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TEILDOKUMENT:

Heinrich August Winkler:
Deutschland, Europa und der Westen

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Heinrich August Winkler

Deutschland, Europa und der Westen
Versuch einer Ortsbestimmung

Krisen können die Erkenntnis fördern. Politische Krisen zwingen zum Nachdenken über die tieferen Ursachen eines Zusammenpralls von Positionen, die sich als so gegensätzlich erwiesen haben, dass ein befriedigender Ausgleich nicht mehr möglich war. Das gilt auch für die Krise des europäischen Einigungsprozesses, die durch das vorläufige Scheitern einer Verfassung der Europäischen Union sichtbar gemacht worden ist.

Der Fehlschlag des Brüsseler Gipfels am 13. Dezember 2003 wirft ein Schlaglicht auf einen Konflikt zwischen zwei Zielen der Europäischen Union: der Erweiterung und der Vertiefung. Kein Land hat so hartnäckig wie Deutschland darauf hingearbeitet, beide Ziele gleichzeitig zu erreichen. Deswegen ist die Enttäuschung über den Brüsseler Eklat in der ,,politischen Klasse" der Bundesrepublik wohl auch stärker als in vielen anderen Staaten der EU. Deutschland hatte ein besonderes Interesse daran, dass seine Ostgrenze nicht lange die Ostgrenze der Gemeinschaft blieb, und sich schon darum für eine rasche Aufnahme Polens und Tschechiens, aber auch der anderen ostmitteleuropäischen Demokratien in die EU, also für die Osterweiterung von 2004, eingesetzt. Deutschland war von Anfang an bereit, seine 1990 wiedergewonnene volle Souveränität teilweise mit anderen gemeinsam auszuüben oder auf die Union zu übertragen. Das war und ist die Quintessenz dessen, was man als Prozess ,,Vertiefung" und als Zustand ,,Politische Union" nennt.

In vielen Mitgliedstaaten ist die Bereitschaft zum Souveränitätsverzicht deutlich geringer ausgeprägt als in Deutschland, am geringsten wohl bei einigen der neuen Mitglieder, die bis zur Epochenwende von 1989/91 kommunistisch regiert wurden und über vier Jahrzehnte lang nur einen Schein von Souveränität genossen

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haben (manche nicht einmal das). In Polen, dem Hauptopfer des Zweiten Weltkriegs unter den Beitrittsstaaten, kommt dazu noch die allgegenwärtige Erinnerung an die lange, über ein Jahrhundert währende Zeit, in der das Land seiner Staatlichkeit und nationalen Selbstbestimmung durch die drei Teilungsmächte Russland, Österreich und Preußen beraubt war. Doch nicht nur bei den neuen Mitgliedern steht die Souveränität hoch im Kurs. Auch in den alten Nationalstaaten des Westens, obenan Großbritannien und Spanien, ist die Neigung zur Weiterentwicklung der EU in Richtung einer Politischen Union sehr viel schwächer als in Deutschland.

Auf den Kunsthistoriker Wilhelm Pinder geht der Begriff der ,,Ungleichzeitigkeit" zurück, der das zeitliche Nebeneinander unterschiedlicher Stilepochen bezeichnen soll. Diesen Begriff kann man auch auf die Vorstellungen von der Finalität des europäischen Einigungsprozesses übertragen. Sie waren schon unter den bisherigen Mitgliedern sehr unterschiedlich. Im Zuge der Erweiterung gehen diese Perspektiven noch sehr viel weiter auseinander als in der Vergangenheit. ,,Renationalisierung" ist der Begriff, der sich aufdrängt, wenn man den derzeitigen Zustand der EU betrachtet.

Die historisch bedingte Ungleichzeitigkeit der Vorstellungen von Zweck und Ziel der europäischen Einigung als Tatsache anzuerkennen heißt die Harmonisierbarkeit der Ziele Erweiterung und Vertiefung nüchterner als bisher zu sehen. Eine solche Ernüchterung würde einen Zuwachs an Wirklichkeitssinn bedeuten, der sein Gegenstück Robert Musil zufolge immer im Möglichkeitssinn hat. Daraus könnte die Diskussion über künftige Erweiterungen und die Grenzen der Erweiterbarkeit Nutzen ziehen. Zunächst aber müssen sich die Deutschen fragen, warum sie die Schwierigkeiten des Versuchs, die Ziele Erweiterung und Vertiefung in Übereinstimmung zu bringen, unterschätzt haben.

Die deutschen Illusionen über eine Konvergenz von Erweiterung und Vertiefung haben mit zwei anderen, eng miteinander verbundenen deutschen Illusionen zu tun: der ,,föderalistischen"

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und der ,,postnationalen" Illusion. Die alte Bundesrepublik ist stillschweigend davon ausgegangen, dass sich ihr bundesstaatlicher Aufbau sinngemäß auf das europäische Einigungswerk übertragen ließe. Daran orientiert sich auch noch die Rede von Bundesaußenminister Joschka Fischer vor der Humboldt-Universität zu Berlin vom 12. Mai 2000. Das Ziel hieß: ,,Übergang vom Staatenverbund hin zur vollen Parlamentarisierung in einer Europäischen Föderation, die Robert Schuman bereits vor fünfzig Jahren gefordert hat. Und das heißt nichts Geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetzgebende und die exekutive Gewalt innerhalb der Föderation ausüben. Diese Föderation wird sich auf einen Verfassungsvertrag zu gründen haben."

Der Wille, den bestehenden Staatenverbund (ein vom Bundesverfassungsgericht in seinem Maastricht-Urteil von 1993 geprägter, kaum in andere Sprachen übersetzbarer Begriff) in eine Föderation zu verwandeln, sollte also dem Verfassungsvertrag vorausgehen. Tatsächlich hat es eine solche Grundsatzentscheidung nie gegeben, und es konnte sie nach Lage der Dinge nicht geben. In Großbritannien und Frankreich vermochte (und vermag) sich niemand vorzustellen, dass der britische oder französische Nationalstaat einmal auf den Status eines europäischen Bundeslandes herabsinken könnte, dass London oder Paris gegenüber Brüssel als Hauptstadt einer Europäischen Föderation irgendwann einen ähnlichen Status haben würden wie heute München oder Düsseldorf gegenüber Berlin.

Das föderalistische Deutschland konnte also für seine föderalistische Europavision unter den großen, mehr oder minder zentral regierten Nationalstaaten keine Verbündeten finden. Der Verwandlung des Staatenverbundes in eine Föderation fehlte folglich die wichtigste Voraussetzung: der Wille zum qualitativen Sprung. Daher konnte der Verfassungsvertrag nur ein sehr viel bescheideneres Ziel anstreben als das von Fischer skizzierte. Es war theoretisch möglich, den Staatenverbund leistungsfähiger, in seinen Zu-

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ständigkeiten, seiner inneren Kompetenzverteilung, seinen Entscheidungsprozessen transparenter zu machen, die Rechte des demokratisch legitimierten Europäischen Parlaments zu erweitern und die Europäische Kommission, das wichtigste supranationale Organ der EU, gegenüber dem intergouvernementalen Organ, dem Europäischen Rat, zu stärken. Was der Konvent im Juni 2003 vorlegte, blieb zwar hinter den Erwartungen der integrationsfreundlichen Kräfte zurück, wurde aber doch nahezu allgemein und zu Recht als großer Fortschritt bewertet.

Die andere deutsche Illusion, die postnationale, bedarf einer etwas ausführlicheren Erörterung. Den Begriff ,,postnational" hat der Bonner Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher 1976 in die Debatte eingeführt, und zwar in Gestalt einer Charakterisierung der Bundesrepublik als ,,postnationale Demokratie unter Nationalstaaten". Bracher wollte damit eine Besonderheit benennen, durch die sich die alte Bundesrepublik von den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und des Atlantischen Bündnisses unterschied. Der neuen Bundesrepublik, dem wiedervereinigten Deutschland, fehlt diese Besonderheit. Sie ist ein postklassischer demokratischer Nationalstaat wie die anderen Mitglieder der Europäischen Union auch - postklassisch wegen der festen Einbindung in ebendiesen supranationalen Staatenverbund und der damit verknüpften Bereitschaft, Souveränität nicht mehr im Sinn der klassischen Nationalstaaten der Vergangenheit auszuüben.

Doch Begriffe können sich aus ihren ursprünglichen Bedeutungszusammenhängen lösen und eine Eigendynamik entwickeln, sich also verselbständigen. Jürgen Habermas veröffentlichte 1998 seine Essaysammlung ,,Die postnationale Konstellation". Der Aufsatz, der dem Band den Titel gab, handelte von der allgemeinen Notwendigkeit, ,,für den demokratischen Prozess geeignete Formen auch jenseits des Nationalstaates zu finden". Der Essay mündete in ein Plädoyer, in der Europäischen Union die ,,erste Gestalt einer postnationalen Demokratie" zu sehen und sie zu

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einem Bundesstaat auszubauen, wobei sich Habermas ganz ausdrücklich am Modell der Bundesrepublik orientierte.

Der Gedanke einer besonderen europäischen Berufung Deutschlands, gegen den Fischer wie Habermas sich gewiss verwahren würden und der doch bei beiden unüberhörbar anklingt, war ursprünglich durchaus keine ,,linke" Denkfigur gewesen. Schon bald nach dem Untergang des ,,Dritten Reiches" hatten katholische Konservative die Idee vertreten, die Einigung Europas liege ganz auf der Linie der älteren und besseren Traditionen Deutschlands; sie sei das übernationale Vermächtnis des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. So erklärte etwa der CDU-Abgeordnete Adolf Süsterhenn am 20. Oktober 1948 im Parlamentarischen Rat, der Begriff ,,Reich", wie er tausend Jahre lang in der deutschen Geschichte gelebt habe, sei die Bezeichnung für das christliche Abendland gewesen; in die Sprache der gegenwärtigen Politik übertragen, müsste man das, ,,was man damals Reich nannte, heute europäische Union oder europäische Föderation nennen".

Erst sehr viel später, in den achtziger Jahren, wanderte der Gedanke einer besonderen europäischen Sendung der Deutschen in die Sozialdemokratie ein - jetzt freilich ohne Bezugnahme auf das Alte Reich. Der Höhepunkt der linken Aneignung war erreicht, als Oskar Lafontaine 1988 in seinem Buch ,,Die Gesellschaft der Zukunft" das fast schon theologisch anmutende Postulat aufstellte, gerade weil die Deutschen ,,mit einem pervertierten Nationalismus schrecklichste Erfahrungen" gemacht hätten, seien sie nun ,,geradezu prädestiniert, die treibende Rolle im Prozess der supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen". Prädestination kraft Perversion: Das erinnert an die frühchristliche Idee der ,,felix culpa", einer heilbringenden Schuld.

Außerhalb der Bundesrepublik fand die Botschaft vom europäischen Beruf der Deutschen nur wenig Anklang. Sie rief eher Misstrauen hervor. Die Deutschen hatten ihren Nationalstaat, das von

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Bismarck im Jahre 1871 gegründete Deutsche Reich, ruiniert: Das war nicht zu bestreiten. Aber durften sie deshalb den Nationalstaat schlechthin für überholt erklären und ihren Nachbarn eine postnationale Identität ansinnen? Und hatten sie nicht auch schon früher, unter ganz anderen politischen Vorzeichen, die staatliche und nationale Eigenständigkeit vieler europäischer Völker ihrem, dem deutschen Anspruch untergeordnet, die europäische Ordnungsmacht zu sein?

Dass die klassischen souveränen Nationalstaaten, in Europa jedenfalls, der Vergangenheit angehören, dass nur die postklassischen, zur supranationalen Zusammenarbeit bereiten Nationalstaaten eine Chance haben, die großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft zu meistern: das ist unter aufgeklärten Europäern im Prinzip nicht mehr umstritten. Die Europäische Union will die Nationalstaaten nicht überwinden, sondern überwölben. Das vereinte Europa wird nicht gegen die Nationen und ihre Nationalstaaten gebaut, sondern mit ihnen und durch sie. Von dem Mittelalterhistoriker Hermann Heimpel stammt das Wort: ,,Dass es Nationen gibt, ist historisch das Europäische an Europa." Vielleicht sollte man etwas weniger apodiktisch formulieren: Dass es Nationen gibt, ist eines der historischen Merkmale Europas. In jedem Fall empfiehlt es sich, auf den Schein teleologischer Gewissheit zu verzichten, der in dem Begriff ,,postnational" steckt. Die Nationen sind kein abgeschlossenes Kapitel der europäischen Geschichte. Die Vielfalt der Nationen und ihrer Sprachen ist ein Ausdruck des europäischen Pluralismus, ohne den die Einheit Europas nicht gedacht werden kann.

Das ,,postnationale" Selbstverständnis, wie es die alte Bundesrepublik in den achtziger Jahren hervorgebracht hat, war eine sublime Variante des Wunsches nach einem Schlussstrich unter die bisherige deutsche Geschichte. Nach 1990 ist es vollends zum ,,falschen Bewusstsein" im Sinne von Marx geworden. Es steht der Anerkennung einer Wirklichkeit entgegen, an der sich die Europapolitik abarbeiten muss. Ähnlich steht es um den (meist unausge-

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sprochenen) Wunsch, das föderalistische ,,Modell Deutschland" auf Europa zu übertragen. Es widerspricht dem politischen Selbstverständnis Großbritanniens und Frankreichs, inzwischen aber auch der von der europäischen Rhetorik deutlich abweichenden Praxis der deutschen Politik so sehr, dass es unrealistisch wäre, an der ,,Föderation" als Finalität des Einigungsprozesses festzuhalten. Jedenfalls gilt das für die von Joschka Fischer im Mai 2000 anvisierte ,,Föderation". Etwas anderes ist die von Jacques Delors als erstem konzipierte ,,Fédération d´Etats-nations", die mit deutschen Vorstellungen von Föderalismus freilich wenig gemein hat.

,,Vertiefung" kann folglich auf absehbare Zeit nur Ausgestaltung des Staatenverbundes im Sinne der Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen im Rat und stärkere Berücksichtigung des Demokratieprinzips bedeuten. Das Letztere verlangt die Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments und die Einführung des Grundsatzes der doppelten Mehrheit bei Mehrheitsabstimmungen im Rat: Mehrheit der Staaten und Mehrheit der Unionsbürgerschaft. Wenn dieser Kerngedanke des Verfassungsvertrages nicht verwirklicht wird und stattdessen der Vertrag von Nizza zeitlich unbegrenzt in Kraft bleibt, kann die EU die Aufnahme der zehn Staaten, die ihr am 1. Mai 2004 beitreten werden, institutionell nicht mehr bewältigen (von der Aufnahme weiterer Beitrittskandidaten ganz zu schweigen).

Die vorhersehbaren Folgen wären die Rückverwandlung der Union in eine Wirtschaftsgemeinschaft und die Herausbildung eines engeren Kreises von Staaten, die zu mehr Zusammenarbeit bereit sind. Bliebe dieser Kreis auf westeuropäische Staaten beschränkt, käme das einer neuen West-Ost-Spaltung gleich. Eine ,,Föderation" im Sinne Fischers würde aber auch eine solche ,,Avantgarde" oder ,,Pioniergruppe" nicht sein, wie denn die institutionelle Gestalt eines solchen ,,Kerneuropa" einstweilen völlig unklar ist.

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Eine konstruktive Alternative zum Inkrafttreten der Verfassung ist daher nicht in Sicht. Solange zwei Staaten, Polen und Spanien, die Verfassung blockieren und ein dritter, Großbritannien, sich in der Frage ,,Europäische Verfassung oder Fortbestand des Vertrages von Nizza" für neutral erklärt, deutet mehr in Richtung Erosion als in Richtung Integration. Wenn London seine Position korrigiert und sich zum Anwalt des Konventsentwurfs macht, dürften sich auch die Positionen der Vetoländer ändern. Es bedarf also zuallererst eines Perspektivenwechsels in Großbritannien, damit die Arbeit des Konvents für Europa fruchtbar werden kann.

Die Osterweiterung der Europäischen Union, die räumliche Vollendung des Einigungswerkes, war und bleibt historisch notwendig. Aber es hat sich als historischer Fehler erwiesen, dass die Erweiterung der Vertiefung des Einigungsprozesses vorausgegangen ist. Dieser Fehler wäre wohl vermieden worden, wenn die Bundesrepublik unter Helmut Kohl am Junktim von Währungs- und Politischer Union hätte festhalten können. Das aber war 1990 nicht möglich, da der französische Staatspräsident François Mitterrand sonst schwerlich die Wiedervereinigung Deutschlands so unterstützt hätte, wie er es schließlich tat. Doch die zeitliche Entkoppelung von Währungs- und Politischer Union vermag nicht zu begründen, warum den ostmitteleuropäischen Beitrittsbewerbern nicht rechtzeitig, also vor der Verleihung des Kandidatenstatus, erklärt worden ist, dass die EU etwas qualitativ Anderes ist als die alte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, nämlich eine Politische Union im Werden, und dass Beitritt die Bereitschaft zu weitgehenden Souveränitätsverzichten voraussetzt.

Diese Bedingung wurde nicht klar und verbindlich ausgesprochen, weil sich die Mitglieder der alten EU ihrerseits über das Ziel der Politischen Union nicht einig waren. Einige, wie Großbritannien, wollten sie nicht wirklich, andere, darunter Deutschland, wollten sie zwar, gaben sich aber im Hinblick auf das Verhältnis von Erweiterung und Vertiefung bequemem Wunschdenken hin. Nachdem die Folgen des Versäumnisses im Dezember 2003 sicht-

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bar geworden sind, hätte man so etwas wie eine Phase des selbstkritischen Nachdenkens oder, anglo-amerikanisch ausgedrückt, eines ,,agonizing reapraisal", in Sachen künftiger Erweiterungen erwarten können. Doch davon ist bis jetzt wenig zu spüren. Hinsichtlich der südosteuropäischen Staaten, ob sie den Kandidatenstatus schon haben oder noch nicht, gilt bei der EU offenbar die Parole ,,Weiter so". Dasselbe trifft für den noch ungleich schwierigeren Fall Türkei zu. Maßgeblich für einen Beitritt bleiben die ,,Kopenhagener Kriterien" von 1993. Von einer Politischen Union ist in diesem Bedingungskatalog aber nicht ausdrücklich die Rede.

Es wäre allzu billig, nur die ,,Brüsseler Technokraten" oder die Regierungen der Mitgliedstaaten für die Krise verantwortlich zu machen, in der der europäische Einigungsprozess steckt. Es ist höchste Zeit für eine Selbstkritik der europäischen Intellektuellen. Sie haben es in ihrer überwältigenden Mehrheit am Nachdenken über die historischen und normativen Grundlagen des Projekts Europa fehlen lassen. In der alten Bundesrepublik war ,,Europa", in Wirklichkeit jedoch nur Westeuropa, in den Jahrzehnten nach 1945 so etwas wie ein Ersatzvaterland geworden. Als sich im Spätherbst 1989 die Möglichkeit einer Wiedervereinigung Deutschlands abzuzeichnen begann, hielten viele Intellektuelle und Politiker auf der Linken des politischen Spektrums die Schaffung eines neuen deutschen Nationalstaates für die ,,falsche" Wiedervereinigung oder doch für die Vereinigung, mit der man warten müsse, bis Europa vereinigt sei. (Der Ehrlichkeit halber füge ich hinzu: Bis zum Januar 1990 habe ich ähnlich argumentiert.) Als die deutsche Frage durch die Wiedervereinigung vom 3. Oktober 1990 gelöst war (und zeitgleich mit ihr, infolge der endgültigen Anerkennung der deutschen Ostgrenze an Oder und Neiße, die polnische Frage), hörte man nicht mehr viel von konzeptionellen Überlegungen über das Zusammenwachsen der lange getrennten Teile Europas, dafür aber umso mehr über die Notwendigkeit einer Weltbürgergesellschaft. Das Überspringen von Wirklichkeitsebenen ist seit jeher eine intellektuelle Versuchung, und in Deutschland scheint sie besonders stark ausgeprägt.

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Wenn aus der Krise der europäischen Einigung etwas Positives hervorgehen soll, müsste der Fehlschlag des Verfassungsprojekts jene Grundlagendiskussion auslösen, die seit 1990 überfällig ist. Bislang war kaum je die Rede davon, dass die acht ostmitteleuropäischen Staaten, die am 1. Mai 2004 der EU beitreten und die bis zur Epochenwende von 1989/91 kommunistisch regiert wurden, allesamt zum historischen Okzident gehören. Der europäische Okzident ist der Teil des Kontinents, in dem die Urform der Gewaltenteilung, die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, bereits im hohen Mittelalter stattgefunden hat. Im orthodox geprägten Osten und Südosten hat es eine vergleichbar klare Gewaltenteilung nicht gegeben, und diese Differenz, der alte Gegensatz zwischen Rom und Byzanz, wirkt bis heute nach.

Nicht, dass es eine gradlinige Entwicklung von der Trennungslinie zwischen ,,regnum" (beziehungsweise ,,imperium") und ,,sacerdotium" hin zur modernen Teilung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt im Sinne von Montesquieu gegeben hätte (man denke nur an die Festigung der Obrigkeiten durch das lutherische Staatskirchentum in Deutschland). Aber Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus und Individualismus konnten sich in Gesellschaften, in denen geistliche und weltliche Gewalt frühzeitig auseinander getreten waren, leichter entfalten als in Gesellschaften, in denen die geistliche Gewalt einer (ihrerseits unkontrollierten) weltlichen Gewalt untergeordnet blieb. Dafür gibt es eine sozialgeschichtliche Erklärung: Der wichtigste gesellschaftliche Träger des westlichen Modernisierungsprozesses war das Bürgertum. Es konnte sich nur dort frei entwickeln, wo schon im Mittelalter der Satz ,,Stadtluft macht frei" galt, und das war lediglich im historischen Okzident der Fall. Die Städte nahmen dasselbe, dem römischen Recht entstammende Institut der ,,Immunität" in Anspruch wie zuvor schon die Kirche.

Wenn wir von europäischem Selbstverständnis sprechen, meinen wir unwillkürlich das des alten Okzidents. Er war und ist nicht

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nur durch gemeinsame Stilepochen in der sakralen und weltlichen Architektur, in der Malerei und der Musik geprägt, sondern auch durch eine weithin gemeinsame Rechtskultur, die zwei ihrer wichtigsten Wurzeln im Kirchenrecht und in der Rezeption des römischen Rechts hat (das englische Common Law ist die große Ausnahme, die einer einheitlichen europäischen Rechtspolitik eine historisch bedingte Grenze setzt). Ohne diese europäische Rechtskultur gäbe es nicht das, was wir die politische Kultur des Westens nennen. Sie trägt bis heute den Stempel von drei großen Revolutionen: der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, der amerikanischen und der französischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts. Die allgemeinen, unveräußerlichen Menschenrechte, die erstmals in den ,,Bills of rights" einiger nordamerikanischer Kolonien der britischen Krone eingefordert wurden und von dort ihren Weg nach Frankreich und damit nach Europa fanden, sind mittlerweile zu einem weltweit erhobenen Postulat geworden. Aber es hat lange gedauert, bis sie auch nur im gesamten historischen Okzident anerkannt waren.

In Deutschland gab es bis weit in das 20. Jahrhundert hinein massive Vorbehalte gegenüber den Ideen der westlichen Demokratie. Der Erste Weltkrieg wurde von deutscher Seite ideologisch als Kampf der ,,Ideen von 1914" gegen die ,,Ideen von 1789" geführt: als historische Auseinandersetzung der machtgeschützten Kultur der deutschen Innerlichkeit mit der angeblich materialistischen Zivilisation des demokratischen Westens. Freiheitliche Traditionen fehlten in Deutschland durchaus nicht; ohne sie hätte es nie eine Weimarer Republik gegeben. Aber in weiten Kreisen der deutschen Gesellschaft, und vor allem in den adligen und bürgerlichen Eliten, galt die Demokratie nach 1918 als Staatsform der Siegermächte und daher als undeutsch: ein Ressentiment, dessen sich Hitler virtuos zu bedienen wusste. Freilich konnte er auch an eine demokratische Errungenschaft anknüpfen, die unter den halbautoritären Präsidialkabinetten seit 1930 weitgehend um ihre politische Wirkung gebracht wurde: den aus Bismarcks Zeiten stammenden Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen

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Reichstagswahlrechts, das zunächst nur für die Männer galt, 1919 aber auf die Frauen ausgedehnt worden war.

Es bedurfte der ,,deutschen Katastrophe" der Jahre 1933 bis 1945, um das zuwege zu bringen, was Jürgen Habermas 1986, anlässlich des ,,Historikerstreits" über die Einzigartigkeit des nationalsozialistischen Judenmordes, als die größte intellektuelle Leistung der westdeutschen Nachkriegszeit bezeichnet hat: ,,die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens". Und erst am 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung, konnte der damalige Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, beim Festakt in der Berliner Philharmonie die Feststellung treffen: ,,Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet."

Die politische Kultur des Westens als einigendes Band eines vereinten Europa: Im Prinzip würden dem alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union zustimmen. In der Praxis gibt es, was die demokratische Kultur betrifft, nicht nur bei einigen der neuen, sondern auch bei manchen alten Mitgliedern der EU Defizite, die europaweit diskutiert werden müssen. Eine europäische Öffentlichkeit aber gibt es noch nicht oder allenfalls in ersten Umrissen. Dass dem so ist, kann nicht nur ,,der Politik", einem in seiner Anonymität schwer greifbaren kollektiven Akteur, angelastet werden. Die Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit ist in erster Linie die Aufgabe der Intellektuellen. Ohne europäische Öffentlichkeit kann eine europäische Verfassung über den Rang eines Organisationsstatuts nicht wesentlich hinausgelangen; auch ein Grundrechtsteil wird sie davor nicht bewahren. Ein verbessertes Organisationsstatut ist für die EU von größter Bedeutung. Aber als Grundlage eines europäischen ,,Verfassungspatriotismus" reicht es nicht aus.

Eine europäische Öffentlichkeit wird nur entstehen, wenn sich in Europa ein Bewusstsein der gemeinsamen Erfahrungen und

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Prägungen herausbildet. Im Zusammenhang mit dem Verfassungsentwurf des Konvents gab es eine, von den Intellektuellen so gut wie gar nicht aufgegriffene oder gar vorangetriebene Kontroverse über das Pro und Contra einer Berufung auf die christlichen Traditionen Europas. Wer einen ausdrücklichen Hinweis auf das Christentum in der Präambel ablehnt, pflegt die Trennung von Staat und Religion als Merkmal des modernen demokratischen Staats dagegen in Stellung zu bringen. Aber eben diese Errungenschaft ist ohne den Rekurs auf das jüdisch-christliche und das antike Erbe gar nicht zu erklären.

Der Trennung von Staat und Religion liegt historisch jene augustinische Unterscheidung zwischen den zwei Reichen, der Civitas Dei und der Civitas terrena, zugrunde, die ihrerseits eine Weiterentwicklung des von Matthäus (22,21) überlieferten Wortes Jesu ist: ,,So gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist". (Der Kaiser ist der römische, der Gott, von dem hier die Rede ist, ist der eine Gott des Alten Testamentes). Ohne diese Urdifferenzierung wäre die spätere Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt gar nicht möglich gewesen, die für Europa grundlegend wurde und den historischen Okzident zu einer weltgeschichtlich einzigartigen Erscheinung macht. Und wie könnte man eine Geschichte der Demokratie schreiben, ohne auf die Wirkungsgeschichte des Gedankens der Gleichheit aller Menschen vor Gott einzugehen? Denn in diesem revolutionären, ursprünglich christlichen Gedanken wurzelt die Idee der Würde des Individuums und damit der unveräußerlichen Menschenrechte.

Was wir als politische Kultur des Westens bezeichnen, ist das Ergebnis einer langen Geschichte, die der historischen Aufarbeitung bedarf. Zu ihr gehört nicht nur das, was die Europäer kulturell verbindet, sondern auch das, was sie über Jahrhunderte hinweg politisch getrennt hat: nationale Vorurteile und Rivalitäten, sogenannte Erbfeindschaften, Kriege und Eroberungen, Verfolgung von Minderheiten und Vertreibungen. Vergangene Konflikte können integrierend wirken, wenn sie verarbeitet werden und in die

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Einsicht des ,,Nie wieder" münden. Es gibt objektive Grundlagen von europäischer Identität, aber sie können nur dann politische Wirkung entfalten, wenn sich die Europäer ihrer bewusst werden. Dieser Reflexionsprozess ist hinter der realen Integration weit zurückgeblieben, und es obliegt vor allem den Intellektuellen, diese Ungleichzeitigkeit zu überwinden.

Wenn es schon schwierig ist, europäische Staaten zusammenzuführen, die historisch zum Okzident gehören, also über ein hohes Maß an kulturellen Gemeinsamkeiten verfügen, um wieviel schwieriger wird es dann erst sein, die Europäische Union in Richtung der ehemals kommunistisch regierten, byzantinisch-orthodox geprägten Staaten Südosteuropas auszuweiten, die, schon infolge ihrer Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich, jahrhundertelang einen anderen Weg gegangen sind als das okzidentale Europa. Schwierig heißt nicht unmöglich. Aber eine der Lehren aus dem vorläufigen Scheitern der europäischen Verfassung sollte die sein, sich nicht über die historisch bedingten Widerstände hinwegzutäuschen, die der Verwirklichung des Projekts Europa entgegenstehen. Die Integration von Rumänien und Bulgarien, die im Jahre 2007 Mitglieder der Europäischen Union werden sollen, wird immense politische und wirtschaftliche Anstrengungen erfordern - sehr viel größere, als der öffentlichen Meinung in den Ländern der ,,alten" EU bewusst ist.

Ungleich strittiger als die Aufnahme von Rumänien und Bulgarien ist das Beitrittsbegehren der Türkei. Ihr wurde eine spätere Vollmitgliedschaft bereits im Assoziierungsabkommen von 1963 in Aussicht gestellt, als es freilich noch keine Europäische Union, sondern ,,nur" eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gab. Den Status eines Kandidaten für die Mitgliedschaft in der EU erhielt die Türkei, unter massivem amerikanischen Druck, auf dem Gipfel von Helsinki im Dezember 1999. Im Dezember 2002 beschloss die EU in Kopenhagen, Ende 2004 über eine Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu entscheiden.

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Die Befürworter einer Vollmitgliedschaft stellen vor allem geostrategische Sicherheitsinteressen in den Vordergrund ihrer Argumentation: Die Europäische Union könnte entscheidend zur Befriedung des Nahen und Mittleren Ostens wie auch des Kaukasus beitragen und dadurch an eigener Sicherheit gewinnen, wenn sie erst einmal über gemeinsame Außengrenzen zu Syrien, Irak, Iran, Armenien und Georgien verfügt. In manchen Szenarien erscheint die Vollmitgliedschaft Ankaras geradezu als Unterpfand einer europäischen Weltpolitik: eine transkontinentale EU gleichrangig neben den USA und China als einer von drei globalen Akteuren. Der Türkei ist die Rolle eines Brückenlandes zugedacht, das die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam beweisen und der arabischen Welt als Vorbild dienen soll. Diese Aufgabe könne das Land am Bosporus nur als Mitglied der EU übernehmen. Ein Nein zu Beitrittsverhandlungen würde das Ende des Reformprozesses bedeuten, der von der derzeitigen, gemäßigt islamistischen Regierung Erdogan zielstrebig vorangetrieben wird.

Die Gegner einer Vollmitgliedschaft leugnen nicht, dass gemeinsame Sicherheitsinteressen für intensive Kooperation sprechen. Sie verweisen aber auf Hindernisse eines Beitritts im Bereich der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, darunter die Größe des Agrarsektors und ein starkes Wohlstandsgefälle zwischen der EU und der Türkei, ablesbar an der Tatsache, dass das Land am Bosporus mit seinen fast 69 Millionen Einwohnern nur 22% des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens der jetzigen Europäischen Union erreicht. Noch größeres Gewicht hat das Argument, dass es, trotz bedeutender Fortschritte in Sachen Rechtsstaat und Menschenrechte, zwischen der Türkei und Europa immer noch Unterschiede der politischen Kultur gibt, die sich nicht im Verlauf weniger Jahre überbrücken lassen.

Was die Europäische Kommission in ihrem jüngsten Bericht vom 5. November 2003 an türkischen Defiziten im Hinblick auf Menschenrechte, Zivilgesellschaft und politische Kultur der De-

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mokratie festgestellt hat, geht nicht einfach auf das Konto des Faktors ,,islamisches Erbe". In diesen Mängeln spiegelt sich vielmehr der spezifische Charakter des türkischen Modernisierungsprozesses. Seine wichtigsten Merkmale sind die nationale Zwangshomogenisierung des Kernlandes des ehemaligen Osmanischen Reiches und die Zwangssäkularisierung der Türkei seit der Herrschaft Atatürks. Das Ergebnis war eine Teilverwestlichung im doppelten Sinn: Die Verwestlichung hat erstens nur den westlichen, urbanisierten, relativ wohlhabenden Teil des Landes und hier vor allem die Eliten erfasst und umgeformt. Im ländlich geprägten östlichen Anatolien, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt, haben sich dagegen traditionelle Strukturen und Mentalitäten behauptet. Zweitens hat die formale Übernahme westlicher Gesetzbücher, Institutionen und Entscheidungsprozesse bisher kaum zu einer Verinnerlichung westlicher Werte geführt. Nur so ist es zu erklären, dass es noch immer ein strafbewehrtes Verbot gibt, über den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg zu reden oder zu schreiben.

Die Frage lautet nicht, ob eine islamisch geprägte Gesellschaft wie die Türkei sich irgendwann zu einer demokratischen Zivilgesellschaft westlichen Typs entwickeln kann. Die Frage ist, ob das innerhalb der wenigen Jahre gelingen kann, die zwischen dem Beginn und dem Abschluss von Beitrittsverhandlungen liegen. Die Europäische Kommission wird im Oktober 2004 entscheiden, ob sie dem Europäischen Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfehlen kann oder nicht. Wenn die Empfehlung positiv ausfällt und der Rat im Dezember einen entsprechenden Beschluss fasst, werden die Verhandlungen im Jahre 2005 beginnen. Mit einem Abschluss würde dann innerhalb von acht bis fünfzehn Jahren, also zwischen 2013 und 2020, zu rechnen sein. Nach den bisherigen Erfahrungen präjudiziert der Beginn das Ende: Einen negativen Ausgang von Beitrittsverhandlungen hat es noch nicht gegeben. Man sollte ihn auch nicht einplanen. Die Entscheidung über eine türkische Vollmitgliedschaft in der EU fällt

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also nicht irgendwann im nächsten Jahrzehnt, sondern noch in diesem Jahr.

Die moderne Türkei ist stolz auf ihre Souveränität. Sie pflegt einen Nationalismus, den es in so ausgeprägter Form in keinem Staat der Europäischen Union gibt. Es ist daher schwer vorstellbar, dass die EU nach einer Aufnahme der Türkei das bisherige supranationale Projekt Europa noch weiter verfolgen kann. Die Vertiefung, die ein integraler Bestandteil des Projekts ist, setzt ein Bewusstsein von europäischer Identität und Gemeinsamkeit voraus. Dieses Bewusstsein lässt sich nicht von oben verordnen. Es kann sich nur dort entfalten, wo die Gemeinsamkeiten der politischen Kultur ein hinreichend starkes ,,fundamentum in re" bilden.

Die Türkei wäre objektiv überfordert, wenn man ihr ein vergleichbares Maß an europäischer Identität abverlangen würde wie beispielsweise Finnland oder Slowenien. Die Türkei müsste dadurch in eine Identitätskrise geraten. Man sollte von der Türkei auch nicht erwarten, dass sie auf die eigenständige Ausübung ihrer Souveränitätsrechte in dem Umfang zu verzichten bereit ist, den die Weiterentwicklung der EU zur Politischen Union erfordert. Der türkische Miisterpräsident Erdogan hat sich am 9. Januar 2004 vor der Bertelsmann-Stiftung in Berlin zur ,,Vertiefung" und zur ,,Politischen Union" bekannt, gleichzeitig aber betont, die bisherige Integration sei ,,nicht durch den Verlust von Souveränität, sondern durch Teilhabe auf breitem Gebiet" ermöglicht worden. Doch ohne die Bereitschaft, Teile der eigenen Souveränität gemeinsam mit anderen auszuüben oder auf die EU zu übertragen, wird es eine Vertiefung zur Politischen Union nicht geben. Alles andere wäre eine Selbsttäuschung.

Die geostrategisch argumentierenden Befürworter einer türkischen Vollmitgliedschaft sind ausgeprägte Voluntaristen. Sie setzen sich nicht nur über historische Prägungen und wirtschaftliche Strukturen hinweg, die der Verwirklichung ihrer großeuropäischen Visionen entgegenstehen, sie vertreten einen krassen Primat der

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Außen- und Sicherheitspolitik, für den die Innenpolitik faktisch keine Rolle mehr spielt. Die Ausblendung der Innenpolitik geht einher mit einer Geringschätzung der demokratischen Legitimation der neuen Großeuropapolitik. Die Visionäre eines Europa bis zum Euphrat träumen von einer Kultursynthese zwischen dem säkularisierten Westen und einem liberalisierten Islam. Sie übersehen, dass der türkische Weg in die säkularisierte Moderne alles andere als liberal war und von Reformern in der arabischen Welt kaum als Vorbild empfunden wird. Und wenn die großeuropäischen Voluntaristen recht hätten mit ihrer These, dass der türkische Reformprozess ohne die Aussicht auf eine baldige Vollmitgliedschaft in der EU scheitern müsste, wäre das lediglich ein Beweis für die Schwäche der türkischen Reformbewegung. Eben deshalb hat Ministerpräsident Erdogan in seiner Rede vor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin am 3. September 2003 dieser Behauptung klar widersprochen.

Innerhalb weniger Monate, nämlich bis zum Herbst dieses Jahres, lassen sich die Probleme nicht lösen, die gelöst sein müssen, bevor Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen. Der vorgesehene Zeitplan überfordert die Türkei ebenso wie die EU, die die Erweiterung des Jahres 2004 noch längst nicht bewältigt hat und Jahrzehnte benötigen wird, um Südosteuropa zu integrieren. Es gibt aber eine auch schon kurzfristig zu verwirklichende Alternative zur Vollmitgliedschaft Ankaras in der EU. Ich habe im November 2002 in einem Artikel in der ZEIT für diese Alternative den (inzwischen von anderen übernommenen) Begriff der ,,privilegierten Partnerschaft" vorgeschlagen. Gemeint ist eine enge, über die Assoziation weit hinausgehende Zusammenarbeit, die mehr noch als bereits jetzt auch die Außen- und Sicherheitspolitik einschließen muss. Eine derartige Partnerschaft könnte zum Modell werden für das Verhältnis der Union zu anderen Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika, vielleicht auch in Osteuropa - zu Staaten, die eng mit der EU kooperieren wollen, bei denen die Voraussetzungen für eine Vollmitgliedschaft aber nicht gegeben sind.

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Die Europäische Union steht am Scheideweg. Sie kann das Ziel der Vertiefung und der Politischen Union aufgeben und sich in einen lockeren Staatenbund zurückverwandeln. Sie kann sich über Europa hinaus erweitern, müsste dann aber auf die immaterielle Legitimitätsressource eines europäischen ,,Wir-Gefühls" definitiv verzichten. Ohne ein Bewusstsein von europäischer Zusammengehörigkeit werden die Nationalstaaten die einzigen realen Bezugspunkte für die politische Orientierung der Angehörigen der EU bleiben oder wieder werden. Ihre Identitätsbedürfnisse könnte nur der jeweilige Nationalismus befriedigen. Das wäre das Ende des Projekts Europa, das einmal als historische Antwort auf die zerstörerischen Wirkungen des Nationalismus entwickelt worden ist. An die Stelle des supranationalen Projekts würde eine Neuauflage des Konzertes der europäischen Großmächte treten: ein kompliziertes System wechselnder Allianzen, dessen Hauptmerkmal die Instabilität ist. Eine solche EU wäre zwar räumlich groß, politisch aber nicht handlungsfähig - ein Koloss auf tönernen Füßen.

Die Alternative heißt: Vertiefung vor Erweiterung. Die EU hält am Ziel einer wirksam verfassten, also regierbaren Politischen Union fest und fördert alles, was dem Bewusstsein von europäischer Zusammengehörigkeit und Solidarität dient. Sie arbeitet daran, dem Projekt Europa endlich jenen Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern zu verschaffen, den man mit einem Begriff des Soziologen Max Weber ,,Legitimitätsglauben" nennen kann. Ohne ein solches Fundament hat keine politische Ordnung Bestand. Das gilt erst recht für eine Ordnung wie die Europäische Union, die existentiell darauf angewiesen ist, dass ihre stärkeren Mitglieder bereit sind, Lasten zugunsten der schwächeren auf sich zu nehmen. Auch deswegen muss die EU die Grenzen ihrer Erweiterbarkeit erkennen und anerkennen. Sie kann sich dabei an einer einfachen Maxime orientieren: Europa endet dort, wo die Voraussetzungen eines europäischen ,,Wir-Gefühls" fehlen.

Eine EU, die dieser Devise folgt und damit die Gefahr der Überdehnung vermeidet, hat die Chance, in wichtigen Fragen mit

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einer Stimme zu sprechen. Sie kann sich zum ,,engeren Bund" entwickeln, der mit einem ,,weiteren Bund" von Staaten kooperiert, die an einer solchen Zusammenarbeit interessiert und für sie qualifiziert sind. Eine solche EU wäre bei aller Prägung durch die Geschichte ein historisches Novum. Sie könnte über ihr eigenes Territorium hinaus als Faktor des friedlichen Ausgleichs in benachbarten Krisenregionen wirken.

Die Europäische Union bedarf keiner Identität, die sich gegen andere richtet. Ihre politische Kultur ist die der westlichen Demokratie - eine politische Kultur, die durch Pluralismus gekennzeichnet ist. Das verbindet die EU mit anderen Teilen des Westens, vor allem mit Nordamerika. Eine Profilierung gegen die Vereinigten Staaten ist kein Teil, jedenfalls kein erstrebenswerter Teil des europäischen Selbstverständnisses. Die EU und die USA haben gemeinsame Werte, aber ihre Wertvorstellungen sind nicht identisch. Die Unterschiede sind so auffällig, dass man neuerdings sogar der These begegnet, die vielbeschworene westliche Wertegemeinschaft gebe es schon lange nicht mehr. Doch jeder Blick auf nichtwestliche Gesellschaften zeigt, dass im Bereich der Grundwerte die transatlantischen Gemeinsamkeiten die Unterschiede weit übertreffen.

Das schließt transatlantische Auseinandersetzungen nicht aus. Der Westen wäre nicht mehr der Westen, wenn sich in ihm immer nur eine politische Position durchsetzen würde: die der stärksten Militärmacht. Die jetzige Washingtoner Administration hat mit ihrem dezidierten Unilateralismus nicht nur die raison d' être des Atlantischen Bündnisses, sondern den politischen Zusammenhalt des Westens im weitesten Sinne in Frage gestellt. Europa wird nie über die militärischen Mittel verfügen, die notwendig wären, um aus der EU eine Gegenmacht zu den USA zu machen. Es spricht auch alles dagegen, dieses Ziel anzustreben. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die europäischen Mitglieder der NATO wenigstens dann ein Korrektiv zu den Vereinigten Staaten bilden könnten, wann immer deren Politik europäischen Widerspruch heraus-

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fordert. Eine mit dem Atlantischen Bündnis abgestimmte europäische Verteidigungsidentität, wie sie sich jetzt abzeichnet, wäre ein Beitrag zu den ,,checks and balances", die zum Wesen des Westens gehören und auf die der Westen angewiesen ist.

Nachrufe auf die ,,westliche Wertegemeinschaft" wären also voreilig. Sie wird nach wie vor gebraucht. Ihre Wiederbelebung erfordert amerikanische und europäische Anstrengungen. Was Europa und hier vor allem Deutschland anbelangt, gehören dazu auch wirtschaftliche Anstrengungen. Eine grundlegende Erneuerung des deutschen Sozial- und Steuersystems wäre zwar auch dann notwendig, wenn es keine EU und keine NATO gäbe. Aber ohne nachhaltige Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands hat die EU keine Chance, ihr politisches Gewicht innerhalb und außerhalb des Atlantischen Bündnisses wesentlich zu erhöhen.

Deutschland ist erst nach einer nationalen Katastrophe politisch dauerhaft im Westen angekommen. Das ist der tiefere Grund, weshalb die ,,politische Kultur des Westens" zu einem Schlüsselbegriff des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Der Begriff ist aber auch wichtig, wenn es darum geht, die Grenzen der Erweiterung der Europäischen Union zu bestimmen: Mitglieder der EU können nur solche europäischen Länder werden, die bereit sind, sich ohne jeden Vorbehalt der politischen Kultur des Westens zu öffnen. Dass es trotz aller Unterschiede eine gemeinsame politische Kultur des Westens gibt, darin liegt auch die Chance einer Erneuerung des Atlantischen Bündnisses. Eine ,,Wiedererfindung des Westens" hat der Berater des Institut Français des Relations Internationales, Dominique Moïsi, Ende 2003 in einem scharfsinnigen Essay gefordert: Genau darum geht es.

Der Westen ist weltgeschichtlich einen Sonderweg gegangen. Sein von Max Weber beschriebener, alle Lebensbereiche umfassender Rationalisierungsprozess war singulär. Der Begriff des

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Westens bezeichnet nicht nur bestimmte gesellschaftliche, kulturelle und politische Traditionen, sondern auch einen normativen Anspruch, an dem sich westliche Staaten und Staatenverbindungen messen lassen müssen. Der Westen ist ein unvollendetes, ja letztlich wohl ein unvollendbares Projekt. Die Einsicht, dass der Westen immer noch weit davon entfernt ist, seinen eigenen Idealen zu entsprechen, könnte ein guter Ausgangspunkt sein für ein neues, von Überheblichkeit freies Verhältnis des Westens zur übrigen Welt. Das müsste kein Widerspruch sein zu einer Politik, die auf die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte abzielt. Im Gegenteil: Die Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratien würde wachsen, wenn sie ihr Engagement für dieses Ziel verbänden mit der Bereitschaft zu historischer und politischer Selbstkritik.

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Reihe Gesprächskreis Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung

Die Seiten 27 - 31 der Druckausgabe enthalten einen Überblick über die Titel der Reihe Gesprächskreis Geschichte.
Den Nutzern der Online-Edition empfehlen wir stattdessen den
Direktaufruf der Reihe "Gesprächskreis Geschichte" in der Volltext-Datenbank "Digitale Bibliothek der FES".




© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2004

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