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Rede
von Bundespräsident Johannes Rau

I.

Meine Damen und Herren,

verehrte, liebe Freunde!

Eine solche Rede ist schwierig. Ich möchte drei Stunden reden und erzählen. Man möchte Anekdoten weitergeben, Erlebnisse und Erfahrungen. Und man möchte eigentlich doch nur in einem Satz sagen, was dieser Mann einem selbst und unserem Volk bedeutet hat.

Und wenn man nun nahezu täglich Erinnerungsbeiträge und Reden zu Willy Brandt liest, dann fragt man sich: Kann ich dem gerecht werden, wenn ich aufzähle, wenn ich berichte und wenn ich das tue, obwohl doch da Menschen sind, die ihn auch gut gekannt haben. Und es sind andere da, die kennen den Namen nur noch aus der Zeitung.

Ich will es einfach versuchen. Und ich beginne mit dem Hinweis, dass das Jahr 2002 bisher das erste Jahr ist seit 1958, in dem in der „Bild"-Zeitung keine Schlagzeile über Willy Brandt erschienen ist. Mehr als fünfzig Jahre lang hat er die Schlagzeilen und Berichte nicht nur dieser Zeitung unseres Landes mitbestimmt – und das auch noch fast zehn Jahre nach seinem Tod.

Es lohnt sich durchaus, diese Schlagzeilen einmal nachzulesen. Natürlich ist manches Befremdliche dabei – sonst wäre die „Bild"-Zeitung nicht die „Bild"-Zeitung. Dennoch lassen sich die großen Stationen der deutschen Nachkriegsgeschichte ver-

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folgen – im Werdegang eines Politikers, der Deutschland geprägt hat wie wenige andere.

In den Jahren nach seinem Tod werden die Schlagzeilen, die von Willy Brandt sprechen oder auf ihn Bezug nehmen, weniger. 2001 wird eine Biografie über ihn erwähnt. Willy Brandt ist Teil der Geschichte geworden und eine Person der Geschichte.

Das klingt nun wiederum allzu selbstverständlich: Wer von uns hätte nicht schon zu Willy Brandts Lebzeiten gewusst, dass der Mann, der deutsche und europäische Politik gestaltete, eine historische Persönlichkeit war? Doch wir, die wir ihn gut gekannt haben und denen er noch so ganz gegenwärtig ist, müssen uns klar machen, dass Willy Brandt auch in einem anderen Sinn Teil der Geschichte geworden ist.

Jungen Menschen, deren früheste politische Erinnerung vielleicht der November 1989 ist, ist vieles von dem, was Willy Brandt, was sein Leben und sein politisches Werk ausmacht, sehr fern – eben Teil der Geschichte. Das hängt weniger mit den zehn Jahren zusammen, die seit dem Tode Willy Brandts vergangen sind, als mit den Zäsuren von 1989 und den darauffolgenden Jahren.

Und doch sind Willy Brandt und sein Werk auch ganz gegenwärtig. Lassen Sie mich eine andere Schlagzeile zitieren:

Vor kurzem berichtete die „taz" über eine Diskussion, die auf dem Historikertag in Halle über den Nahen und Mittleren Osten geführt wurde. Die Suche nach Lösungen fasste der Autor in der Überschrift zusammen: „Vorbild: Willy Brandts Ostpolitik".

Diese Überschrift zeigt, wie präsent das politische Handeln und Wirken Willy Brandts ist, wie stark er nicht nur seiner Zeit den

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Stempel aufgedrückt hat, sondern über sie hinaus gewiesen und dass er noch heute Wirkung hat.

II.

Jungen Menschen, wenngleich nicht nur jungen, dürfte es schon schwer fallen, sich die Welt vorzustellen, in die Willy Brandt hinein geboren wurde, eine Welt, die geprägt war nicht nur von Standes-, sondern auch von Klassenunterschieden. Seine proletarische Herkunft hat seinen politischen Weg vorgezeichnet. Er war, so hat er es selber einmal gesagt, „sozusagen in den Sozialismus hineingeboren".

Die damals dem Bürgertum vorbehaltene Welt erschließt er sich, als er – mit Hilfe einer Begabtenförderung – das Gymnasium besuchen kann. Ihm gelingt es, beides zusammen zu bringen: proletarisch-sozialistische Gesinnung und bürgerliche Bildung. Das war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass er später in politischer Verantwortung Anerkennung und Zustimmung und Unterstützung bei ganz unterschiedlichen Menschen gefunden hat.

In Lübeck begegnet Willy Brandt einem Mann, der ihm zum väterlichen Freund wird und der ihn wie vielleicht kein zweiter prägt: Julius Leber, der für seinen Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur eines Tages mit dem Leben bezahlen wird. Leber gewinnt den jungen Journalisten für die SPD.

Beide, Julius Leber wie Willy Brandt, kennen die Schwächen ihrer Partei und die Probleme, die sie in einer Zeit hat, in der immer mehr Menschen sich den Heilsversprechungen der politischen Extreme zuwenden. Beide verbindet die kritische Sicht und die Entschlossenheit zu handeln – auf die Frage, wie dabei am besten vorzugehen sei, geben sie freilich unterschiedliche

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Antworten. Willy Brandt verlässt die SPD wieder und schließt sich der radikaleren Sozialistischen Arbeiterpartei an. Er hat im Rückblick Wert auf die Feststellung gelegt, dass das Zerwürfnis mit Leber nicht sachlicher Differenz zu schulden gewesen sei, sondern wohl eher seiner jugendlichen Radikalität.

Die Konsequenz, mit der er als junger Mensch seinen Idealen folgt, hilft später dem Parteivorsitzenden der SPD, viel Verständnis zu haben für die Rebellion junger Sozialisten in seiner Partei, Verständnis aber auch für jene jungen Menschen, die sich, nur einem Ziel verpflichtet, außerhalb von Parteien politisch engagieren, zum Beispiel in der Friedensbewegung. Weil er die Rebellion nicht nur selber gelebt hat, sondern für ihre Folgen auch hat einstehen müssen, hat er aber wenig Verständnis für die Anspruchshaltung und das Selbstmitleid mancher jugendlicher Rebellen, denen er später begegnet.

III.

Als in Deutschland die Demokratie zerschlagen wird, geht Willy Brandt ins Exil nach Norwegen. Aus dem Gelegenheitsautor wird ein professioneller Journalist und ein respektierter Schriftsteller, der klar, anschaulich und überzeugend schreibt.

Diese Gabe, meine Damen und Herren, ist auch ein wesentliches Geheimnis des Redners Willy Brandt. Wenigen Politikern ist es je gelungen, Menschen so mitzureißen, wie er das konnte. Dabei ging ein Großteil der Wirkung von der Art aus, wie er während des Redens seine Gedanken in Worte zu gießen schien, nach Formulierungen suchend, um passende Ausdrücke ringend. Wer dabei oft neben ihm gestanden oder auch nur einmal seine Manuskripte gesehen hat, der weiß: Das meiste davon stand dort bereits. Jedem Redetext-Vorleser, der gelegentlich scheu prüfend schaut, ob sein Publikum noch da ist, empfehle ich drin-

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gend, sich Filme mit Reden von Willy Brandt anzuschauen. Nur wenigen ist es allerdings so wie ihm gegeben, einen geschriebenen Text so vorzutragen, als ringe er um die Formulierung.

Er hat mir einmal gesagt: „Ich suche mir im Saal immer zwei aus, oder auf dem Marktplatz. Und mit deren Augen beginne ich einen Dialog." Das war das Geheimnis der faszinierenden Redekraft dieses Mannes.

Neben der journalistischen Arbeit galt Willy Brandts Arbeit im Exil der Partei. Immer wieder ist er für sie in ganz Europa unterwegs und dabei begegnet er Menschen, denen er zeit seines Lebens verbunden bleiben wird: Ich nenne nur einen, Bruno Kreisky.

Die beiden werden später fast gleichzeitig zu Bundeskanzlern gewählt.

Die Flucht aus der Heimat, die Erfahrungen und die menschlichen Begegnungen im Exil – all das beeinflusst Willy Brandts politisches Denken – wie wohl auch die Erfahrungen des spanischen Bürgerkriegs, gewiss aber das Paktieren der Sowjetunion mit Hitlerdeutschland.

1939 schreibt Willy Brandt eine vernichtende Kritik der Sowjetunion und formuliert darin zugleich seine eigene Position neu und unmissverständlich. Er schreibt: „Der Sozialismus muss auf Freiheit und Demokratie aufbauen, will er eine Politik führen können, die ihn wirklich berechtigt, diesen Namen zu führen." Darf ich daran erinnern, dass es später im Godesberger Programm fast wörtlich so heißt. Demokratischer Sozialismus – das ist die Idee, für die Willy Brandt in seinem weiteren politischen Leben steht und die mit seinem Namen verbunden ist und bleibt.

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IV.

Als Willy Brandt im Oktober des Jahres 1945 nach Deutschland zurückkehrt, betritt er in Berlin, so sagt er, „ein Niemandsland am Rande der Welt". Nicht allen ist er willkommen. Auch nicht in den Reihen der SPD, in die er zurückgekehrt ist. Auch dort gibt es Misstrauen und Widerstand gegen den Emigranten und Kosmopoliten.

Sein Aufstieg war nicht ohne Brüche, die Berliner können davon erzählen, er war hart erarbeitet und auch in der Partei mit manchen Niederlagen verbunden. Willy Brandt findet in Ernst Reuter, wie vor dem Kriege in Julius Leber, einen großen Sozialdemokraten, der ihn fördert und auch dem längst Erwachsenen wohl ein Stück weit zur Vaterfigur wird.

Zwei Ereignisse der Berliner Zeit zeigen Willy Brandts große Gabe, in dramatischen und schwierigen Situationen instinktiv das politisch Richtige zu tun. Er ist es, der 1956 nach dem Ungarn-Aufstand auf einer spontanen Kundgebung die richtigen Worte findet, die die Herzen der empörten Berliner erreichen, und mit denen er verhindert, dass die Situation da eskaliert, wo die hochgerüsteten Blöcke sich unmittelbar gegenüber stehen. 1961 ist es Willy Brandt, der nach dem Bau der Mauer dem Zorn und der Ohnmacht der Berliner eine Stimme gibt und der zum Anwalt der Freiheit wird.

Sein Weg in die Bundespolitik war damit vorgezeichnet, auch wenn Berlin gewiss die Stadt gewesen ist, in der er besonders glücklich war.

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V.

1966 wird Willy Brandt Außenminister. Konsequent und zielstrebig leitet er die Politik ein, die er später als Bundeskanzler zum historischen Erfolg führt – die Friedens- und Entspannungspolitik, die bis heute, selbst in anderen Sprachen, Ostpolitik genannt wird.

Dabei richtet sich sein Blick, gerade in seiner Zeit als Außenminister, auch nach Süden. Früher als viele andere erkennt er die großen Herausforderungen, die das Ende des kolonialen Zeitalters mit sich bringt.

Wegen seiner überragenden Verdienste in der Ostpolitik und im Verhältnis zwischen Nord und Süd übersehen wir heute gelegentlich Willy Brandts Engagement für die europäische Einigung. Willy Brandt, der deutsche Patriot, war ein leidenschaftlicher Europäer.

Aber Aufmerksamkeit erregt damals vor allem der neue Kurs, der in den Beziehungen zu den Staaten des Warschauer Pakts eingeschlagen wird. „Wandel durch Annäherung", lautet die Formel, die Egon Bahr in Tutzing geprägt hatte.

Brandts Bemühen um Dialog und Entspannung scheinen auch einem Wandel zu entsprechen, der sich in manchen sozialistischen Ländern vollzieht. Dann macht der Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in der Tschechoslowakei dieser Hoffnung im August 1968 zunächst ein brutales Ende.

Die Grundlinie der Politik Willy Brandts bleibt aber richtig: der Versuch, die Westbindung durch eine Verständigung mit dem Osten zu ergänzen. Das findet die Zustimmung der Wählerinnen und Wähler. Bei den Bundestagswahlen 1969 erzielt die SPD nochmals einen Stimmenzuwachs und Willy Brandt gelingt, was

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er schon mal 1966 erhofft hatte: die Bildung einer sozialliberalen Koalition. Am 21. Oktober 1969 wählt der Deutsche Bundestag Willy Brandt zum vierten Bundeskanzler – einen Mann, der oft geschmäht worden war, weil er unehelich geboren war, weil er ins Exil gegangen war, weil er sich um Verständigung und Entspannung mit der Sowjetunion bemüht hat.

Führt man sich vor Augen, wie lange Konfrontation und Sprachlosigkeit das Verhältnis zu den Staaten des Warschauer Paktes bestimmt hatte, dann geht es in der Ostpolitik nun in geradezu atemberaubendem Tempo voran: Nur wenig mehr als ein Jahr nach Regierungsantritt sind die Verträge mit Moskau und mit Warschau unterzeichnet, die Regierungschefs Brandt und Stoph haben sich zweimal gegenseitig besucht. Der Grundlagenvertrag ist in Vorbereitung. 1973 folgt der deutsch-tschechoslowakische Vertrag. Schon 1972 haben die KSZE-Verhandlungen begonnen, 1973 die Verhandlungen über gegenseitige Truppenreduzierungen zwischen Warschauer Pakt und NATO.

Die Wucht dieser Entwicklung ist ganz ungeheuer. Trotz mancher Rückschläge und Stockungen wird sie Europa grundlegend neu ordnen. Viele und vieles haben beigetragen zu dieser Neuordnung Europas, aber ohne die politische Phantasie und den Mut, ohne das Geschick und die Entschlossenheit Willy Brandts wäre die historische Entwicklung, die in diesen Jahren ihren Ausgang nimmt, undenkbar gewesen. Nur zwei Jahre nach seiner Wahl zum Bundeskanzler bekommt Willy Brandt in Oslo den Friedensnobelpreis.

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VI.

Vor alle Ereignisse und Verträge, alle Spannungen und Kontroversen jener Zeit hat sich ein Bild geschoben, das zum Symbol geworden ist: Der Kniefall von Warschau.

Selten hat ein Bild so bewegt: die Herzen von Millionen Menschen in Deutschland, in Polen und in vielen anderen Ländern, die Gemüter seiner politischen Gegner, die internationale Politik. „Einer musste es ja machen" – mit diesen Worten hat Willy Brandt seiner Frau Rut das Zeichen erklärt, das er vor dem Denkmal für die Helden des Ghetto-Aufstandes gesetzt hat. „Einer musste es ja machen."

Symbole haben im öffentlichen Leben und besonders in der Politik nicht erst im Medienzeitalter große Bedeutung. Symbole sind aber kein Ersatz für Politik.

Symbole müssen Signalcharakter für eine bestimmte Politik und eine bestimmte politische Richtung haben. Sie müssen für bestimmte Inhalte stehen. Willy Brandts Kniefall in Warschau: Das war ein Bild, das mehr sagte als alle Worte, aber es war kein Ersatz für fehlende Worte.

Der Kniefall von Warschau, in diesem Bild, das wir nie vergessen werden, leuchtet das ganze Drama des alten Kontinents auf – seine Tragik und sein neuer Aufbruch. Der Emigrant, der die Diktatur des Dritten Reiches aus dem Ausland bekämpft hat, der sich die Fragen gefallen lassen musste: Wo waren sie denn, was haben sie denn gemacht?, der steht ein für die Schuld, die jene auf sich geladen haben, die er bekämpft hat – Schuld an Juden, an Polen, Schuld an so vielen.

Willy Brandt hat keinen Moment lang Zweifel daran aufkommen lassen, dass er – jenseits aller persönlichen Verantwortung

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– zur ganzen Geschichte des Landes stand, dem er diente und das nun einmal das seine war. Oder besser: wieder geworden war.

Ich glaube, dass in seinem Denken und Handeln in dieser Frage auch eine besondere Aktualität liegt. Heute beschäftigt uns die Frage, wie Menschen, die zu uns kommen, die Geschichte und die Kultur unseres Landes kennen lernen können und wie sie mit ihr umgehen sollen. Willy Brandt hat darauf eine konsequente Antwort gegeben: Wer in diesem Land auf Dauer lebt, zumal wer ihm dient, der soll sich zu ihm bekennen – in seinen guten wie seinen schwierigen Traditionen und Erinnerungen. Und er soll das Seine dazu tun, Altes zu wandeln und Neues zu gestalten.

Willy Brandt selber hat es im Rückblick als seinen größten Erfolg betrachtet, mit seinen Worten gesprochen, „dazu beigetragen zu haben, dass in der Welt, in der wir leben, der Name unseres Landes, Deutschland also, und der Begriff des Friedens wieder in einem Atemzug genannt werden können." Das ist in der Tat sein großes, sein historisches Verdienst.

Für eine friedlichere Welt zu streiten, für eine gerechtere Welt zu streiten, dafür war ihm kein Weg zu lang, und dafür hat er auch Umwege in Kauf genommen.

Er war kein Pazifist, aber er war davon überzeugt, dass militärische Gewalt nur in extremen Ausnahmesituationen und nur unter ganz strengen Bedingungen zu verantworten sei.

Primat der Politik: Das hieß für Willy Brandt nicht nur, dass die Politik über den Einsatz des Militärs entscheidet. Primat der Politik, das war für ihn vor allem die dauernde Verpflichtung, für Konflikte politische Lösungen zu suchen und zu finden.

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Dass weltweite Abrüstung - nicht nur bei Massenvernichtungswaffen - wieder ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit muss, das sähe Willy Brandt heute gewiss genauso wie vor fünfzehn Jahren. In der Zeit des Ost-West-Konflikts hatte die Forderung nach Abrüstung für Willy Brandt eine spezifisch deutsche Komponente. Um es in seinen Worten zu sagen: „Ich habe auch aus Gründen der nationalen Existenz leidenschaftlich vor dem gewarnt, was eine militärische Entladung des Ost-West-Konflikts bedeuten würde."

Willy Brandt sah es als ganz selbstverständlich an, dass wir Deutschen unsere Interessen und Auffassungen genauso vertreten wie andere Nationen auch. Er warnte immer wieder vor, wie er es nannte, „der Vernachlässigung deutscher Interessen in der Welt" und seine ganze Ost-Politik und seine ganze Deutschland-Politik kann nicht verstehen, wer in ihm nicht den deutschen Patrioten mit europäischer Gesinnung sieht.

Darum hat er bei unseren Freunden und Partnern im Westen so beharrlich für eine neue Phase internationaler Politik geworben. Und darum hat er mit unseren östlichen Nachbarn und der Sowjetunion so mühsam Verträge ausgehandelt.

Willy Brandt war überzeugt davon, dass zur Internationale der Völker wie zur Internationale der Arbeiterbewegung nur die verlässlich etwas beitragen können, die fest in der eigenen Nation verankert sind und die auf vernünftige Weise für ihre Interessen eintreten.

VII.

Die fünf Jahre seiner Kanzlerschaft, meine Damen und Herren, brachten weitreichende innenpolitische Veränderungen. Liest man seine erste Regierungserklärung, dann standen sie für ihn

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auch im Vordergrund. Es ging ihm darum, „mehr Demokratie zu wagen".

Willy Brandt selber hat gesagt, dass er den weit größten Teil seiner Zeit als Bundeskanzler für innenpolitische Fragen aufgewendet habe. Und einige Stichworte reichen schon, um in Erinnerung zu rufen, was damals bewegt wurde: das Betriebsverfassungsgesetz und die Vermögensbildung, die Berufsbildung und die Mindestrente, die Reform des Familienrechts und ein erstes Umweltprogramm.

Der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik wurden neue Wege gebahnt und Türen aufgestoßen. Wie stark der Wunsch nach Bewegung und Veränderung war, das zeigte am deutlichsten die Studentenbewegung. Gemeinsam mit seiner Regierung hat der Parteivorsitzende und Bundeskanzler Willy Brandt es vermocht, dass der größte Teil der außerparlamentarischen Opposition – im Streben nach Veränderung – letztlich den Weg der demokratischen Verfahren und der politischen Institutionen des Landes akzeptiert hat. Das war ein schmerzhafter Prozess. Aber gegen manchen Widerstand hat er viele junge Menschen mitgenommen und gewonnen, Jugendliche, die in teils scharfem Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland standen. Das hat ihm, auch als Parteivorsitzendem, das Leben nicht immer leicht gemacht – unserer Demokratie hat es gut getan.

Willy Brandts Haltung in diesen Fragen war gewiss nicht nur das Ergebnis kluger Reflexion. Das hatte auch etwas mit seinen Erfahrungen als Vater heranwachsender Söhne zu tun, wage ich zu vermuten.

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VIII.

Ich kann jetzt nicht alle Turbulenzen des Jahres 1972 nachzeichnen. Die Bundestagswahl wurde aus den bekannten Gründen auf den November vorgezogen. Sie hat gezeigt: Die Zustimmung zur Arbeit und Politik der sozialliberalen Koalition und des Bundeskanzlers war groß. Zu Recht haben wir alle damals von der „Willy-Wahl" gesprochen.

Selten aber hat eine Wahl auch so stark polarisiert. Natürlich ging es im Kern um Politik: Es ging um grundlegende Weichenstellungen in der Ost- und in der Deutschlandpolitik, in der Bildungs- und in der Innenpolitik. Festgemacht hat sich das alles aber an der Person Willy Brandt. Unter den Vorwürfen und Verleumdungen mancher Gegner hat er gelitten wie kaum jemand sonst. Von seinen Anhängern wurde er verehrt wie kaum jemand sonst. Einer seiner Biografen hat dazu bemerkt: „Die Massenveranstaltungen während des Wahlkampfes lassen mitunter einen ‚Willy’-Kult erkennen, der in einer regelrechten Verherrlichung des Kandidaten gipfelt."

Ich war dabei. Ich habe ihn mitverehrt.

Teile der Presse und manche seiner politischen Gegner haben ihn aber mit Schmähungen und Verleumdungen überzogen, die ihresgleichen suchen. Nicht nur für rechte Extremisten war er über Jahre und Jahrzehnte regelrecht ein Hassobjekt.

Der Zuspruch und die Begeisterung, die galten dem Aufbruch, für den seine Politik stand. Verehrt wurde aber auch er selber, Willy Brandt als Person – und das gewiss auch, weil dieser Mann, der Friedensnobelpreisträger, ein Mensch war, erkennbar mit Schwächen und Widersprüchen.

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Ein Mann einfacher Herkunft, der aufgestiegen war, der unbestreitbar Ehrgeiz hatte, der aber diesen Ehrgeiz nicht darauf beschränkte, Macht zu erreichen und zu behalten, sondern darauf, diese Macht einzusetzen für eine friedlichere, für eine gerechtere Welt. Ein Mann, der das Leben genoss und genießen konnte, obwohl er wusste, dass ihm auch daraus immer wieder ein Vorwurf gemacht werden konnte.

Nicht, dass die Menschen Willy Brandt wegen seiner Schwächen verehrt hätten – aber sie erkannten, dass er menschlich geblieben war – und dem schenkten sie Vertrauen. Willy Brandt hat die Herzen der Menschen erreicht, obwohl er zum Zögern neigte und obwohl er Problemen auch einmal aus dem Weg ging, wenn er an sich zweifelte und an seiner Umgebung litt.

Die Köpfe und die Herzen zu erreichen, das war für Willy Brandt kein Marketingkonzept. Er hat uns gezeigt: Man muss sich nicht kumpelhaft anbiedern und nicht verbiegen, wenn man Menschen für politische Ideen gewinnen will. Dieser Menschlichkeit Willy Brandts vertrauten sehr viele – und daraus bezog er auch eine ganz besondere Vollmacht: aus dem Vertrauen von Millionen im eigenen Land und weit darüber hinaus. Dies Vertrauen kam nicht daher, dass er auf alles die richtigen Antworten gehabt hätte, sondern daraus, dass er glaubwürdig war. Glaubwürdigkeit entsteht, wenn man tut, was man sagt, und sagt, was man tut. Er tat, was er sagte, und er sagte, was er tat.

Als Willy Brandt 1974 zurücktrat, haben manche in Deutschland geweint.

Für ihn hatte sein Rücktritt auch etwas Befreiendes. Nun konnte er sich ganz der Partei widmen, deren unbestrittener Vorsitzender er blieb, und der internationalen Arbeit. Es war seine Partei und er war ihr Vorsitzender. Das Regierungsamt mochte er gelegentlich auch als Fessel gefühlt haben, nun konnte er sich daran

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machen, die Partei weiter zu öffnen und sie zum Ansprechpartner für die neuen sozialen Bewegungen zu machen, denen er neugierig begegnete, aber auch mit der Erfahrung eines Mannes, der schon viel erlebt und gesehen hatte.

IX.

1976 übernimmt Willy Brandt eine neue Aufgabe: den Vorsitz der „Sozialistischen Internationale".

Er ist dreiundsechzig Jahre alt, aber er sieht sein Amt nicht als Honoratiorenposten – im Gegenteil. Er nutzt es, um sich dem zweiten großen Thema zu widmen, das ihn in der Außenpolitik bewegt: den Beziehungen zwischen Nord und Süd. Auf seinen vielen Reisen, die auch zu Lasten seiner Gesundheit gehen, lernt er mehr von den Problemen der Dritten Welt verstehen als wohl irgendein anderer Politiker des Nordens zu seiner Zeit.

Auf Bitte von Robert McNamara, der damals Präsident der Weltbank ist, übernimmt Willy Brandt den Vorsitz einer unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen. Im Februar 1980 legt er den Abschlussbericht der Nord-Süd-Kommission vor. Er ist so eng mit dem Namen Willy Brandts verbunden, dass er von Anfang an „Brandt-Report" genannt wird.

Im „Brandt-Report" ist die Sorge formuliert, ich zitiere: „dass im Jahr 2000 ein großer Teil der Weltbevölkerung weiterhin in Armut lebt". Leider ist es so gekommen, wie es da steht, obwohl eine andere Welt möglich gewesen wäre. Im „Brandt-Report" hieß es damals schon: „Noch nie hat die Menschheit über so vielfältige technische und finanzielle Ressourcen verfügt, um mit Hunger und Armut fertig zu werden. Die gewaltige Aufgabe

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lässt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille mobilisiert wird." Soweit der „Brandt-Report".

An den nötigen Ressourcen fehlt es heute weniger denn je, wohl aber am gemeinsamen Willen, jetzt umzusteuern und zu handeln. Der Gipfel von Johannesburg hat das, trotz aller Fortschritte, die ich nicht klein reden will, vor kurzem wieder sehr deutlich gemacht.

X.

Meine Damen und Herren, als die SPD im Herbst 1982 die Regierungsverantwortung verliert, wendet sich der Parteivorsitzende Brandt mit neuem Engagement und neuen Akzenten der Außen- und Sicherheitspolitik zu. Ihr Kernstück, die „zweite Ostpolitik", entsprang auch der Sorge, die neue Bundesregierung könnte durch einen Kurswechsel die Errungenschaften der siebziger Jahre in Frage stellen. Diese Sorge erwies sich im Wesentlichen als unbegründet. Ungeteilte Zustimmung hat diese „zweite Ostpolitik" freilich nicht gefunden.

Anfang der achtziger Jahre hat die SPD heftige Debatten und Auseinandersetzungen über die Frage geführt, wie der Friede sicherer und die Sicherheit friedlicher gestaltet werden kann. Darüber kam es zu Spannungen, auch in der engsten Parteiführung. Die Entscheidung fiel auf dem Kölner Parteitag von 1983. Sie alle wissen, wie unterschiedlich dieser Parteitag bis heute interpretiert und bewertet wird.

1987 tritt Willy Brandt unter Umständen zurück, die er sich selber gewiss ganz anders gewünscht hat. Das waren schmerzliche Momente für ihn, für die ganze SPD und für uns alle, die wir damals Führungsverantwortung trugen.

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In den Jahren 1989 und 1990 wird Willy Brandt Zeuge und Handelnder einer historischen Entwicklung, die ihren glücklichen Ausgang ganz wesentlich auch seiner politischen Lebensleistung verdankt.

Auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses, bei Massenkundgebungen in der DDR und schließlich auf den Stufen des Reichstagsgebäudes erlebt Willy Brandt mit, wie die fernen Hoffnungen, die sich mit der Politik des Ausgleichs und der Versöhnung mit dem Osten verbunden haben, überraschend schnell Wirklichkeit werden. Die staatliche Einheit war rasch vollzogen, die innere Einheit zu vollenden, dauert sehr viel länger. Kein anderes Wort hat diese Aufgabe wohl so treffend beschrieben wie sein Satz, dass jetzt zusammenwachsen muss, was zusammengehört.

Zehn Jahre nach seinem Tod, im Drama der Hochwasserkatastrophe diesen Sommers, ist es eigentlich erst so recht deutlich geworden: Dieses Land, dessen Menschen zusammengehören, das wächst nun auch zusammen.

Für den Erfolg der unblutigen Revolution von 1989 stehen zwei Begriffe, die das Handeln Willy Brandts immer bestimmt haben: Friede und Freiheit. In seiner Rede zum Abschied als Parteivorsitzender am 14. Juni 1987 hat er gesagt: „Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit. Die Freiheit für viele, nicht nur für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht."

Und er appellierte in dieser Rede an seine Partei, sich selber treu zu bleiben. Die Grundsätze, die er dabei in Erinnerung gerufen hat, hat keiner besser verkörpert als er selber. Die Partei, so sagte er, solle „bleiben, was sie im Kern seit mehr als hundert Jahren gewesen ist: Ein Zusammenschluss deutscher Patrioten mit

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europäischer Verantwortung und dem unverdrossenen Dienst am Frieden und sozialen Fortschritt - im Innern wie nach Außen." Soweit Willy Brandt.

Ihn hat es geschmerzt, dass die Zustimmung, die er selber während des Prozesses der Einheit erfahren hat, sich in den Wahlen des Jahres 1990 nicht gleichermaßen in Zuspruch für seine Partei niederschlug. Er hat darunter gelitten, dass Teile seiner Partei die historische Bedeutung dieser Entwicklung nicht wie er gesehen haben.

Willy Brandt hat beklagt, dass das Grundgesetz anlässlich der Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht die „demokratische Legitimierung einer freien Verfassung durch ein freies Volk" bekommen hat, wie er sich das gewünscht hatte.

XI.

Unsere Gesellschaft freier, gerechter, solidarischer – also menschlicher zu machen, darum ging es Willy Brandt. Er hatte Geschichtsbewusststein und Weitblick, seine große Gabe war es, Menschen zu faszinieren und für seine Vorstellungen zu gewinnen. Politische Phantasie zu politischem Handeln zu machen, aus Minderheiten Mehrheiten - das ist seine große Leistung gewesen.

In einer Welt der Beschleunigung, der Entgrenzung und der Umbrüche konnte er bestehen und die Zukunft gestalten, weil er tiefe und feste Wurzeln hatte: in seiner Herkunft, in seinen Überzeugungen und in seiner Heimat. Er hat für unser Land Opfer gebracht und gelitten, ihm ist Unrecht geschehen und er ist geschmäht worden – aber hat er nie einen Zweifel daran gehabt oder gelassen, dass Deutschland seine Heimat ist. Das machte seine Glaubwürdigkeit aus und das gab ihm ein Anse-

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hen, das er ummünzen konnte in Ansehen für unser Land. Das kommt uns noch heute zu Gute.

So konnte Willy Brandt sagen: „Kein Volk kann auf die Dauer leben, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, ohne in Stunden der inneren und äußeren Anfechtung zu stolpern, wenn es nicht ja sagen kann zum Vaterland."

Willy Brandt war gerne Deutscher. Er war ein Patriot. Über Patriotismus – er sprach von „nationalem Selbstbewusstsein" – hat er gesagt: Das „ist etwas anderes als Überheblichkeit und Überschätzung des eigenen Wertes gegenüber anderen Völkern. Es ruht in einem sicheren Urteil der eigenen Kraft, Leistung und Tugend – und deren eigener Begrenztheit."

Bruno Kreisky, der jüdische Österreicher, der ihm seit den Tagen der Emigration so nahe stand wie wenige seiner politischen Weggefährten, hat gesagt: „Willy Brandt hat nie aufgehört, ein Deutscher zu sein und dennoch das Vertrauen aller zu haben."

Das ist die Außensicht der Worte aus der Regierungserklärung von 1969, in der es heißt: „Wir wollen ein Volk guter Nachbarn sein und werden im Inneren und nach außen."

XII.

Wenn wir heute, auf den Tag zehn Jahre nach seinem Tod, und der Tag ist mir völlig gegenwärtig, Holger, wenn wir heute an ihn zurückdenken, dann wollen wir uns auch an den Menschen, an den Freund Willy Brandt erinnern. Wie kaum jemand, dem ich begegnet bin, hatte er die Gabe, Menschen für sich zu gewinnen: Mit Herzlichkeit und großem Charme, auch wenn er sich manchmal zurückzog, wenn sein Gesicht während eines Gesprächs fast maskenhaft wurde, mit Witz und mit seinem Ta-

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lent zu erzählen. Vor allem: mit einer großen Fähigkeit zur Selbstironie. Manche verbinden mit Willy Brandt Melancholie, Traurigkeit. Das ist gewiss nicht falsch. Weit mehr war sein Leben aber geprägt von der inneren Fröhlichkeit, die er ausstrahlte.

An den ganzen Willy Brandt wollen wir uns heute erinnern und an das, worum er sich sein Leben lang gemüht hat: „Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht dabei hilft, das Leben der Menschen etwas einfacher zu machen." So hat Willy Brandt es gesagt.

Er hat dazu beigetragen. Dafür sind ihm bis heute viele Menschen dankbar, bei uns in Deutschland und in allen Teilen der Welt.


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