für die Einhaltung der demokratischen Spielregeln
ausgesprochen haben. Ein Dialog mit ihnen über Werte
und eine engere kulturelle Kooperation sollte den Verständigungsprozeß
begleiten. Offensichtlich wäre hier ein auch und gerade für
Europa fruchtbarer Austausch möglich. Denn der Islam versucht
teilweise Antworten auf Probleme des Modernisierungsprozesses
zu geben, die der Westen lange verdrängt hat und die ihn
gegenwärtig mit Macht einholen, nachdem die Konfrontation
mit dem Kommunismus beendet ist.
- Die Antwort Brüssels vernachlässigt
Europas Sorgen zurecht
Die Nordafrikapolitik der EU steht vor zwei Herausforderungen:
- Sie sollte die Reformprozesse unterstützen, um
langfristig politisch stabile und wirtschaftlich prosperierende
Nachbarländer zu haben. Die historische Erfahrung spricht
dafür, daß dieses Ziel auf Dauer am ehesten von demokratischen
und marktwirtschaftlichen Systemen erreicht wird.
- Sie will kurzfristig die beiden Bedrohungen entschärfen,
die in den Augen Europas am dringlichsten sind: den Migrationsdruck
und den islamischen Fundamentalismus.
Die jüngste Antwort der EU-Kommission auf diese Herausforderungen
ist der Vorschlag einer Partnerschaft ''Europa-Mittelmeer'', die
auf eine ''europäisch-mediterrane Zone der Stabilität
und Sicherheit'' und auf einen ''Wirtschaftsraum Europa-Mittelmeer''
zielt. Dazu soll ein Paket von Instrumenten dienen:
- eine Freihandelszone Europa-Mittelmeer bis zum Jahr
2010;
- Finanzhilfen, die erhöht, besser unter den Gebern
koordiniert und auf die Ziele der Zusammenarbeit (Modernisierung,
Liberalisierung, regionale Kooperation, etc.) ausgerichtet sind;
- politischer Dialog zu Fragen der Menschenrechte, Demokratie,
Regierungsqualität (''good governance'') und Sicherheitspolitik;
- Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen wie Energie,
Umwelt, Verkehr, Wissenschaft, Information, Tourismus, Kriminalität,
Migration und Drogen.
Wie immer in der internationalen Zusammenarbeit, so entscheiden
auch in diesem Fall die Binnenfaktoren über das Entwicklungsergebnis.
Alle genannten Instrumente können nur die Entwicklung in
Nordafrika begleiten, sie aber nicht ersetzen. Selbst wenn ein
aussichtsreicher Modernisierungs- und Entwicklungsprozeß
eingeleitet würde, könnten seine Konsequenzen für
Migration und Fundamentalismus kurzfristig eher negativ, also
verschärfend wirken. Einige wahrscheinliche Folgen sind absehbar,
wenn sich die Strukturen in Nordafrika nicht in gänzlich
unvorhersehbarer Weise verändern:
Freihandel
bedeutet zunächst und vor allem die Öffnung der nordafrikanischen
Märkte für die EU-Exporteure. Die damit verbundene
Importkonkurrenz dürfte nach vorliegenden Schätzungen
Zehntausende von Unternehmen in Nordafrika aus dem Markt drängen
- mit entsprechenden Folgen für Beschäftigung und Einkommen.
Zusätzlich sinken die Staatseinnahmen (Zollausfall) und verschärfen
sich die Handelsbilanzprobleme. Zwar würde eine Öffnung
der EU-Märkte für Landwirtschaftsprodukte und andere
sensible Güter alternative Beschäftigungsmöglichkeiten
bieten. Aber nur wenige Optimisten gehen davon aus, daß
die EU ihre Agrarpolitik stärker liberalisiert, als es die
Uruguay-Runde und eventuell die Osterweiterung erforderlich machen.
Eine mittelmeerweite Freihandelszone führt auch zur Liberalisierung
des Handels unter den nordafrikanischen Ländern. Die dort
entstehenden handelspolitischen Konfliktlagen unter
den Mittelmeerländern, deren komparative Vorteile sich
stark ähneln, können dabei schärfer ausfallen als
die zwischen der EU und Nordafrika.
Angesichts dieser kurzfristigen Negativwirkungen verwundert es
nicht, daß die Fristen für den Abbau der Handelshemmnisse
mit dem Jahr 2010 großzügig gesetzt werden. Entscheidend
sind die erhofften mittelfristigen positiven Effekte des Abbaus
der Rentenmentalität bei geschützten Branchen und klientelistischer
Willkürpraktiken und korrupter Bürokratie bei der Vergabe
von Importlizenzen. Aber auch wenn es der Liberalisierung gelingt,
hier Verhaltensänderungen zu bewirken, so garantiert dies
noch nicht die Entwicklung einer modernen, wettbewerbsfähigen
Industrie. Im Gegenteil: die erfolgreichen Modernisierer Südostasiens
haben sich eines gezielten Protektionismus verbunden mit einer
massiven Exportorientierung bedient, um ihre Wirtschaft zu entwickeln.
Allerdings gelang es dort einer entwicklungsbewußten Verwaltung,
die Unternehmen fit für den Weltmarkt zu machen, während
die Bürokratien Nordafrikas ihre Aufgabe bisher darin sahen,
die ihnen klientelistisch verbundenen lokalen Unternehmen vor
Weltmarktzwängen zu schützen.
Unabhängig von der entwicklungspolitischen Sinnhaftigkeit
der Handelsliberalisierung bleibt aber den nordafrikanischen Ländern
auf Dauer keine Alternative, wenn sie die EU-Anbindung erhalten
wollen, da die WTO-Regelungen asymmetrische Präferenzregelungen
nur übergangsweise auf dem Weg zu einer Freihandelszone bzw.
Zollunion zulassen.
Finanzhilfen
erweitern die Importkapazität Nordafrikas und fördern
damit ebenfalls die EU-Exporte. Viele Experten halten sie für
überflüssig, da die Region ohnehin mit mehr ''Hilfe''
bedacht sei, als sie sinnvoll verwalten und absorbieren kann.
Soweit sie als Kredite vergeben werden, erhöhen sie außerdem
die ohnehin schon kritische Verschuldung. Um dauerhaft neue Strukturen
zu finanzieren (etwa im Stil des Aufbaus in Ostdeutschland), ist
ihr absoluter Umfang zu gering. Knapp 9 Mrd. DM für den gesamten
Mittelmeerraum für fünf Jahre kann für ein einzelnes
Land kaum mehr als hundertfünfzig Millionen DM/Jahr ausmachen.
Damit liegt der Mittelzufluß bei einem Bruchteil des Leistungsbilanzsaldos
und ist gegenüber dem Bruttosozialprodukt vernachlässigbar.
Entscheidend bleibt der effiziente Einsatz der Kapitalzuflüsse
für die Modernisierung der Wirtschaft. Wäre er garantiert,
so wäre allerdings die Hilfe auch schon so gut wie überflüssig;
denn dann hätte das Land keine Schwierigkeiten, die entsprechenden
Gelder auf den internationalen Kapitalmärkten zu erhalten.
So hängt der Sinn der Hilfe davon ab, an der feinen Bruchlinie
zwischen ineffizienter Alimentierung des alten Rentenstaates und
der überflüssigen Zusatzfinanzierung einer erfolgreichen
Modernisierungspolitik den Wechsel vom ersten zum zweiten zu bewirken.
Aber die Finanzhilfen gehen an die Regierungen oder ihr untergeordnete
offizielle Institutionen (Entwicklungsbanken, etc.), also an die
Hochburgen des alten Systems. Nur eine enge Verwendungskontrolle
könnte verhindern, daß sie ähnlich verschwendet
werden wie viele andere Gelder vorher. Eine solche Kontrolle muß
aber zwangsläufig die Konflikte mit den Empfängern verstärken.
Sie setzt auch voraus, daß die Geber wirklich besser wissen,
wie die Mittel verwandt werden sollen, als die eigenen Institutionen
des Empfängerlands.
Ein Politikdialog
könnte helfen, diese Probleme zu lösen, indem er eine
Übereinstimmung zwischen Gebern und Empfänger
über die richtige Wirtschaftspolitik herstellt. Aber die
vom liberalen ''Washington Consensus'' geprägten Geberphilosophien,
die Erfahrungen der Strukturanpassungspolitiken und die erfolgreichen
Modelle nachholender Modernisierung sind nur beschränkt miteinander
verträglich. Selbst wenn eine ''richtige'' Politik zu identifizieren
wäre, müßte sie politisch gegen die Interessen
der Reformverlierer durchgesetzt werden.
Die außenpolitische Lage macht es dabei besonders schwierig,
unwillige Empfänger unter Druck zu setzen, vor allem
wenn die Geber gleichzeitig mehr Respekt vor Menschenrechten und
eine Austeritätspolitik durchsetzen wollen. Denn die nordafrikanischen
Regierungen weisen - in einigen Fällen auch zurecht - darauf
hin, daß mehr Freiräume für die Opposition bei
gleichzeitiger Beendigung der Bedienung der regierungstreuen Klientele
ein Rezept zur Stärkung des politischen Islam und zur Schwächung
der prowestlichen Regime ist. Solange die Geber diese Logik akzeptieren
und sie sich nicht zwischen Reforminteresse und Bündnistreue
gegenüber den Eliten nicht entscheiden, sind ihnen die Hände
gebunden.
Die sektorale Kooperation
muß ebenfalls versuchen, Gebiete und Projekte gemeinsamen
Interesses zu finden. In Bereichen wie Umwelt, Verkehr und Energie
mag das gelingen, wenn die Geber die Rechnung bezahlen und die
Interessen der Empfänger zumindest neutral oder gar positiv
sind. Aber auch hier gibt es Zielkonflikte, die eine gemeinsame
Politik der EU und Nordafrikas erschweren.
- Die Migrationspolitik weist ein offensichtliches Konfliktpotential
auf: Nordafrika muß daran interessiert sein, daß seine
jungen Arbeitslosen Gelegenheit haben, in Europa zu arbeiten und
Teile ihres Einkommens zu retransferieren. Europa dagegen will
seinen Arbeitsmarkt schützen. Demographische Gegentrends,
die es nahelegen, die Überalterung durch zusätzliche
Einwanderung zu bekämpfen, werden erst langfristig zum Tragen
kommen.
- In der Drogenpolitik verfolgt Europa (und der Westen
allgemein) eine widersprüchliche Politik irrational differenzierter
Prohibition: Alkohol und Nikotin sind schwach reguliert, viele
Psychopharmaka legal und stark reguliert, Marihuana ist nur in
Nischen legal, eine Fülle von Drogen unterschiedlicher Gefährlichkeit
illegal. Diese Politik wird in einem sehr langsamen Prozeß
reformiert und ist Dritten gegenüber schwer zu begründen.
Andererseits bringt der illegale Drogenhandel Marokko höhere
Deviseneinnahmen als die gesamte Auslandshilfe, die allerdings
im Schwarzmarkt versickern. Eine in Europa politisch weitgehend
tabuisierte Legalisierung könnte beiden Seiten große
Vorteile bringen.
- Beim Terrorismus fallen die Wahrnehmungen ebenfalls
auseinander, selbst wenn man vom Sonderfall Libyen absieht, dem
sogar die Unterstützung von antiwestlichen Terroristen vorgeworfen
wird. Zwar gibt es eine naheliegende Kooperation gegen Terroristen
und Organisationen, die Anschläge in Nordafrika und Europa,
vorzugsweise gegen Europäer, verüben, wie es in Algerien
und Ägypten der Fall war. Aber manches, das die Regierungen
''Terrorismus'' nennen, ist aus der Sicht der Opposition der letzte
Ausweg aus einer Hilflosigkeit, die die Regierungen selbst durch
die Blockade demokratischer Wege der Artikulation von oppositionellen
Interessen provoziert haben. Auch bezeichnen autoritäre Regierungen
gerne alle Oppositionellen als Terroristen, u.a. um Asylländer
zu veranlassen, exilierten Regimegegnern den Schutz zu entziehen.
Das Integrationsmodell der EU schreibt einerseits ihre
jahrzehntealte Politik gegenüber den weniger entwickelten
Nachbarregionen (Marktzugang, finanzielle und technische Hilfe)
fort. Ihre Vorgänger konnten offensichtlich nicht verhindern,
daß in Nordafrika Entwicklungen eintraten, die heute die
EU beunruhigen. Andererseits setzt die EU in der Mittelmeerpolitik
neue Akzente wie den beidseitigen Freihandel oder den Politikdialog
und sektorale Kooperation. Beide gab es in den bisherigen Mittelmeerabkommen
erst in Ansätzen; sie sind aber aus dem Lomé-Verhältnis
schon bekannt, wenn auch nicht unbedingt für ihren Entwicklungserfolg.
Die politisch-publizistische Verpackung für die ''neue''
Strategie, für die die EU allerdings nicht verantwortlich
ist, überzeichnet die Gefahren und überfrachtet die
mögliche konkrete Zusammenarbeit mit Ansprüchen und
Erwartungen, die sie kaum erfüllen kann.
Wenn man die öffentlich vorgetragenen europäischen Sorgen
ernst nimmt, dann muß die Priorität der Reformen und
damit der Kooperation im gesellschaftspolitischen Bereich liegen.
Die ökonomische Entwicklung der Region dient zunächst
der politischen und sozialen Stabilisierung. Aber sie ist auch
im langfristigen wirtschaftlichen Interesse Europas. Der europäische
Beitrag zur prioritären politischen Stabilität bedarf
jedoch zunächst einer Entemotionalisierung der Debatte.
Denn der Paranoia ist der erste Schritt zu einer überstürzten
Politik, die an den Problemen Nordafrikas und vor allem an den
Problemen Europas mit Nordafrika vorbeigeht.
- Die schwierige Modernisierung klientelistischer
Rentenstaaten
Die Strukturanpassungsprogramme der 80er Jahre haben in
Marokko, Tunesien und - in geringerem Maß - in Ägypten
dazu beigetragen, die makroökonomischen Ungleichgewichte
zu verringern. Die Inflation, die Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite
sowie die Auslandsverschuldung sanken bzw. bewegten sich in Bereiche,
die langfristig zu finanzieren waren. Algerien begann erst spät
mit härteren Maßnahmen, die deswegen bis jetzt kaum
Ergebnisse zeigten. Libyen stand dank seiner besonderen Wirtschaftsstruktur
weniger unter Druck, führte aber eigenständig eine Reihe
von Stabilisierungspolitiken durch.
Eine solide Geld- und Fiskalpolitik und realistische Wechselkurse
schaffen monetäre Stabilität und Glaubwürdigkeit,
wenn sie entschlossen von einer vertrauenswürdigen Regierung
durchgeführt werden. In der Folge nimmt die Kapitalflucht
ab und die Gastarbeiterüberweisungen nehmen zu. Die Überweisungen
lagen bisher pro Emigrant im Maghreb niedriger als etwa in Portugal,
was wahrscheinlich an dem geringeren Vertrauen in die Politik
und Währung ihrer Heimatländer liegt. Eine vertrauenswürdige
Währung benötigt niedrigere Zinsen zu ihrer Stabilisierung,
was die Investitionen und das Wachstum erleichtert. Eine harte
Währung muß allerdings längere Zeit durch Unterbewertung,
selektiven Protektionismus, offensive Exportförderung, niedrige
Löhne, harte Geld- und sparsame Haushaltspolitik erkämpft
werden. Diese Politiken finden selten die Gegenliebe der Handelspartner.
Europa muß hier zu Opfern bereit sein, wenn es die Stabilisierung
Nordafrikas ernsthaft will.
Die Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der Wirtschaftspolitik
hängen wesentlich vom politischen Standvermögen der
Regierung ab. In der Vergangenheit hielten die nordafrikanischen
Regierungen nur beschränkt den Druck aus, der als Reaktion
auf Sparpolitiken, Liberalisierung und Abwertung auf sie in Form
von Unruhen, Protesten oder direkter Beeinflussung innerhalb der
Eliten zukam. Die schwache Legitimität der Regierungen stellt
somit ein zentrales Problem der Stabilisierungspolitik dar. Die
Regierungen stehen angesichts der Erosion ihrer Rentenbasis vor
der schwierigen Aufgabe, sich eine neue Legitimität
zu schaffen. Nach einer Übergangskrise könnte sich eine
moderne, republikanische Legitimität entwickeln, die auf
einem demokratisch kontrollierten, entwicklungsorientierten Einsatz
vom Volk bewilligter und aufgebrachter Steuern beruht. Aber die
Mächtigen müssen befürchten, daß sie nicht
den Wechsel vom alten auf den neuen Stuhl schaffen.
Nur in Marokko und Tunesien war das erfolgreiche Nachfragemanagement
im Zuge der Strukturanpassungsprogramme von einer Angebotsverbesserung
begleitet, die sich in wachsenden und zunehmend diversifizierten
Exporten ausdrückte. Trotzdem stieg in allen Ländern
(mit Ausnahme Libyens) die Arbeitslosigkeit deutlich an. Sparmaßnahmen
drohen außerdem, nicht nur kurzfristig politische Probleme
zu schaffen (z.B. bei Entlassungen im öffentlichen Sektor,
Streichung der Nahrungsmittelsubventionen), sondern gefährden
eventuell die langfristige Angebotskapazität der Wirtschaft
im Fall von Kürzungen in Sektoren wie Erziehung, Gesundheit
oder Infrastruktur.
Die Vorschläge zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit
im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen beschränken sich
meist auf indirekte Maßnahmen. Die Liberalisierung von Importen
soll Kostendruck erzeugen und die Versorgung der Betriebe mit
Inputs erleichtern, die Abwertung zur Exportproduktion anreizen,
die Privatisierung die Effizienz von Staatsunternehmen erhöhen,
die Deregulierung die Hürden bei der Aufnahme und dem Betrieb
wirtschaftlicher Aktivitäten und bei Unternehmensgründungen
abbauen. Wie weit die so geöffneten Freiräume genutzt
werden, hängt aber davon ab, ob die potentiellen Unternehmer
die nötigen Fähigkeiten und Ressourcen (Ausbildung,
Kapital, Technologien, Marktkenntnisse etc.) haben bzw. erwerben
können. Ein in der Regel großer informeller Sektor
spricht zwar dafür, daß genügend Initiative da
ist und die Deregulierung beabsichtigt auch, diese Aktivitäten
zu legalisieren und damit das erfaßte Sozialprodukt und
die Steuereinnahmen zu erhöhen. Aber vom Überleben in
der Schattenwirtschaft ist es ein großer Schritt zur internationalen
Wettbewerbsfähigkeit.
Liberalisierung erleichtert erfolgreiche Modernisierung nur dort,
wo der Staat sie vorher behindert hat. Sie braucht jedoch nicht
nur die Abwesenheit des blockierenden Staats, sondern auch die
Zusammenarbeit mit einem öffentlichen Sektor, der
komplementäre Inputs liefert, die der Privatsektor bzw. der
Markt nicht anbieten können. Erst das fruchtbare Zusammenspiel
von privaten und öffentlichen Einrichtungen der verschiedensten
Ebenen (lokal, regional, national) schafft Standorte einer wettbewerbsfähigen
Produktion.
Effiziente Mikropolitiken können auch die negativen
Nebenwirkungen stabilisierender Makropolitiken mehr als kompensieren:
Gezielte Förderung der Primär- und Sekundärerziehung
von Mädchen statt aufwendiger Universitäten, preiswerte
Gesundheitserziehung und vorbeugende Medizin statt Großkliniken
mit teurer Apparatemedizin sind nur einige Beispiele, bei denen
weniger mehr bedeuten kann.
Solche Ansätze müssen von unten her wachsen und entwickelt
werden. Auch dazu müssen in den zentralistischen Staaten
Nordafrikas Freiräume geöffnet werden. Dezentralisierung,
kommunale Steuerhoheit (statt Abhängigkeit von zentralen
Finanzzuweisungen) und lokale Demokratie erlauben es, konkret
vor Ort Probleme anzupacken, private Unternehmen, gesellschaftliche
Organisationen und kommunale Verwaltung zusammenzuführen,
um sich gegenseitig zu stützen und zu kontrollieren. Die
Kommune kann besser prüfen, ob Unternehmer ihnen eingeräumte
Möglichkeiten und Ressourcen produktiv nutzen oder konsumptiv
privatisieren. Es besteht allerdings auch die Gefahr, daß
lokale Eliten ihre Verwaltungen bestechen. Aber die Bürger
sind als kommunale Steuerzahler motiviert und können als
Ortsansässige leichter kontrollieren, was die Verwaltung
mit ihrem Geld anfängt. Gegenseitige Verstärkung von
Leistung und Legitimität könnte den Staat von unten
erneuern. Besonders die immer weiter wachsende städtische
Jugend in ihrer Armut und Arbeitslosigkeit müßte dabei
einbezogen werden.
Auswärtige, zwischenstaatliche Hilfe tut sich naturgemäß
schwer, die Feinstruktur lokaler Politiken zu entwickeln. Sie
ist in der Regel auf Großprogramme der Zentralregierungen
fixiert. Die Abhängigkeit von internationalen Kapitalzuflüssen
hat sogar die Zentralisierung eher noch verstärkt, da die
Regierungen die formalen Kreditnehmer sind und die ausländischen
Gelder oft nach der Logik des alten Rentensystems verteilen. Der
die Finanzhilfe begleitende Politikdialog könnte dagegen
auf lokale politische Reformen drängen, die sich perspektivisch
nach oben, also über die regionale auf die nationale Ebene,
fortsetzen müssen. Direkter können die Zusammenarbeit
von Nichtregierungsorganisationen oder Städtepartnerschaften
versuchen, die kommunale Entwicklung zu unterstützen.
Auf dem Land sind ebenfalls drastische Veränderungen nötig,
um den Teufelskreis von hohem Bevölkerungswachstum, niedriger
Produktivität und Armut zu unterbrechen, der Nordafrika zum
Import von Nahrungsmitteln zwingt und die Migration weiter ankurbelt
- zunächst vom Land in die Stadt und dann ins Ausland. Höhere
Ankaufspreise für Agrarprodukte sind nur eine Rahmenbedingung
für Modernisierung, die im Ergebnis Großbetriebe und
die Übernahme von Flächen durch städtisches Kapital
bevorzugt hat - mit der Folge zwar höherer Produktion, aber
auch weiterer Verarmung und Landflucht. Es gibt wenig Ansätze,
um der ländlichen Bevölkerung in größerer
Zahl eine wirtschaftlich sinnvolle Existenz und Lebensperspektive
zu bieten, etwa durch Bodenreform, besseren Zugang für Kleinbauern
zu modernen Maschinen und Produktionsmethoden und den Aufbau ländlicher
Industrie mit der Agrarproduktion vor- und nachgelagerten Aktivitäten.
Gerade auf dem Lande würde eine bessere Erziehung vor allem
der Mädchen und Gesundheitsfürsorge - allen Erfahrungen
in anderen armen Ländern zufolge - am sichersten zur langfristigen
Senkung der Geburtenrate beitragen.
- Nordafrika braucht Partnerschaft statt Paranoia
Drei unverträgliche Komponenten zeichnen die Haltung
Europas gegenüber Nordafrika in den letzten Monaten aus:
- eine unberechtigte Paranoia über den politischen
Islam, den Terrorismus und die Migrationsbewegungen;
- ein Kraftakt symbolischer Politik, die sich um Begriffe
wie Partnerschaft, Freihandel, Politikdialog etc. rankt und in
dem Barcelonagipfel ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht
hat;
- eine knauserige Realpolitik, die um jedes Kilo Tomaten-
und Blumenimporte, um die Fischereirechte in Marokkos Gewässern
und um ECU-Summen an Hilfegeldern streitet, die Bruchteile dessen
betragen, was die Union ihren Großbauern an Subventionen
zukommen läßt oder für Hundefutter ausgibt.
Wie immer ist die Wahrheit besser an den Taten als an den Worten
zu erkennen. Was an den Gefahren ernst zu nehmen ist, darum
kümmern sich - oft mehr schlecht als recht - Polizei und
Grenzbehörden. Legal kommen kaum noch Einwanderer aus Nordafrika
nach Europa. Die Visa- und sonstigen Einreiseformalitäten
sind erheblich verschärft und erschweren schon spürbar
den Reiseverkehr, der notwendig ist, um all das aufrechtzuerhalten,
was in den Sonntagsreden gefordert wird (Dialog, Partnerschaft,
Kooperation, Handel).
Schmerzliche Anpassungen dagegen, z.B. in der europäischen
Fischerei- und Agrarpolitik, um Nordafrikas wirtschaftliche Entwicklung
zu erleichtern, fallen gerade den EU-Mittelmeeranrainern am schwersten,
obwohl sie sich am meisten von einer Dauerkrise in Nordafrika
bedroht fühlen müßten. Sie treten zwar für
höhere Hilfen ein, aber die kämen aus einem EU-Haushalt,
zu dem sie netto wenig beitragen. Diese Dickfelligkeit angesichts
der beschworenen Gefahren spricht dafür, daß nach
dem politisch-publizistischen Sturm des Jahres 1995 wieder die
Ruhe des diplomatisch-bürokratischen Alltags einkehren wird,
in dem es um die Verhandlung und Verwaltung des nächsten
Kredits, der letzten Importbeschränkung und der nächsten
Fangquote geht.
Eine realistische Nordafrikapolitik braucht eine klare Bestimmung
der europäischen Interessen. Worum geht es ?
- Ist es eine Trockenübung in symbolischer Politik zur
Beruhigung der Mittelmeermitgliedsstaaten der EU, die über
den Nordosttrend der Union besorgt sind ?
- Ist Europa durch Migration und islamistische Extremisten aus
Nordafrika bedroht ?
- Soll eine unterentwickelte Peripherie entwicklungspolitisch
mittels einer Variante der Lomé-Verträge an Europa
angebunden werden ?
- Soll eine für Europa wichtige Wirtschaftsregion (Energie,
billige Arbeitskräfte) in eine neue Struktur internationaler
Arbeitsteilung integriert werden ?
- Oder geht es um einen weiten außen- und sicherheitspolitischen
Rahmen zur Strukturierung des südlichen Nachbarschaftsraumes,
analog zum Ansatz der OSZE für Gesamteuropa, d.h. vor allem
EU und östliche Nachbarn ?
Offensichtlich schließen sich diese Ziele nicht gegenseitig
aus. Einzelne Mitglieder, gesellschaftliche und politische Segmente
der EU würden ihre eigenen Prioritäten innerhalb dieser
Liste formulieren. Die konkrete EU-Politik ist eine verwaschene
und gelegentlich inkonsistente Resultante dieser Kräfte.
Das einzige Land, das eine klare Führungsrolle (vergleichbar
der Deutschlands gegenüber Mittel- und Osteuropa) einnehmen
könnte, wäre Frankreich, da Spanien und Italien
an internen Führungskrisen leiden. Frankreichs Position ist
aber durch seine problematische Algerienpolitik bestimmt.
Der politische Dampf für die neue Politik der ''Partnerschaft
Europa-Mittelmeer'' kommt aus den beiden ersten Interessenkomplexen
(Gewichtsverlagerung in der Union und Bedrohungsperzeptionen),
die die EU nur sehr untergeordnet anspricht. Trotzdem dürfte
sie das erste Ziel mit ihrer neuen Politik erreichen. Daß
die neue Politik an den europäischen Ängsten und ihren
Anlässen wenig ändert, schadet kaum, da die Ängste
weitgehend grundlos sind oder durch andere Maßnahmen, z.B.
eine rigide Einwanderungspolitik, großteils erledigt haben.
Der EU-Ansatz versucht überwiegend, die drei letzten Ziele
abzudecken. Die dafür notwendige Mitarbeit der Partner auf
dem anderen Ufer des Mittelmeers ist aber noch nicht gesichert.
Eine langfristige Stabilisierung und Entwicklung Nordafrikas
bedarf aber anderer Akzente in der Zusammenarbeit. Ohne die
Probleme in Nordafrika zu verharmlosen, sollte die EU die
positiven Entwicklungen mehr würdigen und die Nutzen für
Europa in den Vordergrund stellen. Demokratisierung und Wirtschaftsreformen
haben in der Region - vor allem in Marokko und Tunesien - unzweifelhaft
Fortschritte gemacht, auch wenn sie noch weit davon entfernt sind,
europäischen Vorstellungen zu entsprechen. Algerien hat aufgrund
seiner Rohstoffausstattung gute Chancen, nach Beendigung seines
Bürgerkriegs dank einer Reihe von Reformen wirtschaftlich
wieder auf die Füße zu kommen. Libyen ist eines der
stabileren Länder Nordafrikas und könnte als relativ
reiches, aber bevölkerungsarmes Land einen wichtigen Beitrag
zur regionalen Entwicklung leisten. Ägypten weist wohl die
am tiefsten sitzenden Probleme auf und bedarf am dringlichsten
weiterer wirtschaftlicher Reformen und sozialer Hilfe. Die ganze
Region bleibt außerdem als Energielieferant ein wichtiger
Wirtschaftspartner für die EU, auch wenn seine Bedeutung
als Teil eines größeren Produktionsverbunds noch länger
auf sich warten lassen wird.
Angesichts der Schwierigkeit, innere Entwicklungen von außen
zu beeinflussen, sollte Europa bei sich selbst anfangen:
- Strukturpolitisch sollte die EU aktiv den Abbau jener Produktionen
fördern, in denen die EU nur durch dauerhafte künstliche
Schutzmaßnahmen wettbewerbsfähig bleiben kann. Sie
sollten durch billigere Importe aus den Nachbarregionen ersetzt
werden. Ein mittelfristiger Liberalisierungsfahrplan sollte
den betroffenen europäischen Produzenten und den potentiellen
Anbietern in den Nachbarländern (auch europäischen Investoren)
berechenbare Entscheidungsgrundlagen für die Anpassung an
eine künftige Arbeitsteilung geben. Eine derartige Klarheit
würde auch allen Ansätzen für regionale Kooperation
(UMA bzw. CEFTA in MOE) gut tun, die u.a. daran kranken, daß
für alle Beteiligten der europäische Markt wichtiger
ist als der regionale ist.
- Eine Liberalisierung der tabuisierten Drogenpolitik,
insbesondere eine Legalisierung von Cannabis, würde Nordafrika
neue legale Exportchancen einräumen sowie Einkommen in den
armen Landregionen und im Staatshaushalt statt bei Drogenhändlern
schaffen.
- Angesichts der vorhandenen Angebotsschwäche der nordafrikanischen
Ökonomien wird der Nutzen einer Handelsliberalisierung beschränkt
bleiben. Ihr muß eine Politik für Investitionen
und Migration folgen, die die Bedingungen für europäische
Investoren und nordafrikanische Migranten klärt und deren
Entwicklungsbeitrag optimiert.
- Die EU muß eine Einwanderungspolitik formulieren,
die einerseits die politische und soziale Aufnahmefähigkeit
der Mitgliedsländer realistisch einschätzt. Sie sollte
andererseits auch den möglichen Bedarf an Einwanderung angesichts
der demographischen Entwicklung in der EU berücksichtigen,
den viele Experten für Rentenversicherungsfragen auf Millionenhöhe
schätzen, wobei sie allerdings die unrealistische Existenz
entsprechend vieler sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze
unterstellen.
- Dabei muß die EU die Interessen Mittel- und Osteuropas
und Nordafrikas gegeneinander abwägen. Diese Interessenabwägung
ist letztlich eine Abwägung zwischen den Interessen des Nordostens
und des Südwestens der Union, da sie jeweils am stärksten
von einer neuen Arbeitsteilung mit den unmittelbaren Nachbarn
profitieren werden.
- Die EU muß ihre Aufklärungsarbeit gegen Rassismus
und Fremdenhaß, insbesondere gegen Araber und gegen
den Islam, verstärken. Dazu zählt auch eine Aufarbeitung
der eigenen kolonialen Vergangenheit.
- Die EU sollte möglichst rasch Libyen aus der außenpolitischen
Isolation befreien, die der dortigen Führung eher Vorwände
zur Verzögerung von Reformen bietet und verhindert, daß
das Land seine komplementären Vorteile in die regionale Kooperation
einbringt.
Die offensichtliche politische Aussichtslosigkeit der meisten
dieser Vorschläge beweist, wie tief unten in der Prioritätenskala
der europäischen Politik die soziale Entwicklung Nordafrikas
mit seinem relativ bescheidenen Markt und Wachstumspotential liegt.
Die Mittelmeerpolitik der EU muß und sollte sich
daher auf die Probleme und Instrumente konzentrieren, die mit
angemessenem Aufwand sichtbare Lösungsfortschritte versprechen.
Weder eine rasche Handelsliberalisierung noch Großkredite
zählen zu dieser Kategorie. Statt dessen sollte sich die
EU mit bescheidenen Projekten um die für sie wichtigen Sorgenbereiche
kümmern:
- Erziehung und Ausbildung nehmen dabei eine zentrale
Position ein. Sie sollten vor allem Mädchen und Frauen mit
erfassen, was nach allen Erfahrungen auch der beste Weg zur Bevölkerungskontrolle
ist. Sie sollten sich im Sekundarbereich darauf konzentrieren,
die Jugendlichen möglichst in die Lage zu versetzen, einen
Arbeitsplatz zu finden oder eine eigene Wirtschaftstätigkeit
aufzunehmen.
- Diese Existenzgründungen wären durch Kleinkredite
zu fördern, die von lokalen Gruppen verwaltet werden,
die die Geschäftsvorhaben bewerten und mithaften. Der europäische
Beitrag kann dabei nur eine Kofinanzierung sein, die nationale
Programme ergänzt oder durch voll finanzierte Pilotprojekte
Vorbilder für lokale Initiativen bietet.
- Lokale Demokratisierung und Wirtschaftsentwicklung
könnten den notwendigen Wandel langsam von unten einleiten,
ohne sofort die zentralen Eliten so sehr zu bedrohen, daß
sie ihn blockieren.
- Der gesellschaftspolitische Dialog unterhalb der Regierungsebene
sollte vor allem mit den reformorientierten Gruppen, aber auch
mit den Vertretern des politischen Islam geführt werden.
- In vielen Feldern gemeinsamen Interesses wie Umwelt, Energie,
Tourismus, Drogenpolitik und Terrorismus sollten beide Seiten
vorurteilsfrei versuchen, Lösungen zum beiderseitigen Nutzen
zu finden, die zur Erreichung der übergeordneten Ziele (dauerhafte
Stabilität und Entwicklung) beitragen.
Die EU und die bilaterale Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten
arbeiten auf diesen Gebieten. Ob diese wenig spektakuläre
Tätigkeit noch einer grandiosen Überwölbung durch
eine ''Europäisch-Mediterrane Zone für Frieden und Stabilität''
bedarf, ist zweifelhaft. Dieses Globalkonzept zielt auf eine
sehr differenzierte Gesamtregion, die sich wenig für globale
Gleichmacherei eignet. Selbst die Teilregion Nordafrika muß
schon länderspezifisch betrachtet und behandelt werden. Um
so mehr gilt dies für einen Raum, der sich von der Türkei
über Palästina und Bosnien bis nach Marokko erstreckt.
Die wenigsten Probleme betreffen die gesamte Region. So hätte
es z.B. wenig Sinn, den Maghreb mit der Kurdenfrage zu befassen.
Aber die Logik europäischer Politikformulierung zieht eine
aufwendig inszenierte Euromediterrane Partnerschaft substantiellen
Kooperationsschritten vor. Sie schließt eine Reihe sinnvoller
Maßnahmen allerdings auch nicht aus. Nordafrikas Arme
und Demokraten müssen sich mit der beschränkten Unterstützung
abfinden, die in diesem Rahmen für sie abfällt.
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fes-library | März 1998
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