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Europa und Nordafrika : mehr Paranoia als Partnerschaft / Michael Dauderstädt. - [Electronic ed.]. - Bonn, 1996. - 20 S. = 82 Kb, Text . - (Reihe Eurokolleg ; 36). - ISBN 3-86077-459-X
Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1997

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT


Zusammenfassung

  1. Seit dem Ende des Kommunismus hat sich auch Nordafrika verändert, allerdings eher durch zögerliche Reformen als durch revolutionäre Umbrüche. Die EU versucht ihre Beziehungen neu zu definieren. Aber übertriebene Ängste vor islamischen Fundamentalisten prägen die politische Debatte stärker als eine nüchterne Analyse europäischer Interessen und nordafrikanischer Entwicklungen.
  2. Seit ihrer Gründung pflegte die EU besondere Beziehungen zu Nordafrika, teils in Fortsetzung der kolonialen Vergangenheit, teils zur Sicherung wichtiger Ölinteressen. Trotz Ölkrise und Jahrzehnten der Zusammenarbeit blieb es bei der Abhängigkeit Nordafrikas, dessen gesamtes Nationaleinkommen heute etwa die Hälfte des von Baden-Württemberg ausmacht. Entsprechend ungleichgewichtig sind die Handelsbeziehungen und die Arbeitsmigration entwickelt.
  3. Alle nordafrikanischen Länder haben inzwischen begonnen, sich vom Modell staatlich gelenkter Entwicklung unter Führung autoritärer Einheitsparteien zu distanzieren. Während die wirtschaftliche Liberalisierung unter dem Druck abnehmender Deviseneinnahmen voranschritt, kam die Demokratisierung nur langsam voran und machte wegen der Unterdrückung der radikalen islamischen Opposition eher wieder Rückschritte. Krise und Austeritätspolitik trocknen die Rentenverteilung an die Klienten der regierenden Eliten aus und untergraben deren Legitimität. Damit sinkt die Bereitschaft zur weiteren politischen Öffnung. Dieser Teufelskreis ist nur durch parallele Demokratisierung und Wirtschaftsreform zu durchbrechen.
  4. Europa muß sich von der Fixierung auf das Fundamentalismusproblem lösen. Es kann auch mit dem politischen Islam als Nachbar und Wirtschaftspartner leben. Die Paranoia wegen der islamistischen Gefahr verzögert die notwendigen politischen Reformen und bindet Europa an die für die Krise in Nordafrika verantwortlichen Staatsklassen. Ein Verständigungs- und Aussöhnungsprozeß sollte versuchen, die antiwestlichen Vorurteile der Islamisten abzubauen. Ebenso wichtig ist die Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften zwischen regierenden Eliten und gewaltbereiten Islamisten.
  5. Die Antwort Brüssels setzt auf das traditionelle Politikbündel von Freihandel, Finanzhilfe, Politikdialog und sektoraler Kooperation. Freihandel bedeutet vor allem die Öffnung der nordafrikanischen Märkte und somit zusätzliche Anpassungslasten. Die Finanzhilfen erhöhen - soweit sie Kredite sind - die schon hohe Verschuldung und helfen nur, wenn sie effizienter eingesetzt werden als nationale Ersparnis. Politikdialog und Kooperation in einzelnen Beziehungsfeldern finden schwerlich gemeinsame Interessen mit Eliten, die angesichts der islamischen Opposition kaum kompromißbereit sind. An den beiden Hauptsorgen Europas, dem Migrationsdruck und dem Fundamentalismus, geht die neue Strategie weitgehend vorbei.
  6. Statt dessen muß sich die EU an die schwierige Aufgabe machen, die Modernisierung klientelistischer Rentenstaaten von außen zu unterstützen. Gezielte Mikropolitiken auf lokaler Ebene und ein gesellschaftspolitischer Dialog mit allen Kräften muß dabei die zwangsläufig auf die Zentralregierung und Eliten ausgerichtete zwischenstaatliche Kooperation ergänzen.
  7. Europas Mischung aus Paranoia, symbolischer Politik und praktischer Unbeweglichkeit hilft Nordafrika nicht. Mit Anpassungsbereitschaft im eigenen Haus und gezielten Hilfen könnte die EU dazu beitragen, daß die Reformen auf die Dauer zum Erfolg und damit auch zur Linderung von Europas Sorgen führen. Aber die Grenzen der europäischen Handlungsbereitschaft enthüllen den niedrigen Stellenwert Nordafrikas für Europa.
  1. Die neuen Sorgen der EU: Nordafrika zwischen Krise und Fundamentalismus

    Fünf Jahre nach der Öffnung in Mittel- und Osteuropa ist die Europäische Union (EU) zwar noch voll damit beschäftigt, ihre Beziehungen zu dieser Nachbarregion zu strukturieren; aber schon drängen vor allem die Mittelmeermitglieder Frankreich, Spanien und Italien, die 1995/96 drei aufeinander folgende EU-Präsidentschaften stellen, darauf, daß die EU sich intensiver um ihre südliche Nachbarregion kümmert. Der spanische EU-Kommissar Marin fordert für die Union ein ''Gleichgewicht in ihren Beziehungen nach Osten und Süden''. Der Europäische Rat bestätigte diese Politik auf seinem Gipfeltreffen im Dezember 1994 in Essen.

    Die südliche Nachbarregion umfaßt dabei einen Raum von Mittelmeeranrainern ohne EU-Mitgliedschaft, der vom Balkan über die Türkei, den Mittleren Osten bis zum Maghreb (Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko) reicht. Innere und äußere Probleme innerhalb dieses Raums unterscheiden sich erheblich und rechtfertigen eine getrennte Behandlung trotz mancher Gemeinsamkeiten:

    • Der Balkan fällt eher unter die östliche Nachbarregion der ehemals kommunistischen Länder, allerdings mit dem Sonderproblem des ehemaligen Jugoslawiens. Vor allem der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina spiegelte mit seinen ethnisch-religiösen Konfliktlinien Elemente der größeren Mittelmeerproblematik wider.
    • Die Beziehungen der EU zur Türkei sind geprägt von den griechisch-türkischen Spannungen, dem Zypernkonflikt und der Kurdenfrage. Menschenrechtsfragen haben den Abschluß der Zollunion in Frage gestellt. Die große türkische Ausländerbevölkerung und das Überschwappen der türkisch-kurdischen Auseinandersetzungen in Deutschland erinnern an die Konfliktstrukturen und ihre Übertragbarkeit, wie sie auch für Algerien und Frankreich zu befürchten sind.
    • Der Mittlere Osten ist vom israelisch-arabischen Konflikt mit seiner eigenen Logik geprägt. Der Friedensprozeß hat auch für die Außenbeziehungen der EU im Mittelmeerraum neue Möglichkeiten eröffnet.
    • Die Länder des Maghreb dagegen haben bei aller Unterschiedlichkeit eine gemeinsame Tradition enger, früher kolonialer Beziehungen zu den EU-Mittelmeeranrainern und eine Reihe gemeinsamer, wenn auch unterschiedlich ausgeprägter Entwicklungstendenzen und Probleme: Demokratisierung, wirtschaftliche Liberalisierung und Präsenz islamischer Oppositionsbewegungen.

    Diese Gemeinsamkeiten unter den nordafrikanischen Staaten und die Unterschiede zu den anderen drei Regionen rechtfertigen eine gesonderte Behandlung der Teilregion, die aus Marokko, Tunesien, Algerien und Libyen besteht, im Rahmen der gesamten EU-Mittelmeerpolitik. Zusätzlich zählt zu den nordafrikanischen Mittelmeeranrainern noch Ägypten, dessen Außenpolitik zwar stark durch seine Rolle im israelisch-arabischen Friedensprozeß bestimmt wird, dessen Binnenprobleme aber durch die gleiche Triade Demokratisierung, wirtschaftliche Liberalisierung und Präsenz islamischer Oppositionsbewegungen gekennzeichnet sind.

    Warum gerade jetzt ein neues großes Mittelmeerprogramm der EU ? Im Gegensatz zu Mittel- und Osteuropa hat es in diesem Raum keine dramatischen Regimezusammenbrüche gegeben, die eine Neustrukturierung der Beziehungen zwingend nahelegen. Die Befürworter einer neuen Mittelmeerpolitik führen mehrere Gründe an:

    • Das Ende des Kommunismus hat auch die Entwicklungs- und Verständigungsspielräume im Mittelmeerraum spürbar geöffnet: Der Friedensprozeß im Nahen Osten ist davon das deutlichste Zeichen. Aber auch für die nordafrikanischen Länder gilt, daß alte Konzepte politischer Herrschaft (Einparteiensysteme, militärisch gesicherte Präsidialdiktaturen bzw. Monarchie) und wirtschaftlicher Steuerung (großer Staatssektor, interventionistische Wirtschaftspolitik), die denen der sozialistischen Systeme ähnelten, langsam reformiert werden. Diesen Reformprozeß gelte es zu unterstützen.
    • Starkes Bevölkerungswachstum in Nordafrika ohne entsprechendes Wirtschaftswachstum und politische Krisen könnten den Migrationsdruck erhöhen, der sich zunächst auf die klassischen europäischen Aufnahmeländer mit schon hohem nordafrikanischen Ausländeranteil (vor allem Frankreich) richten würde.
    • Neben der Migration gibt es weitere Gebiete gegenseitiger Abhängigkeit wie Umweltschutz, Energieversorgung, Handel, Investitionen und Drogenpolitik.
    • Die neue Welthandelsordnung nach der Uruguay-Runde verbietet die bisherigen einseitigen Handelspräferenzen der EU für Nordafrika und erfordert eine handelspolitische Anpassung.

    Das in der westlichen Öffentlichkeit vorherrschende Motiv für eine neue Mittelmeerpolitik ist aber die sogenannte ''fundamentalistische Bedrohung''. Seit dem Ende des Kalten Krieges gibt es eine mehr oder weniger bewußte Suche nach einem neuen Feindbild für ''den Westen''. Der damalige Nato-Generalsekretär Claes identifizierte im Februar 1995 den Islam als Gegner. Die dahinter liegenden Interessen sind vielfältig: Militärs und Rüstungsindustrie suchen neue Bedrohungen zur Rechtfertigung ihrer Budgets; Außenpolitiker fürchten die wachsenden Divergenzen im westlichen Lager nach dem Ende des Belagerungszustandes.

    Die EU hat sich davon nur wenig anstecken lassen, nennt aber ''die Zunahme des religiösen Fundamentalismus und Integralismus'' als Stabilitätsrisiko (Erklärung des Europäischen Rates in Lissabon 1992) oder ''fundamentalistischen Extremismus'' in einem Atemzug mit Massenauswanderung, Terrorismus, Drogensucht und organisiertem Verbrechen als für die Union schädliche Folgen der krisenhaften Situation in den nordafrikanischen Ländern (die EU-Kommission in ihrem Mittelmeerpapier 1994).

    Die EU-Mittelmeeranrainer dürften aber noch ein weiteres Motiv für ihr verstärktes Mittelmeerengagement haben: Die Konzentration der EU auf Mittel- und Osteuropa sowie die EFTA-Erweiterung haben das geographische und strategische Zentrum der Union nach Nordosten verschoben. Die Entwicklung, Assoziation und Integration der ehemals kommunistischen Reformstaaten nutzen in erster Linie Deutschland und Österreich als deren Hauptwirtschaftspartnern. Eine stabile und dynamische Nachbarregion in Nordafrika und deren engere Anbindung an die EU würden dagegen zunächst den südwestlichen EU-Mitgliedern zugute kommen.

  2. Auch nach Dekolonialisierung und Ölkrise bleibt die dauerhafte Abhängigkeit

    Die mediterranen EU-Mitglieder, vor allem Frankreich, haben bisher die Struktur der Beziehungen der EU zu Nordafrika bestimmt. Bei Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 zur EWG-Gründung war Algerien noch Teil des französischen Staates, Marokko und Tunesien hatten gerade erst 1956 ihre Unabhängigkeit erhalten. Libyen und Ägypten waren zwar formal schon länger unabhängig (seit 1922 bzw. 1949), aber die letzten englischen Truppen verließen Ägypten erst 1954. Entsprechend diesen politisch und wirtschaftlich engen Beziehungen waren entweder bei Gründung der EG schon Regelungen vorgesehen (z.B. für Algerien und Libyen) oder sie folgten in Form von Teilassoziationsabkommen für Marokko und Tunesien 1969 bzw. eines präferentiellen Handelsabkommens mit Ägypten 1972.

    In den 70er Jahren restrukturierte die EU ihre Südbeziehungen - vor allem unter dem Eindruck der Ölkrise, die die Abhängigkeitsverhältnisse im Nord-Süd-Konflikt zeitweilig umzukehren schien. Die Lomé-Konvention, der Euro-Arabische Dialog und die Mittelmeerpolitik waren Produkte dieser neuen Sichtweise. Ab 1972 entwickelte die EU ein ''globales Mittelmeerkonzept'', das für die meisten Anrainerstaaten Vertragsbeziehungen umfaßte, die unbeschränkte Gültigkeitsdauer hatten, freien Zugang zum EG-Markt (außer im Kohle- und Stahl-, Agrar- sowie im Textilbereich) und finanzielle und technische Zusammenarbeit (Finanzprotokolle) vorsahen. Im Zuge dieser Politik schloß die Gemeinschaft 1976 entsprechende Kooperationsabkommen mit den Maghrebstaaten (außer Libyen) und 1977 mit den Maschrek-Ländern (Ägypten, Jordanien, Syrien, Libanon). Die nordafrikanischen Länder erhielten von 1978 bis 1996 im Rahmen von vier Finanzprotokollen fast 1,7 Mrd. ECU an Haushaltsmitteln und über 1,9 Mrd. ECU an Krediten der Europäische Investitionsbank (EIB).

    Neben diesen offiziellen Kapitalströmen investieren auch private Firmen aus der EU direkt in Nordafrika, allerdings in relativ geringem Umfang. Ausländische Direktinvestitionen spielen in Ägypten, Tunesien und Marokko eine größere Rolle. Während die EU in Ägypten deutlich hinter arabischen Investoren liegt, ist sie in den beiden anderen Ländern der größte Auslandsinvestor.

    Während das Kapital von Nord nach Süd floß, strömten die Arbeitskräfte in die andere Richtung. Vor allem Marokkaner und Algerier leben und arbeiten in Ländern der EU.

    Das mit Abstand wichtigste europäische Aufnahmeland ist Frankreich mit etwa 1,4 Millionen Nordafrikanern, davon 44% Algerier, 41% Marokkaner und 15% Tunesier. In den übrigen Ländern stellen die Marokkaner die größte nordafrikanische Einwanderergruppe.

    Ausländerbevölkerung in ausgewählten EU-Mitgliedsstaaten 1993

    Land Gesamte Ausländerbevölkerung
    in Tausend
    Nordafrikaner
    in Tausend
    Anteil
    in %
    Belgien 920,6 161,6 17,6
    Deutschland 6878,1 131,8 1,6
    Frankreich 3596,6 1393,2 38,3
    Italien 987,4 146,6 14,9
    Niederlande 779,8 167,0 21,4
    Spanien 430,4 61,3 14,2

    Quelle: OECD

    Zur gesamten legalen Ausländerbevölkerung nordafrikanischen Ursprungs in der EU (ca. 2,1 Millionen) ist allerdings eine nicht unbeträchtliche Zahl illegaler Einwanderer (geschätzt auf 0,5 Millionen) sowie etwa zwei Millionen vor allem in Frankreich eingebürgerte Nordafrikaner zu addieren. Damit erreicht die Zahl der in der EU lebenden Personen nordafrikanische Ursprungs etwa 4,6 Millionen, also 1,5% der Bevölkerung der EU.

    Das Bruttosozialprodukt Nordafrikas ist knapp halb so groß wie das Baden-Württembergs. Entsprechend ungleichgewichtig sind seine Handelsbeziehungen mit der EU. Die EU ist für alle nordafrikanischen Länder der wichtigste Handelspartner, der über die Hälfte der Importe liefert und der Exporte abnimmt. Allerdings sind die Exporte in die EU meist auf wenige Produkte konzentriert: Öl und Gas im Falle Libyens und Algeriens, Nahrungsmittel, Baumwolle, Textilien und Bekleidung aus Marokko, Tunesien und Ägypten. Unter den EU-Mitgliedern sind Frankreich, Spanien und Italien die wichtigsten Handelspartner Nordafrikas. Umgekehrt ist Nordafrika für die EU ein relativ unbedeutender Handelspartner mit einem Anteil von unter 3% an den europäischen Ein- und Ausfuhren.

    Die Mittelmeerländer hatten dabei - trotz asymmetrischer Marktöffnung - immer mit starkem EU-Protektionismus zu kämpfen. Den freien Zugang für Industrieprodukte gewährte die EU, ohne daß ein wettbewerbsfähiges Exportangebot existierte oder auch deswegen. Eine Ausnahme bildete der Textil- und Bekleidungssektor, dessen Importe die EU mittels Welttextil- und Selbstbeschränkungsabkommen regulierte. Die Regelung erlaubte aber ein kräftiges Wachstum der Textilexporte. Die Gemeinsame Agrarpolitik beschränkte die Importe von Agrarprodukten. Sowohl im Agrar- als auch im Fertigwarenhandel blieben aber Importmöglichkeiten (Quoten, Kontingente) unausgeschöpft, was eine strukturelle Angebotsschwäche der nordafrikanischen Ökonomien signalisiert.

    Die Süderweiterung der EG um Griechenland, Spanien und Portugal erhöhte zwar das Handelsvolumen, aber gleichzeitig auch die Wettbewerbsintensität zwischen EU-Anbietern und Mittelmeerländern, vor allem im Bereich der mediterranen Agrarprodukte (Tomaten, Orangen, Oliven, Wein etc.) sowie bei einfachen, lohnintensiven Fertigprodukten. Weitere handelspolitische Zugeständnisse gestalteten sich unter diesen Bedingungen sehr schwierig.

    Seit 1990 unternahm die EU mehrere Versuche, ihre Mittelmeerpolitik neu zu gestalten, wobei sie sich schrittweise vom alten bilateralen Konzept entfernte:

    • In Vorbereitung der Vierten Finanzprotokolle legte die Kommission am 1.6.1990 ein Konzept für eine ''Erneuerte Mittelmeerpolitik'' vor, zu der der Rat 1992 entsprechende Durchführungsbestimmungen erließ. Ohne vom bisherigen Ansatz bilateraler Vereinbarungen abzuweichen, unterstreicht die neue Politik die Bedeutung der regionalen Kooperation und der sicherheitsrelevanten Nachbarschaft.
    • Am 30.4.1992 stellte die Kommission ein neues Konzept der Beziehungen zwischen der EU und dem Maghreb vor, das die regionale und partnerschaftliche Dimension noch stärker betont und eine EU-Maghreb-Freihandelszone ins Auge faßt.
    • Im September 1993 band die Kommission die Nahostpolitik in dieses Konzept mit ein und schlug eine regionale Kooperation und Freihandelszone nach dem Vorbild des europäischen Integrationsprozesses vor.
    • Dieser konzeptionelle Entwicklung erreichte ihren vorläufigen Abschluß mit der Mitteilung der Kommission vom Oktober 1994 mit dem Vorschlag einer ''Euromediterranen Zone des Friedens und der Stabilität''.
    • Die euromediterrane Außenministerkonferenz in Barcelona im November 1995 verabschiedete eine gemeinsame Erklärung der 27 Partner aus EU und dem arabischen Raum, mit der die neue Partnerschaft ins Leben gerufen werden soll. Sie sieht insbesondere vor, bis zum Jahr 2010 eine Freihandelszone für Industriegüter einzurichten, bis 1999 Hilfegelder in Höhe von 4,7 Mrd. ECU nach Süden fließen zu lassen sowie den politischen Dialog und die sektorale Kooperation zu verstärken.

    Diese Veränderungen der EU-Mittelmeerpolitik standen im Zeichen des weltpolitischen Umbruchs seit 1989, des beginnenden Friedensprozesses im Nahen Osten, der Liberalisierungstendenzen in Nordafrika und des Erstarkens des islamischen Fundamentalismus. Diese miteinander verschränkten Entwicklungen haben die Herausforderungen für die EU in Nordafrika grundlegend verändert.

  3. Begrenzte Reformen von oben in Nordafrika

    Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems konnte an Nordafrika nicht spurlos vorübergehen. Der Sozialismus war in vielen arabischen Ländern, darunter auch in Ägypten, Libyen und Algerien eine staatstragende Ideologie gewesen. In ihr verbanden sich antikolonialistische und antiimperialistische Elemente aus der Phase der Unabhängigkeitsbewegung mit einer am sowjetischen Modell orientierten Vorstellung nachholender Industrialisierung (staatliche Wirtschaftspläne, Großprojekte im Schwerindustrie- und Energiesektor), engen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen (u.a. Rüstungsimporte) Beziehungen zum Ostblock und einem autoritären System der Einparteienherrschaft. Die konkrete Ausprägung und die Mischung dieser Elemente folgte spezifischen nationalen Bedingungen.

    Da diese Systeme nicht von außen aufgezwungen waren, brachen sie auch nicht fast gleichzeitig zusammen - wie in Mitteleuropa, als die Sowjetunion den Regimen ihre Unterstützung entzog. Der Wandel erfolgte nicht als plötzlicher Umbruch, sondern ergab sich aufgrund jeweils spezifischer Konstellationen, in denen außenpolitische Reorientierung, Wirtschaftsreform und Demokratisierung ungleichzeitig voranschritten:

    • Ägypten löste sich endgültig vom sowjetischen Einfluß, als die außenpolitische Zusammenarbeit mit den USA eine weitgehende Lösung seiner Probleme mit Israel (Wiedereröffnung des Suezkanal, Rückgabe des Sinai) ermöglichte. Aber die wirtschaftliche Öffnung (Infitah) begann schon mit der Machtübernahme Sadats nach dem Tod Nassers 1970. Außenwirtschaftlich lösten der Westen und Israel den Ostblock als Haupthandelspartner ab. Zur Schwächung der Sozialisten förderte Sadat die islamischen Oppositionskräfte, vor allem die Muslim-Bruderschaften. Ansonsten blieb aber die Demokratisierung beschränkt und unter Mubarak setzte in den 80er Jahren eine verstärkte Repression der islamischen Opposition ein. Mit der Verschärfung der Zahlungsbilanz- und Verschuldungsprobleme versuchte Ägypten seit den 80er Jahren ohne großen Erfolg, Anpassungsprogramme mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank durchzuführen.
    • Libyen bezeichnet sich noch immer als sozialistisches Land. Seit dem Umsturz von 1969 regiert Qaddafi das Land mit einem eigenwilligen System einer arabisch-sozialistischen ''Volksherrschaft''. Dank der hohen Erdöleinnahmen und der geringen Gesamtbevölkerung geriet es bisher unter relativ geringeren, aber allmählich zunehmenden Reformdruck. Immerhin räumt seit 1987 die leichte ökonomische Liberalisierung dem Privatsektor größere Möglichkeiten ein. Außen- und sicherheitspolitisch bleibt Libyen gegen seinen Willen vom Westen isoliert und damit auf Rußland angewiesen. Qaddafi hat sich aber in den 90er Jahren immer wieder entschieden, ja aggressiv gegen den radikalen Islam ausgesprochen.
    • Tunesien wies nur in den sechziger Jahren sozialistische Tendenzen auf, die sich vor allem in der Etablierung eines staatlichen Planwirtschaftssystems unter dem Gewerkschaftsführer Ben Salah äußerten. Die Einparteienherrschaft und das Präsidialsystem von Bourgibas Destour-Partei waren eher nationalistisch, modernisierend und antikommunistisch. Schon ab den 70er Jahren öffnete sich Tunesien wirtschaftlich und verfolgte seitdem eine exportorientierte Strategie, die ab 1987 in Verbindung mit einem IWF-Strukturanpassungsprogramm betont auf die Privatwirtschaft setzt. Die Demokratisierung erfolgte in kleinen Schritten nach dem Sturz Bourgibas 1987. Islamistische Kräfte, die Bourgiba brutal unterdrückt hatte, erhielten mehr Spielraum, ohne allzu großen Einfluß zu gewinnen (15% der Stimmen bei den relativ freien Wahlen von 1989). Selbst diese bescheidenen Erfolge veranlaßten die Regierung, die seit 1989 gewährten Freiräume wieder einzuschränken.
    • Algerien sah sich nach seiner Unabhängigkeit als islamische und sozialistische, demokratische Volksrepublik, in der die Front de Libération Nationale (FLN) die Rolle der KP in den kommunistischen Ländern übernahm. Allerdings übte gleichzeitig das Militär starken Einfluß aus, vor allem seit dem Sturz Ben Bellas durch Boumedienne 1965. Außenpolitisch verstärkte sich die Annäherung an den Ostblock in den 60er Jahren bei gleichzeitiger Verstaatlichung der Erdölgesellschaften und Übergang zu einem Programm der importsubstituierenden Planwirtschaft. Parallel betrieb Algerien eine aktive Politik der Arabisierung, die - z.T. unbeabsichtigt durch Import islamistisch orientierter Arabischlehrer aus Ägypten - eine Islamisierung bewirkte und den Keim der späteren islamistischen Opposition legte. Mit dem Rückgang der Öleinnahmen ab 1985 kam das Entwicklungsmodell zunehmend unter Druck. Seit der bescheidenen politischen Öffnung ab 1988 sank der Einfluß der FLN auf die Regierung und die Islamisten (Front Islamiste du Salut - FIS) erwiesen sich in den Wahlen 1990/91 als erfolgreichste Kraft. Der Abbruch der Wahlen und der Versuch der militärischen Unterdrückung der FIS seit 1992 führten zum immer noch anhaltenden blutigen Bürgerkrieg. Die relativ hohe Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen Ende 1995, die die Opposition boykottierte, zeugt vom Friedenswunsch großer Bevölkerungsteile.
    • Marokko nimmt als seit langem prowestliche, konstitutionelle Monarchie in Nordafrika eine politische Ausnahmestellung ein. Aber Demokratisierung und Liberalisierung stehen auch hier auf der Tagesordnung. Marokko hatte ebenfalls lange ein etatistisches Planwirtschaftskonzept verfolgt, das in den 80er Jahren mit hohen Zahlungsbilanzdefiziten und Verschuldung in die Krise geriet und damit den IWF und seine Strukturanpassungsprogramme auf den Plan rief. Die Demokratisierung entwickelt sich in kleinen Schritten bei weiter bestehender Dominanz des Königs, dessen islamische Legitimation (''Beschützer der Gäubigen'') und nationalistische Saharapolitik den Einfluß der Islamisten in Marokko bisher sehr gering gehalten hat.

    Die differenzierte Parallelität der Reformen fand 1989 ihren außenpolitischen Ausdruck in der Gründung der regionalen Organisation Union du Maghreb Arabe (UMA), der allerdings nicht Ägypten, aber zusätzlich Mauretanien angehört. Die geplante Kooperation geht weit über den Handelsbereich hinaus und umfaßt die Außenpolitik, die meisten Wirtschaftszweige sowie Kultur, Bildung und Wissenschaft. Real hat sie aber bisher kaum Bedeutung erlangt. Der regionale Handel ist gering. Die am stärksten regional orientierten Länder, Marokko und Tunesien, exportieren unter 10 % ihrer gesamten Ausfuhren in die Region. Regionale Investitionen spielen ebenfalls kaum eine Rolle. Nur in Libyen arbeiten eine größere Anzahl Gastarbeiter aus Ägypten und Tunesien.

    Der Vergleich mit Mittel- und Osteuropa (MOE) zeigt die höhere Differenzierung und Komplexität der Reformprozesse in Nordafrika:

    • In MOE hatte die siegreiche demokratische Opposition ein in sich weitgehend stimmiges Dreifachkonzept von Demokratie, Marktwirtschaft und Westintegration zur Ablösung von Parteidiktatur, Planwirtschaft und sowjetischer Vorherrschaft. Der Westen hatte ein außenpolitisches und wirtschaftliches Interesse an der Förderung aller drei Komponenten.
    • In Nordafrika gibt es keine siegreiche demokratische Opposition. Die oppositionellen Demokraten sind relativ schwach. Die stärkste Opposition zur bestehenden Herrschaft ist islamistisch. Die Ideologie und die Konzepte des politischen Islam liegen quer zu den traditionellen westlichen, liberalen Vorstellungen von Demokratie und Marktwirtschaft, was aber nicht bedeutet, daß sie damit unverträglich wären. Nicht zuletzt aufgrund der geschichtlichen Konfrontation, wegen der Unterstützung Israels durch westliche Mächte und westlichen Feindschaftsbekundungen ist der politische Islam außenpolitisch eher anti-westlich - vor allem nach dem Ende ihres gemeinsamen Gegners, des Kommunismus.

    Die Regierungen sind - außer in Libyen - eher prowestlich, und selbst Qaddafi ist zumindest antifundamentalistisch. Gleichzeitig sind sie - bzw. die mit ihnen verbundenen Eliten -aber für die wirtschaftliche und soziale Krise und die undemokratischen Verhältnisse in ihren Ländern hauptverantwortlich und deren Nutznießer. Es ist fraglich, ob die notwendigen grundlegenden Reformen mit der Zustimmung dieser Eliten gegen ihre - zumindest kurzfristigen - Interessen durchgeführt werden können. Der Westen und insbesondere die EU stehen dann vor folgendem Dilemma: entweder sie versuchen, die alten Regime und damit den Krisendruck zu erhalten, oder sie fördern deren Machtablösung mit der ungewissen Aussicht auf Reformen.

    Bis jetzt haben die Eliten Liberalisierung und Demokratisierung nach dem Motto ''Soviel wie nötig, so wenig wie möglich'' betrieben. Nur unter starkem Druck der Gläubiger haben sie Schritte zur Stabilisierung und Öffnung ihrer Wirtschaften bzw. in Richtung auf freie Wahlen und Respektierung der Menschenrechte unternommen, um weitere Kredite zu erhalten oder den Marktzugang nicht zu verlieren. In Tunesien und Marokko haben sie in einigen Fällen erkannt, daß die notwendigen Reformen in ihrem eigenen langfristigen Interesse liegen, allerdings kurzfristig schwer fallen.

    Liberalisierung und Demokratisierung sind dabei in enger und widersprüchlicher Weise miteinander verknüpft:

    • Die nordafrikanischen Regime sind kaum reformierte klientelistische Rentenstaaten, die Einkommen aus Öl (Libyen, Algerien, in geringerem Umfang auch Ägypten und Tunesien), Suezkanalgebühren, westlicher Hilfe (Ägypten), Tourismus und Gastarbeiterüberweisungen verteilten, in dem sie Jobs im Staatssektor schufen und Lebensmittel subventionierten. Mit dieser Politik haben die Eliten einen großen Teil der städtischen Bevölkerung an sich und an das Wirtschaftsmodell gebunden. Zwang ein Rückgang der Staatseinnahmen zu Einschränkung dieser Politik, so konnte es zu Massenprotesten kommen, wie sie als typische ''IWF-Unruhen'' Mitte der 80er Jahre in einigen nordafrikanischen Ländern nach Erhöhung der Brotpreise auftraten.
    • Nur in dem Maße, wie Reichtum und Einkommen durch eigene Arbeit und Unternehmenstätigkeit erworben werden, was sich u.a. in einer Diversifizierung der Exporte (vor allem in Tunesien und Marokko, die zunehmend verarbeitete Produkte ausführen) ausdrückt, kann sich die politische Ökonomie dieser Länder ändern. Denn mit dem Einkommen entsteht potentiell eine Steuerbasis, deren Steuerzahler ein politisches Interesse an sparsamer und verantwortungsvoller Haushaltsführung und demokratischer Kontrolle der Regierung haben. Oft genug sind die ''neuen'' Unternehmer aber Teil der alten Eliten, die ihre Machtbeziehungen gebrauchen, um einer Besteuerung zu entgehen. Diese ''neuen'' Eliten nutzen häufig die durch die Liberalisierung eröffneten Spielräume zur rascheren Bereicherung ohne Rücksicht auf die im alten klientelistischen System eingebauten Fürsorgeverpflichtungen.
    • Reformen in Nordafrika bedeuten daher, daß ''weniger Staat'' nur durch einen unabhängigeren Staat möglich wäre, der sich aus der Vereinnahmung durch die alten Eliten lösen kann und relativ unabhängig Regeln für die (private) Wirtschaft setzt, die die Marktteilnehmer weg von einer Logik des ''rent-seeking'' zu einer Logik marktorientierter Leistungserstellung zwingen.

    Eine konsequente Demokratisierung, praktisch eine Revolution wie in Mittel- und Osteuropa, in der die harten wirtschaftlichen Reformen mit ihren sozialen Kosten dadurch akzeptabel werden, daß sie mit politischer Freiheit und Partizipationsmöglichkeiten kompensiert werden, könnte einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten. Aber schon die Entwicklung in MOE zeigt, wie schnell sich ökonomische Frustrationen in politische Wendungen umsetzen. In Nordafrika kommt erschwerend hinzu, daß der einzige derzeit sichtbare Träger einer solchen Revolution der politische Islam ist, dessen spezifisches Programm auch in Nordafrika weniger konsensfähig sein dürfte als es die liberale Programmatik der Oppositionsbewegungen in MOE war.

  4. Paranoia: Die voreilige Gegnerschaft zum politischen Islam verhindert eine sachorientierte Nordafrikapolitik

    Nicht nur unter den Regierungen, auch in weiten Kreisen der Bevölkerung findet der politische Islam in Nordafrika keine Unterstützung. Und es gibt keine Garantie, daß er - einmal an der Macht - seinen Gegnern die demokratische Möglichkeit ließe, ihn wieder abzuwählen. Der undifferenzierte Terrorismus extremer Islamisten gegen Unschuldige, die nicht Vertreter der regierenden Eliten sind, läßt wenig Respekt vor Menschenrechten erwarten. Aber dies gilt nicht für große, gemäßigte Teile des politischen Islam.

    Europa als Wertegemeinschaft zöge es sicher vor, wenn seine südlichen Nachbarn die gleichen Werte (Demokratie, Menschenrechte, etc.) teilen würden. Aber es wäre ungewöhnlich und nicht ungefährlich, dies zur Bedingung für friedlich-nachbarschaftliche Beziehungen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Handel zu erheben. Sieht man also von dieser Gesinnungsethik ab, so gibt es wenig Gründe, warum Europa Partei gegen die islamische Opposition und für eine korrupte Elite ergreifen sollte.

    Der Westen (einschließlich Europa) hatte während des Kalten Krieges immer wieder gute Beziehungen zum politischen Islam, wenn es ihn als einen Verbündeten gegen den Kommunismus und den arabischen Sozialismus nutzen konnte. Staaten, die im Inneren ein rigides islamisches Regime anwenden, wie z.B. Saudi-Arabien, zählten und zählen zu den Partnern des Westens. In Ägypten hatte der Westen nichts gegen mehr Freiräume für die Muslimbrüder einzuwenden, um die sozialistisch orientierten Gruppierungen zu schwächen.

    Die politischen Prioritäten der Islamisten liegen eher im kulturellen Bereich und in Lebensstilfragen (Rolle der Frau, Bekleidungs- und Ernährungsvorschriften, etc.), die - beschränkt auf Nordafrika - weder außenpolitisch noch ökonomisch zentrale westliche Interessen tangieren. Die westlichen Gebräuche auf diesem Gebiet mögen vielleicht effizienter im Sinne des Wirtschaftswachstums sein, aber moralisch können sie keine Überlegenheit beanspruchen. Im Gegenteil: Fundamentalistische Strömungen im Westen zeugen davon, daß die Einengung des Lebenszwecks auf Wohlstandsmehrung schmerzliche Lücken läßt, die auch viele Europäer durch radikale Identifizierung mit alten oder neuen Grundwerten wie Nation, Rasse oder Sekten zu füllen versuchen.

    Von diesen Sorgen um die Sinnentleerung überfütterter Konsumgesellschaften sind die Gesellschaften Nordafrikas weit entfernt. Das Beispiel Iran zeigt, daß leere Bäuche auf Dauer auch dem islamischen Radikalismus die Legitimationsbasis entziehen. Es ist also absehbar, daß auch ein vom politischen Islam regiertes Nordafrika die wirtschaftliche Entwicklung anstreben wird und dazu auf den Handel und die Kooperation mit der EU angewiesen ist. Auch ordnungs- und wirtschaftspolitisch stellen die islamischen Normen einer modernisierenden Marktwirtschaft wenig Hindernisse in den Weg. Für Spezialprobleme wie die Verzinsung von Kapital sind längst Lösungen gefunden. Gefährlich für die wirtschaftliche Entwicklung könnte der mögliche Exodus von größeren Teilen der westlich akkulturierten technischen Elite sein. Ansonsten zeigen Beispiele wie Saudi-Arabien, daß z.B. die gesellschaftliche Diskriminierung der Frauen ihre wirtschaftliche Initiative kaum dauerhaft hemmt.

    Ähnliches gilt auch für ein weiteres der nordafrikanischen Probleme: das starke Bevölkerungswachstum. Auch hier fördert ein Blick auf den Iran den Realismus. Nachdem Khomeini zunächst die Familienplanungspolitik des Schah verurteilt und revidiert hatte, verfolgt die islamische Führung inzwischen seit einigen Jahren eine sehr entschiedene, offene und erfolgreiche Politik zur Senkung der Geburtenrate.

    Problematischer für Europa wäre ein plötzlicher Flucht- und Migrationsschub als Folge einer islamistischen Machtergreifung. Dann droht ein Exodus gerade der westlich eingestellten Elite - ganz zu schweigen von der Staatsklasse, die sich zu ihren Hartwährungsguthaben im Ausland absetzen würde. Aber die Islamisten hätten selbst großes Interesse daran, eine Abwanderungswelle zu unterbinden. Europa könnte - je nach Interessenlage - die Zuwanderung an der Grenze blockieren oder sie billigend hinnehmen, um eine eher gut qualifizierte, westlich orientierte Emigrantenelite zu gewinnen.

    Die außen- und sicherheitspolitische Tendenz zur Konfrontation zwischen dem politischem Islam und dem Westen ist über weite Strecken ein historischer Ballast, der in Einzelfällen immer beiseite geräumt wurde, wenn andere politische oder wirtschaftliche Interessen (Antikommunismus, Öl, lokale Konflikte) für ein Zusammengehen sprachen. Trotzdem hat die Geschichte in den Beziehungen ein Gewicht, das besondere Beachtung verdient. Der politische Islam ist - nach der arabischen Einheitsbewegung, dem arabischen Sozialismus und anderen Ansätzen - nur das jüngste (und sicher nicht letzte) aus einer Reihe von politisch-ideologischen Konzepten, mit denen die Araber ihren relativen Niedergang gegenüber dem Westen erklären und umkehren wollen. Jeder der Ansätze sucht dabei die Schuld einerseits in der arabischen Welt selbst (in ihrer Uneinigkeit, ihren Klassenstrukturen, ihrer Abkehr von islamischen Werten, etc.), aber andererseits immer auch in der Politik des Westens. Dafür gibt es auch in einer jahrhundertelangen Konfrontationsgeschichte genügend Gründe, deren jüngste aus diesem Jahrhundert noch besonders klar im arabischen Bewußtsein gegenwärtig sind: der Verrat an den Arabern nach dem Sieg über das osmanische Reich, Kolonialismus und die Unterstützung Israels.

    Gegen eine solche Haltung hilft nur ein längerer Versöhnungs- und Verständigungsprozeß nach der Art, wie ihn Deutschland mit seinen europäischen Nachbarn vollzogen hat. Die Europäer sollten offen ihre Fehler eingestehen und sich gegebenenfalls dafür entschuldigen (Kolonialismus, schwacher Einsatz für die Rechte der Palästinenser, Ausländerfeindlichkeit, etc.). Besonders in Frankreich bedarf es noch einer öffentlichen Aufarbeitung des Algerienkriegs, an dem wichtige Mitglieder seiner politischen Klasse in verantwortungsvollen Positionen beteiligt waren. Europäisch-arabische Institutionen wären einzurichten, die sich gezielt mit der Vergangenheit befassen: Historikerkommissionen, Gespräche über die Behandlung in den Schulbüchern, Religionskontakte, Gedenkstätten, Museen, gemeinsame Forschungseinrichtungen und -programme. Parallel muß der Kontakt und Austausch unter der jungen Generation gefördert werden. Kontraproduktiv ist dagegen, aus einer gedankenlosen Verlängerung einer unglücklichen Vergangenheit eine große Konfrontation herbeizureden, wie es Huntington, Claes u.a. betreiben. Dies produziert erst die Bedrohung, die sie unterstellt.

    Ein schwierigeres Problem bleibt es, die Rolle der Gewalt in den bestehenden Konflikten zu verringern. Solange Europa und die USA die Gewaltanwendung durch autoritäre Regime schweigend oder gar billigend in Kauf nehmen oder diese Regime aktiv unterstützen, wird sich die ohnmächtige Wut der Opfer auch gegen den Westen richten. Hier müssen politische und wirtschaftliche Interessen an guten Beziehungen zu Staaten und damit zu Regierungen sorgfältig gegen die dadurch verursachten Probleme und Risiken und die Kosten ihrer Bekämpfung abgewogen werden. Grundsätzlich sollte jede Dialogmöglichkeit wahrgenommen werden, um alle Beteiligten zur Mäßigung und zur Gewaltlosigkeit anzuhalten. Die europäische Position muß sich einer einseitigen Vereinnahmung entziehen und beiden Seiten verständlich machen, daß sie keine Partei ergreift, sondern für die Einhaltung bestimmter demokratischer Regeln und Ordnungsprinzipien eintritt.

    Denn extreme Islamisten und Regierung spielen im Effekt zusammen, um Europas Spielräume einzuengen. Auf der einen Seite erwarten die nordafrikanischen Regierungen Europas Unterstützung, um angeblich gemeinsame Werte gegen die islamistische Bedrohung zu verteidigen. Auf der anderen Seite bedrohen islamistische Extremisten europäische Interessen und verweigern den Dialog. Beide polarisieren so die Beziehungen und blenden Alternativen aus. Um so intensiver muß Europa das Gespräch und die Zusammenarbeit mit allen gemäßigten, demokratischen Kräften in Nordafrika suchen, seien sie nun islamisch, liberal oder sozialistisch.

    Die Distanzierung von Terroristen wäre mit diesen Kontakten zu islamistischen Gruppen zu verbinden, die sich gegen Gewalt und für die Einhaltung der demokratischen Spielregeln ausgesprochen haben. Ein Dialog mit ihnen über Werte und eine engere kulturelle Kooperation sollte den Verständigungsprozeß begleiten. Offensichtlich wäre hier ein auch und gerade für Europa fruchtbarer Austausch möglich. Denn der Islam versucht teilweise Antworten auf Probleme des Modernisierungsprozesses zu geben, die der Westen lange verdrängt hat und die ihn gegenwärtig mit Macht einholen, nachdem die Konfrontation mit dem Kommunismus beendet ist.

  5. Die Antwort Brüssels vernachlässigt Europas Sorgen zurecht

    Die Nordafrikapolitik der EU steht vor zwei Herausforderungen:

    1. Sie sollte die Reformprozesse unterstützen, um langfristig politisch stabile und wirtschaftlich prosperierende Nachbarländer zu haben. Die historische Erfahrung spricht dafür, daß dieses Ziel auf Dauer am ehesten von demokratischen und marktwirtschaftlichen Systemen erreicht wird.
    2. Sie will kurzfristig die beiden Bedrohungen entschärfen, die in den Augen Europas am dringlichsten sind: den Migrationsdruck und den islamischen Fundamentalismus.

    Die jüngste Antwort der EU-Kommission auf diese Herausforderungen ist der Vorschlag einer Partnerschaft ''Europa-Mittelmeer'', die auf eine ''europäisch-mediterrane Zone der Stabilität und Sicherheit'' und auf einen ''Wirtschaftsraum Europa-Mittelmeer'' zielt. Dazu soll ein Paket von Instrumenten dienen:

    • eine Freihandelszone Europa-Mittelmeer bis zum Jahr 2010;
    • Finanzhilfen, die erhöht, besser unter den Gebern koordiniert und auf die Ziele der Zusammenarbeit (Modernisierung, Liberalisierung, regionale Kooperation, etc.) ausgerichtet sind;
    • politischer Dialog zu Fragen der Menschenrechte, Demokratie, Regierungsqualität (''good governance'') und Sicherheitspolitik;
    • Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen wie Energie, Umwelt, Verkehr, Wissenschaft, Information, Tourismus, Kriminalität, Migration und Drogen.

    Wie immer in der internationalen Zusammenarbeit, so entscheiden auch in diesem Fall die Binnenfaktoren über das Entwicklungsergebnis. Alle genannten Instrumente können nur die Entwicklung in Nordafrika begleiten, sie aber nicht ersetzen. Selbst wenn ein aussichtsreicher Modernisierungs- und Entwicklungsprozeß eingeleitet würde, könnten seine Konsequenzen für Migration und Fundamentalismus kurzfristig eher negativ, also verschärfend wirken. Einige wahrscheinliche Folgen sind absehbar, wenn sich die Strukturen in Nordafrika nicht in gänzlich unvorhersehbarer Weise verändern:

    Freihandel

    bedeutet zunächst und vor allem die Öffnung der nordafrikanischen Märkte für die EU-Exporteure. Die damit verbundene Importkonkurrenz dürfte nach vorliegenden Schätzungen Zehntausende von Unternehmen in Nordafrika aus dem Markt drängen - mit entsprechenden Folgen für Beschäftigung und Einkommen. Zusätzlich sinken die Staatseinnahmen (Zollausfall) und verschärfen sich die Handelsbilanzprobleme. Zwar würde eine Öffnung der EU-Märkte für Landwirtschaftsprodukte und andere sensible Güter alternative Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Aber nur wenige Optimisten gehen davon aus, daß die EU ihre Agrarpolitik stärker liberalisiert, als es die Uruguay-Runde und eventuell die Osterweiterung erforderlich machen.

    Eine mittelmeerweite Freihandelszone führt auch zur Liberalisierung des Handels unter den nordafrikanischen Ländern. Die dort entstehenden handelspolitischen Konfliktlagen unter den Mittelmeerländern, deren komparative Vorteile sich stark ähneln, können dabei schärfer ausfallen als die zwischen der EU und Nordafrika.

    Angesichts dieser kurzfristigen Negativwirkungen verwundert es nicht, daß die Fristen für den Abbau der Handelshemmnisse mit dem Jahr 2010 großzügig gesetzt werden. Entscheidend sind die erhofften mittelfristigen positiven Effekte des Abbaus der Rentenmentalität bei geschützten Branchen und klientelistischer Willkürpraktiken und korrupter Bürokratie bei der Vergabe von Importlizenzen. Aber auch wenn es der Liberalisierung gelingt, hier Verhaltensänderungen zu bewirken, so garantiert dies noch nicht die Entwicklung einer modernen, wettbewerbsfähigen Industrie. Im Gegenteil: die erfolgreichen Modernisierer Südostasiens haben sich eines gezielten Protektionismus verbunden mit einer massiven Exportorientierung bedient, um ihre Wirtschaft zu entwickeln. Allerdings gelang es dort einer entwicklungsbewußten Verwaltung, die Unternehmen fit für den Weltmarkt zu machen, während die Bürokratien Nordafrikas ihre Aufgabe bisher darin sahen, die ihnen klientelistisch verbundenen lokalen Unternehmen vor Weltmarktzwängen zu schützen.

    Unabhängig von der entwicklungspolitischen Sinnhaftigkeit der Handelsliberalisierung bleibt aber den nordafrikanischen Ländern auf Dauer keine Alternative, wenn sie die EU-Anbindung erhalten wollen, da die WTO-Regelungen asymmetrische Präferenzregelungen nur übergangsweise auf dem Weg zu einer Freihandelszone bzw. Zollunion zulassen.

    Finanzhilfen

    erweitern die Importkapazität Nordafrikas und fördern damit ebenfalls die EU-Exporte. Viele Experten halten sie für überflüssig, da die Region ohnehin mit mehr ''Hilfe'' bedacht sei, als sie sinnvoll verwalten und absorbieren kann. Soweit sie als Kredite vergeben werden, erhöhen sie außerdem die ohnehin schon kritische Verschuldung. Um dauerhaft neue Strukturen zu finanzieren (etwa im Stil des Aufbaus in Ostdeutschland), ist ihr absoluter Umfang zu gering. Knapp 9 Mrd. DM für den gesamten Mittelmeerraum für fünf Jahre kann für ein einzelnes Land kaum mehr als hundertfünfzig Millionen DM/Jahr ausmachen. Damit liegt der Mittelzufluß bei einem Bruchteil des Leistungsbilanzsaldos und ist gegenüber dem Bruttosozialprodukt vernachlässigbar.

    Entscheidend bleibt der effiziente Einsatz der Kapitalzuflüsse für die Modernisierung der Wirtschaft. Wäre er garantiert, so wäre allerdings die Hilfe auch schon so gut wie überflüssig; denn dann hätte das Land keine Schwierigkeiten, die entsprechenden Gelder auf den internationalen Kapitalmärkten zu erhalten. So hängt der Sinn der Hilfe davon ab, an der feinen Bruchlinie zwischen ineffizienter Alimentierung des alten Rentenstaates und der überflüssigen Zusatzfinanzierung einer erfolgreichen Modernisierungspolitik den Wechsel vom ersten zum zweiten zu bewirken.

    Aber die Finanzhilfen gehen an die Regierungen oder ihr untergeordnete offizielle Institutionen (Entwicklungsbanken, etc.), also an die Hochburgen des alten Systems. Nur eine enge Verwendungskontrolle könnte verhindern, daß sie ähnlich verschwendet werden wie viele andere Gelder vorher. Eine solche Kontrolle muß aber zwangsläufig die Konflikte mit den Empfängern verstärken. Sie setzt auch voraus, daß die Geber wirklich besser wissen, wie die Mittel verwandt werden sollen, als die eigenen Institutionen des Empfängerlands.

    Ein Politikdialog

    könnte helfen, diese Probleme zu lösen, indem er eine Übereinstimmung zwischen Gebern und Empfänger über die richtige Wirtschaftspolitik herstellt. Aber die vom liberalen ''Washington Consensus'' geprägten Geberphilosophien, die Erfahrungen der Strukturanpassungspolitiken und die erfolgreichen Modelle nachholender Modernisierung sind nur beschränkt miteinander verträglich. Selbst wenn eine ''richtige'' Politik zu identifizieren wäre, müßte sie politisch gegen die Interessen der Reformverlierer durchgesetzt werden.

    Die außenpolitische Lage macht es dabei besonders schwierig, unwillige Empfänger unter Druck zu setzen, vor allem wenn die Geber gleichzeitig mehr Respekt vor Menschenrechten und eine Austeritätspolitik durchsetzen wollen. Denn die nordafrikanischen Regierungen weisen - in einigen Fällen auch zurecht - darauf hin, daß mehr Freiräume für die Opposition bei gleichzeitiger Beendigung der Bedienung der regierungstreuen Klientele ein Rezept zur Stärkung des politischen Islam und zur Schwächung der prowestlichen Regime ist. Solange die Geber diese Logik akzeptieren und sie sich nicht zwischen Reforminteresse und Bündnistreue gegenüber den Eliten nicht entscheiden, sind ihnen die Hände gebunden.

    Die sektorale Kooperation

    muß ebenfalls versuchen, Gebiete und Projekte gemeinsamen Interesses zu finden. In Bereichen wie Umwelt, Verkehr und Energie mag das gelingen, wenn die Geber die Rechnung bezahlen und die Interessen der Empfänger zumindest neutral oder gar positiv sind. Aber auch hier gibt es Zielkonflikte, die eine gemeinsame Politik der EU und Nordafrikas erschweren.

    • Die Migrationspolitik weist ein offensichtliches Konfliktpotential auf: Nordafrika muß daran interessiert sein, daß seine jungen Arbeitslosen Gelegenheit haben, in Europa zu arbeiten und Teile ihres Einkommens zu retransferieren. Europa dagegen will seinen Arbeitsmarkt schützen. Demographische Gegentrends, die es nahelegen, die Überalterung durch zusätzliche Einwanderung zu bekämpfen, werden erst langfristig zum Tragen kommen.
    • In der Drogenpolitik verfolgt Europa (und der Westen allgemein) eine widersprüchliche Politik irrational differenzierter Prohibition: Alkohol und Nikotin sind schwach reguliert, viele Psychopharmaka legal und stark reguliert, Marihuana ist nur in Nischen legal, eine Fülle von Drogen unterschiedlicher Gefährlichkeit illegal. Diese Politik wird in einem sehr langsamen Prozeß reformiert und ist Dritten gegenüber schwer zu begründen. Andererseits bringt der illegale Drogenhandel Marokko höhere Deviseneinnahmen als die gesamte Auslandshilfe, die allerdings im Schwarzmarkt versickern. Eine in Europa politisch weitgehend tabuisierte Legalisierung könnte beiden Seiten große Vorteile bringen.
    • Beim Terrorismus fallen die Wahrnehmungen ebenfalls auseinander, selbst wenn man vom Sonderfall Libyen absieht, dem sogar die Unterstützung von antiwestlichen Terroristen vorgeworfen wird. Zwar gibt es eine naheliegende Kooperation gegen Terroristen und Organisationen, die Anschläge in Nordafrika und Europa, vorzugsweise gegen Europäer, verüben, wie es in Algerien und Ägypten der Fall war. Aber manches, das die Regierungen ''Terrorismus'' nennen, ist aus der Sicht der Opposition der letzte Ausweg aus einer Hilflosigkeit, die die Regierungen selbst durch die Blockade demokratischer Wege der Artikulation von oppositionellen Interessen provoziert haben. Auch bezeichnen autoritäre Regierungen gerne alle Oppositionellen als Terroristen, u.a. um Asylländer zu veranlassen, exilierten Regimegegnern den Schutz zu entziehen.

    Das Integrationsmodell der EU schreibt einerseits ihre jahrzehntealte Politik gegenüber den weniger entwickelten Nachbarregionen (Marktzugang, finanzielle und technische Hilfe) fort. Ihre Vorgänger konnten offensichtlich nicht verhindern, daß in Nordafrika Entwicklungen eintraten, die heute die EU beunruhigen. Andererseits setzt die EU in der Mittelmeerpolitik neue Akzente wie den beidseitigen Freihandel oder den Politikdialog und sektorale Kooperation. Beide gab es in den bisherigen Mittelmeerabkommen erst in Ansätzen; sie sind aber aus dem Lomé-Verhältnis schon bekannt, wenn auch nicht unbedingt für ihren Entwicklungserfolg. Die politisch-publizistische Verpackung für die ''neue'' Strategie, für die die EU allerdings nicht verantwortlich ist, überzeichnet die Gefahren und überfrachtet die mögliche konkrete Zusammenarbeit mit Ansprüchen und Erwartungen, die sie kaum erfüllen kann.

    Wenn man die öffentlich vorgetragenen europäischen Sorgen ernst nimmt, dann muß die Priorität der Reformen und damit der Kooperation im gesellschaftspolitischen Bereich liegen. Die ökonomische Entwicklung der Region dient zunächst der politischen und sozialen Stabilisierung. Aber sie ist auch im langfristigen wirtschaftlichen Interesse Europas. Der europäische Beitrag zur prioritären politischen Stabilität bedarf jedoch zunächst einer Entemotionalisierung der Debatte. Denn der Paranoia ist der erste Schritt zu einer überstürzten Politik, die an den Problemen Nordafrikas und vor allem an den Problemen Europas mit Nordafrika vorbeigeht.

  6. Die schwierige Modernisierung klientelistischer Rentenstaaten

    Die Strukturanpassungsprogramme der 80er Jahre haben in Marokko, Tunesien und - in geringerem Maß - in Ägypten dazu beigetragen, die makroökonomischen Ungleichgewichte zu verringern. Die Inflation, die Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite sowie die Auslandsverschuldung sanken bzw. bewegten sich in Bereiche, die langfristig zu finanzieren waren. Algerien begann erst spät mit härteren Maßnahmen, die deswegen bis jetzt kaum Ergebnisse zeigten. Libyen stand dank seiner besonderen Wirtschaftsstruktur weniger unter Druck, führte aber eigenständig eine Reihe von Stabilisierungspolitiken durch.

    Eine solide Geld- und Fiskalpolitik und realistische Wechselkurse schaffen monetäre Stabilität und Glaubwürdigkeit, wenn sie entschlossen von einer vertrauenswürdigen Regierung durchgeführt werden. In der Folge nimmt die Kapitalflucht ab und die Gastarbeiterüberweisungen nehmen zu. Die Überweisungen lagen bisher pro Emigrant im Maghreb niedriger als etwa in Portugal, was wahrscheinlich an dem geringeren Vertrauen in die Politik und Währung ihrer Heimatländer liegt. Eine vertrauenswürdige Währung benötigt niedrigere Zinsen zu ihrer Stabilisierung, was die Investitionen und das Wachstum erleichtert. Eine harte Währung muß allerdings längere Zeit durch Unterbewertung, selektiven Protektionismus, offensive Exportförderung, niedrige Löhne, harte Geld- und sparsame Haushaltspolitik erkämpft werden. Diese Politiken finden selten die Gegenliebe der Handelspartner. Europa muß hier zu Opfern bereit sein, wenn es die Stabilisierung Nordafrikas ernsthaft will.

    Die Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit der Wirtschaftspolitik hängen wesentlich vom politischen Standvermögen der Regierung ab. In der Vergangenheit hielten die nordafrikanischen Regierungen nur beschränkt den Druck aus, der als Reaktion auf Sparpolitiken, Liberalisierung und Abwertung auf sie in Form von Unruhen, Protesten oder direkter Beeinflussung innerhalb der Eliten zukam. Die schwache Legitimität der Regierungen stellt somit ein zentrales Problem der Stabilisierungspolitik dar. Die Regierungen stehen angesichts der Erosion ihrer Rentenbasis vor der schwierigen Aufgabe, sich eine neue Legitimität zu schaffen. Nach einer Übergangskrise könnte sich eine moderne, republikanische Legitimität entwickeln, die auf einem demokratisch kontrollierten, entwicklungsorientierten Einsatz vom Volk bewilligter und aufgebrachter Steuern beruht. Aber die Mächtigen müssen befürchten, daß sie nicht den Wechsel vom alten auf den neuen Stuhl schaffen.

    Nur in Marokko und Tunesien war das erfolgreiche Nachfragemanagement im Zuge der Strukturanpassungsprogramme von einer Angebotsverbesserung begleitet, die sich in wachsenden und zunehmend diversifizierten Exporten ausdrückte. Trotzdem stieg in allen Ländern (mit Ausnahme Libyens) die Arbeitslosigkeit deutlich an. Sparmaßnahmen drohen außerdem, nicht nur kurzfristig politische Probleme zu schaffen (z.B. bei Entlassungen im öffentlichen Sektor, Streichung der Nahrungsmittelsubventionen), sondern gefährden eventuell die langfristige Angebotskapazität der Wirtschaft im Fall von Kürzungen in Sektoren wie Erziehung, Gesundheit oder Infrastruktur.

    Die Vorschläge zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im Rahmen von Strukturanpassungsprogrammen beschränken sich meist auf indirekte Maßnahmen. Die Liberalisierung von Importen soll Kostendruck erzeugen und die Versorgung der Betriebe mit Inputs erleichtern, die Abwertung zur Exportproduktion anreizen, die Privatisierung die Effizienz von Staatsunternehmen erhöhen, die Deregulierung die Hürden bei der Aufnahme und dem Betrieb wirtschaftlicher Aktivitäten und bei Unternehmensgründungen abbauen. Wie weit die so geöffneten Freiräume genutzt werden, hängt aber davon ab, ob die potentiellen Unternehmer die nötigen Fähigkeiten und Ressourcen (Ausbildung, Kapital, Technologien, Marktkenntnisse etc.) haben bzw. erwerben können. Ein in der Regel großer informeller Sektor spricht zwar dafür, daß genügend Initiative da ist und die Deregulierung beabsichtigt auch, diese Aktivitäten zu legalisieren und damit das erfaßte Sozialprodukt und die Steuereinnahmen zu erhöhen. Aber vom Überleben in der Schattenwirtschaft ist es ein großer Schritt zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit.

    Liberalisierung erleichtert erfolgreiche Modernisierung nur dort, wo der Staat sie vorher behindert hat. Sie braucht jedoch nicht nur die Abwesenheit des blockierenden Staats, sondern auch die Zusammenarbeit mit einem öffentlichen Sektor, der komplementäre Inputs liefert, die der Privatsektor bzw. der Markt nicht anbieten können. Erst das fruchtbare Zusammenspiel von privaten und öffentlichen Einrichtungen der verschiedensten Ebenen (lokal, regional, national) schafft Standorte einer wettbewerbsfähigen Produktion.

    Effiziente Mikropolitiken können auch die negativen Nebenwirkungen stabilisierender Makropolitiken mehr als kompensieren: Gezielte Förderung der Primär- und Sekundärerziehung von Mädchen statt aufwendiger Universitäten, preiswerte Gesundheitserziehung und vorbeugende Medizin statt Großkliniken mit teurer Apparatemedizin sind nur einige Beispiele, bei denen weniger mehr bedeuten kann.

    Solche Ansätze müssen von unten her wachsen und entwickelt werden. Auch dazu müssen in den zentralistischen Staaten Nordafrikas Freiräume geöffnet werden. Dezentralisierung, kommunale Steuerhoheit (statt Abhängigkeit von zentralen Finanzzuweisungen) und lokale Demokratie erlauben es, konkret vor Ort Probleme anzupacken, private Unternehmen, gesellschaftliche Organisationen und kommunale Verwaltung zusammenzuführen, um sich gegenseitig zu stützen und zu kontrollieren. Die Kommune kann besser prüfen, ob Unternehmer ihnen eingeräumte Möglichkeiten und Ressourcen produktiv nutzen oder konsumptiv privatisieren. Es besteht allerdings auch die Gefahr, daß lokale Eliten ihre Verwaltungen bestechen. Aber die Bürger sind als kommunale Steuerzahler motiviert und können als Ortsansässige leichter kontrollieren, was die Verwaltung mit ihrem Geld anfängt. Gegenseitige Verstärkung von Leistung und Legitimität könnte den Staat von unten erneuern. Besonders die immer weiter wachsende städtische Jugend in ihrer Armut und Arbeitslosigkeit müßte dabei einbezogen werden.

    Auswärtige, zwischenstaatliche Hilfe tut sich naturgemäß schwer, die Feinstruktur lokaler Politiken zu entwickeln. Sie ist in der Regel auf Großprogramme der Zentralregierungen fixiert. Die Abhängigkeit von internationalen Kapitalzuflüssen hat sogar die Zentralisierung eher noch verstärkt, da die Regierungen die formalen Kreditnehmer sind und die ausländischen Gelder oft nach der Logik des alten Rentensystems verteilen. Der die Finanzhilfe begleitende Politikdialog könnte dagegen auf lokale politische Reformen drängen, die sich perspektivisch nach oben, also über die regionale auf die nationale Ebene, fortsetzen müssen. Direkter können die Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen oder Städtepartnerschaften versuchen, die kommunale Entwicklung zu unterstützen.

    Auf dem Land sind ebenfalls drastische Veränderungen nötig, um den Teufelskreis von hohem Bevölkerungswachstum, niedriger Produktivität und Armut zu unterbrechen, der Nordafrika zum Import von Nahrungsmitteln zwingt und die Migration weiter ankurbelt - zunächst vom Land in die Stadt und dann ins Ausland. Höhere Ankaufspreise für Agrarprodukte sind nur eine Rahmenbedingung für Modernisierung, die im Ergebnis Großbetriebe und die Übernahme von Flächen durch städtisches Kapital bevorzugt hat - mit der Folge zwar höherer Produktion, aber auch weiterer Verarmung und Landflucht. Es gibt wenig Ansätze, um der ländlichen Bevölkerung in größerer Zahl eine wirtschaftlich sinnvolle Existenz und Lebensperspektive zu bieten, etwa durch Bodenreform, besseren Zugang für Kleinbauern zu modernen Maschinen und Produktionsmethoden und den Aufbau ländlicher Industrie mit der Agrarproduktion vor- und nachgelagerten Aktivitäten. Gerade auf dem Lande würde eine bessere Erziehung vor allem der Mädchen und Gesundheitsfürsorge - allen Erfahrungen in anderen armen Ländern zufolge - am sichersten zur langfristigen Senkung der Geburtenrate beitragen.

  7. Nordafrika braucht Partnerschaft statt Paranoia

    Drei unverträgliche Komponenten zeichnen die Haltung Europas gegenüber Nordafrika in den letzten Monaten aus:

    1. eine unberechtigte Paranoia über den politischen Islam, den Terrorismus und die Migrationsbewegungen;
    2. ein Kraftakt symbolischer Politik, die sich um Begriffe wie Partnerschaft, Freihandel, Politikdialog etc. rankt und in dem Barcelonagipfel ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat;
    3. eine knauserige Realpolitik, die um jedes Kilo Tomaten- und Blumenimporte, um die Fischereirechte in Marokkos Gewässern und um ECU-Summen an Hilfegeldern streitet, die Bruchteile dessen betragen, was die Union ihren Großbauern an Subventionen zukommen läßt oder für Hundefutter ausgibt.

    Wie immer ist die Wahrheit besser an den Taten als an den Worten zu erkennen. Was an den Gefahren ernst zu nehmen ist, darum kümmern sich - oft mehr schlecht als recht - Polizei und Grenzbehörden. Legal kommen kaum noch Einwanderer aus Nordafrika nach Europa. Die Visa- und sonstigen Einreiseformalitäten sind erheblich verschärft und erschweren schon spürbar den Reiseverkehr, der notwendig ist, um all das aufrechtzuerhalten, was in den Sonntagsreden gefordert wird (Dialog, Partnerschaft, Kooperation, Handel).

    Schmerzliche Anpassungen dagegen, z.B. in der europäischen Fischerei- und Agrarpolitik, um Nordafrikas wirtschaftliche Entwicklung zu erleichtern, fallen gerade den EU-Mittelmeeranrainern am schwersten, obwohl sie sich am meisten von einer Dauerkrise in Nordafrika bedroht fühlen müßten. Sie treten zwar für höhere Hilfen ein, aber die kämen aus einem EU-Haushalt, zu dem sie netto wenig beitragen. Diese Dickfelligkeit angesichts der beschworenen Gefahren spricht dafür, daß nach dem politisch-publizistischen Sturm des Jahres 1995 wieder die Ruhe des diplomatisch-bürokratischen Alltags einkehren wird, in dem es um die Verhandlung und Verwaltung des nächsten Kredits, der letzten Importbeschränkung und der nächsten Fangquote geht.

    Eine realistische Nordafrikapolitik braucht eine klare Bestimmung der europäischen Interessen. Worum geht es ?

    1. Ist es eine Trockenübung in symbolischer Politik zur Beruhigung der Mittelmeermitgliedsstaaten der EU, die über den Nordosttrend der Union besorgt sind ?
    2. Ist Europa durch Migration und islamistische Extremisten aus Nordafrika bedroht ?
    3. Soll eine unterentwickelte Peripherie entwicklungspolitisch mittels einer Variante der Lomé-Verträge an Europa angebunden werden ?
    4. Soll eine für Europa wichtige Wirtschaftsregion (Energie, billige Arbeitskräfte) in eine neue Struktur internationaler Arbeitsteilung integriert werden ?
    5. Oder geht es um einen weiten außen- und sicherheitspolitischen Rahmen zur Strukturierung des südlichen Nachbarschaftsraumes, analog zum Ansatz der OSZE für Gesamteuropa, d.h. vor allem EU und östliche Nachbarn ?

    Offensichtlich schließen sich diese Ziele nicht gegenseitig aus. Einzelne Mitglieder, gesellschaftliche und politische Segmente der EU würden ihre eigenen Prioritäten innerhalb dieser Liste formulieren. Die konkrete EU-Politik ist eine verwaschene und gelegentlich inkonsistente Resultante dieser Kräfte. Das einzige Land, das eine klare Führungsrolle (vergleichbar der Deutschlands gegenüber Mittel- und Osteuropa) einnehmen könnte, wäre Frankreich, da Spanien und Italien an internen Führungskrisen leiden. Frankreichs Position ist aber durch seine problematische Algerienpolitik bestimmt.

    Der politische Dampf für die neue Politik der ''Partnerschaft Europa-Mittelmeer'' kommt aus den beiden ersten Interessenkomplexen (Gewichtsverlagerung in der Union und Bedrohungsperzeptionen), die die EU nur sehr untergeordnet anspricht. Trotzdem dürfte sie das erste Ziel mit ihrer neuen Politik erreichen. Daß die neue Politik an den europäischen Ängsten und ihren Anlässen wenig ändert, schadet kaum, da die Ängste weitgehend grundlos sind oder durch andere Maßnahmen, z.B. eine rigide Einwanderungspolitik, großteils erledigt haben. Der EU-Ansatz versucht überwiegend, die drei letzten Ziele abzudecken. Die dafür notwendige Mitarbeit der Partner auf dem anderen Ufer des Mittelmeers ist aber noch nicht gesichert.

    Eine langfristige Stabilisierung und Entwicklung Nordafrikas bedarf aber anderer Akzente in der Zusammenarbeit. Ohne die Probleme in Nordafrika zu verharmlosen, sollte die EU die positiven Entwicklungen mehr würdigen und die Nutzen für Europa in den Vordergrund stellen. Demokratisierung und Wirtschaftsreformen haben in der Region - vor allem in Marokko und Tunesien - unzweifelhaft Fortschritte gemacht, auch wenn sie noch weit davon entfernt sind, europäischen Vorstellungen zu entsprechen. Algerien hat aufgrund seiner Rohstoffausstattung gute Chancen, nach Beendigung seines Bürgerkriegs dank einer Reihe von Reformen wirtschaftlich wieder auf die Füße zu kommen. Libyen ist eines der stabileren Länder Nordafrikas und könnte als relativ reiches, aber bevölkerungsarmes Land einen wichtigen Beitrag zur regionalen Entwicklung leisten. Ägypten weist wohl die am tiefsten sitzenden Probleme auf und bedarf am dringlichsten weiterer wirtschaftlicher Reformen und sozialer Hilfe. Die ganze Region bleibt außerdem als Energielieferant ein wichtiger Wirtschaftspartner für die EU, auch wenn seine Bedeutung als Teil eines größeren Produktionsverbunds noch länger auf sich warten lassen wird.

    Angesichts der Schwierigkeit, innere Entwicklungen von außen zu beeinflussen, sollte Europa bei sich selbst anfangen:

    • Strukturpolitisch sollte die EU aktiv den Abbau jener Produktionen fördern, in denen die EU nur durch dauerhafte künstliche Schutzmaßnahmen wettbewerbsfähig bleiben kann. Sie sollten durch billigere Importe aus den Nachbarregionen ersetzt werden. Ein mittelfristiger Liberalisierungsfahrplan sollte den betroffenen europäischen Produzenten und den potentiellen Anbietern in den Nachbarländern (auch europäischen Investoren) berechenbare Entscheidungsgrundlagen für die Anpassung an eine künftige Arbeitsteilung geben. Eine derartige Klarheit würde auch allen Ansätzen für regionale Kooperation (UMA bzw. CEFTA in MOE) gut tun, die u.a. daran kranken, daß für alle Beteiligten der europäische Markt wichtiger ist als der regionale ist.
    • Eine Liberalisierung der tabuisierten Drogenpolitik, insbesondere eine Legalisierung von Cannabis, würde Nordafrika neue legale Exportchancen einräumen sowie Einkommen in den armen Landregionen und im Staatshaushalt statt bei Drogenhändlern schaffen.
    • Angesichts der vorhandenen Angebotsschwäche der nordafrikanischen Ökonomien wird der Nutzen einer Handelsliberalisierung beschränkt bleiben. Ihr muß eine Politik für Investitionen und Migration folgen, die die Bedingungen für europäische Investoren und nordafrikanische Migranten klärt und deren Entwicklungsbeitrag optimiert.
    • Die EU muß eine Einwanderungspolitik formulieren, die einerseits die politische und soziale Aufnahmefähigkeit der Mitgliedsländer realistisch einschätzt. Sie sollte andererseits auch den möglichen Bedarf an Einwanderung angesichts der demographischen Entwicklung in der EU berücksichtigen, den viele Experten für Rentenversicherungsfragen auf Millionenhöhe schätzen, wobei sie allerdings die unrealistische Existenz entsprechend vieler sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze unterstellen.
    • Dabei muß die EU die Interessen Mittel- und Osteuropas und Nordafrikas gegeneinander abwägen. Diese Interessenabwägung ist letztlich eine Abwägung zwischen den Interessen des Nordostens und des Südwestens der Union, da sie jeweils am stärksten von einer neuen Arbeitsteilung mit den unmittelbaren Nachbarn profitieren werden.
    • Die EU muß ihre Aufklärungsarbeit gegen Rassismus und Fremdenhaß, insbesondere gegen Araber und gegen den Islam, verstärken. Dazu zählt auch eine Aufarbeitung der eigenen kolonialen Vergangenheit.
    • Die EU sollte möglichst rasch Libyen aus der außenpolitischen Isolation befreien, die der dortigen Führung eher Vorwände zur Verzögerung von Reformen bietet und verhindert, daß das Land seine komplementären Vorteile in die regionale Kooperation einbringt.

    Die offensichtliche politische Aussichtslosigkeit der meisten dieser Vorschläge beweist, wie tief unten in der Prioritätenskala der europäischen Politik die soziale Entwicklung Nordafrikas mit seinem relativ bescheidenen Markt und Wachstumspotential liegt. Die Mittelmeerpolitik der EU muß und sollte sich daher auf die Probleme und Instrumente konzentrieren, die mit angemessenem Aufwand sichtbare Lösungsfortschritte versprechen. Weder eine rasche Handelsliberalisierung noch Großkredite zählen zu dieser Kategorie. Statt dessen sollte sich die EU mit bescheidenen Projekten um die für sie wichtigen Sorgenbereiche kümmern:

    • Erziehung und Ausbildung nehmen dabei eine zentrale Position ein. Sie sollten vor allem Mädchen und Frauen mit erfassen, was nach allen Erfahrungen auch der beste Weg zur Bevölkerungskontrolle ist. Sie sollten sich im Sekundarbereich darauf konzentrieren, die Jugendlichen möglichst in die Lage zu versetzen, einen Arbeitsplatz zu finden oder eine eigene Wirtschaftstätigkeit aufzunehmen.
    • Diese Existenzgründungen wären durch Kleinkredite zu fördern, die von lokalen Gruppen verwaltet werden, die die Geschäftsvorhaben bewerten und mithaften. Der europäische Beitrag kann dabei nur eine Kofinanzierung sein, die nationale Programme ergänzt oder durch voll finanzierte Pilotprojekte Vorbilder für lokale Initiativen bietet.
    • Lokale Demokratisierung und Wirtschaftsentwicklung könnten den notwendigen Wandel langsam von unten einleiten, ohne sofort die zentralen Eliten so sehr zu bedrohen, daß sie ihn blockieren.
    • Der gesellschaftspolitische Dialog unterhalb der Regierungsebene sollte vor allem mit den reformorientierten Gruppen, aber auch mit den Vertretern des politischen Islam geführt werden.
    • In vielen Feldern gemeinsamen Interesses wie Umwelt, Energie, Tourismus, Drogenpolitik und Terrorismus sollten beide Seiten vorurteilsfrei versuchen, Lösungen zum beiderseitigen Nutzen zu finden, die zur Erreichung der übergeordneten Ziele (dauerhafte Stabilität und Entwicklung) beitragen.

    Die EU und die bilaterale Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten arbeiten auf diesen Gebieten. Ob diese wenig spektakuläre Tätigkeit noch einer grandiosen Überwölbung durch eine ''Europäisch-Mediterrane Zone für Frieden und Stabilität'' bedarf, ist zweifelhaft. Dieses Globalkonzept zielt auf eine sehr differenzierte Gesamtregion, die sich wenig für globale Gleichmacherei eignet. Selbst die Teilregion Nordafrika muß schon länderspezifisch betrachtet und behandelt werden. Um so mehr gilt dies für einen Raum, der sich von der Türkei über Palästina und Bosnien bis nach Marokko erstreckt. Die wenigsten Probleme betreffen die gesamte Region. So hätte es z.B. wenig Sinn, den Maghreb mit der Kurdenfrage zu befassen.

    Aber die Logik europäischer Politikformulierung zieht eine aufwendig inszenierte Euromediterrane Partnerschaft substantiellen Kooperationsschritten vor. Sie schließt eine Reihe sinnvoller Maßnahmen allerdings auch nicht aus. Nordafrikas Arme und Demokraten müssen sich mit der beschränkten Unterstützung abfinden, die in diesem Rahmen für sie abfällt.


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