FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO


Alfred Fellisch (1884-1973) - ein sächsischer Sozialdemokrat in fünf politischen Systemen : Horst-Springer-Stiftung für Neuere Geschichte Sachsens in der Friedrich-Ebert-Stiftung ; Rede anlässlich der Verleihung des Horst-Springer-Preises 1999 / Mike Schmeitzner - [Electronic ed.] - Bonn, 2001 - 35 KB, Text . - (Horst-Springer-Preisvorträge)
Titel nur online veröffentlicht. Adresse: http://library.fes.de/fulltext/historiker/01082.htm

© Friedrich-Ebert-Stiftung


INHALT




Die politische Laufbahn Alfred Fellischs vom Versammlungsleiter zum Gewerkschafter, Redakteur und Landtagsabgeordneten über den Posten des Wirtschaftsministers zum sächsischen Ministerpräsidenten sowie erneut zum Wirtschaftsminister erscheint auf den ersten Blick als eine "typische" SPD-Karriere in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Dieser Blickwinkel verschiebt sich freilich, wenn man die außerordentlich lange Wegstrecke von über 60 Jahren politischen Engagements betrachtet und seine damit verbundene Tätigkeit in fünf politischen Systemen - dem Kaiserreich, dem ersten sächsischen Freistaat, dem Dritten Reich, der SBZ bzw. dem Bundesland Sachsen nach 1945 und der frühen DDR. Diese enorme Zeitspanne hat mich veranlasst, in meinem Buch „Alfred Fellisch 1884-1973. Eine politische Biographie" (Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2000) von einer "Jahrhundertbiographie" zu sprechen, weil es keinen anderen sächsischen Politiker im 20. Jahrhundert gibt, der einen derartigen Weg vermessen hat. "Jahrhundertbiographie" meint also hier keinesfalls die Beschreibung einer herausragenden und für den Freistaat Sachsen dauerhaft prägenden Persönlichkeit, sondern die Darstellung einer Person, die teilweise Einfluss ausübte und über weite Strecken eher repräsentativen Charakter trug. Deshalb habe ich mich auch in methodischer Hinsicht für das Personifizierungskonzept entschieden.

Im Falle dieser "Jahrundertbiographie" ist natürlich die Frage nach der politischen Entwicklung des Protagonisten und dessen persönlichen Entscheidungen an Wendepunkten der sächsisch-deutschen Geschichte (so 1918/19, 1923/24, 1945/46) von zentraler Bedeutung. Hier ist zu fragen, ob sich Fellisch in den genannten fünf politischen Systemen jeweils pragmatisch für die von ihm dann ausgeübte Tätigkeit entschieden hat oder ob es früh ausgeprägte Konstanten seines politischen Denkens gegeben hat, die Fellischs Schritte beispielsweise nach 1918/19 oder nach 1945/46 gelenkt haben.

Nach eingehender Analyse aller verfügbaren Quellen ist die zweite Variante evident. Ja, mehr noch: Es ist geradezu auffällig, dass sich Fellischs politisches Engagement offensichtlich an zwei scheinbar gegensätzlichen Polen ausrichtete.

Zum einen lässt sich z.B. für die Jahre bis 1918 und die Zeit ab Mitte der 1920er Jahre eine betont reformorientiert-systemkonforme SPD-Ausrichtung nachweisen, zum anderen aber auch ein revolutionärer, auf sozialökonomische Umwälzungen abzielender Impuls in Zeiten der Systembrüche wie 1918/19 oder 1945/46. Hieraus ergibt sich auch eine zeitlich bedingte, völlig konträre Prioritätensetzung der Elemente Demokratie und Sozialismus.

Woraus resultieren nun diese beiden unterschiedlichen Handlungsimpulse? Lassen sie sich in bestimmten frühen Entwicklungsphasen Fellischs verorten oder mit bestimmten Ereignissen seiner politischen "Lehrzeit" verknüpfen?

Beobachtet man die frühe politische Entwicklung Fellischs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dann ist die Herausbildung einer doppelten disparaten Prägung, die mit seinem 29. Lebensjahr im wesentlichen abgeschlossen war, zu erkennen. Sie beinhaltete einerseits den reformerisch-lassalleanischen Handlungsimpuls und andererseits den handlungsbestimmenden sozialistischen Utopieentwurf parteimarxistischer Provenienz, der ihm in Zeiten revolutionärer Gärung als sofort realisierbar erschien. Beide Prägungen waren jeweils zu bestimmten Zeiten handlungsleitend, wobei es freilich Phasen gab, in denen diese Prägungen durch völlig neue Einflüsse zeitweilig überlagert wurden. Die reformerisch-lassalleanische Prägung hatte sich in Fellischs Jugendphase, in der er die im Familienhaushalt präsente Werkausgabe Ferdinand Lassalles und die von Paul Löbe redigierte "Breslauer Volkswacht" rezipierte, herauskristallisiert und durch seine ersten politischen Tätigkeiten als Gewerkschaftsfunktionär des Handschuhmacherverbandes und als Wahlkampforganisator verfestigt. Der kautskyanisch-sozialistische Impetus wurde dagegen bei einem Besuch Fellischs auf der zentralen SPD-Parteischule in Berlin 1912/13 grundgelegt. Hier vermittelten ihm u.a. Rosa Luxemburg und Karl Kautsky das Evolutionsschema des Historischen Materialismus; letzterer vor allem auf der Grundlage persönlicher Bekanntschaft außerhalb der Kurse sowie durch eine breite Rezeption seiner Werke durch Fellisch.

Mit dieser disparaten Prägung unterschied sich Fellisch in auffälliger Weise von der Mehrheit des sozialdemokratischen Führungskorps in Sachsen. Während z.B. Georg Gradnauer, Karl Sindermann, Robert Wirth oder Gustav Noske in allen Abschnitten ihres politischen Wirkens einer reformorientierten rechtssozialdemokratischen Strömung anhingen, Hermann Fleissner, Heinrich Brandler oder Fritz Heckert sich dagegen am marxistischen Parteizentrum bzw. der radikalen linken Ideologie ausrichteten oder innerparteiliche Konvertiten wie Paul Lensch die Richtungen wechselten, spiegeln die Biographie und das persönliche Profil Fellischs die politisch-programmatischen Grunddispositionen der Vor-Godesberger Sozialdemokratie in eindrucksvoller Weise wider.

Diese disparate Prägung sollte sich für ihn in den Jahren und Jahrzehnten nach 1913 als jeweils handlungsbestimmend erweisen, wobei in diesem Kontext charakterliche Züge wie z.B. Fellischs Anpassungsbereitschaft und sein Anlehnungsbedürfnis mit berücksichtigt werden müssen.

Dass sich eine der beiden Prägungen, nämlich die reformistische, unter systemstabilen Bedingungen und in einer entsprechend ausgerichteten Parteigliederung bis 1918/19 als handlungsbestimmend erwies, verdeutlichte Fellischs politische Entwicklung in der Chemnitzer SPD. Als "Ziehsohn" von Gustav Noske und Ernst Heilmann nahm er bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges gegen die linke radikale Minorität der Chemnitzer SPD um Heckert und Brandler Stellung, die das Prinzip der parlamentarischen Demokratie eindeutig der revolutionär zu erkämpfenden sozialistischen Gesellschaftsordnung unterzuordnen bereit waren. Im Weltkrieg profilierte sich Fellisch dann als Verfechter der Burgfriedenspolitik, so dass er, getragen durch das Vertrauen von Noske und Heilmann, Chemnitzer Schlüsselpositionen wie die eines Bezirksjugendausschussvorsitzenden, eines ordentlichen SPD-Redakteurs und eines Landtagsabgeordneten übernehmen konnte.

In der Novemberrevolution von 1918/19 zählte der talentierte Nachwuchspolitiker zu den entschiedensten und einflussreichsten Verfechtern einer Durchsetzung des repräsentativen Demokratiemodells. Es war der Antrag Fellisch-Chemnitz, der auf dem sächsischen Rätekongress Ende Dezember 1918 die Wahl einer Sachsen-Konstituante zum frühestmöglichen Zeitpunkt verlangte. Die Arbeiter- und Soldatenräte hatte Fellisch nur als notwendige revolutionäre Übergangsorgane betrachtet, die im Gegensatz zum Parlament die Interessen von nur einer Klasse verträten. Allerdings ist an dieser Stelle zu konstatieren, dass Fellisch im hochindustrialisierten Sachsen davon ausging, dass die Sozialdemokratie eine absolute parlamentarische Mehrheit erhalten würde, mit der dann wirtschaftssozialistische Maßnahmen realisiert werden könnten. Diese Vermutung erhielt ihre Be-stätigung durch die sächsischen Volkskammerwahlen vom Februar 1919, bei denen beide sozialdemokratischen Parteien die absolute Mehrheit der Stimmen und Mandate errangen.

Die mehrheitssozialistische Minderheitsregierung Gradnauer, die aufgrund des Dissenses zwischen der MSPD und der USPD über das Primat der parlamentarischen Demokratie bzw. des Räte-Systems entstanden war, unterstützte Fellisch als sachpolitisch profunder Redner in nahezu allen Politikbereichen und als glänzender Rhetoriker in den ersten Monaten ihrer Tätigkeit. Dies änderte sich in dem Maße, wie die von Fellisch erhoffte wirtschaftssozialistische Entwicklung ausblieb und sich politische Versäumnisse wie in der Frage der Beamten- und Reichswehrpolitik der Gradnauer-Regierung häuften. Als innerparteiliches Gegengewicht zur Gradnauer-Regierung und MSPD-Landesführung entstand so im September 1919 die von Fellisch und weiteren Kritikern gegründete linke "Chemnitzer Richtung" der Mehrheitspartei. Die durch den Weggang der Chemnitzer Spitze Noske/Heilmann und der Stärke der Chemnitzer KPD beförderte Plattform rückte die Sozialisierungs- und Planwirtschaftsfrage in den Vordergrund. Zu diesem Zeitpunkt wurde Fellischs zweite Prägung handlungsleitend. Denn im Gegensatz zu Gradnauer, Sindermann oder Wirth stellte für ihn im chancenreichen Jahre 1919 die bloße Verankerung des Prinzips der parlamentarischen Demokratie keinen hinreichenden Wert dar. Im Gegenteil: Dadurch, dass die neue Kräfteverteilung im deutschen parlamentarischen System die Etablierung wirtschaftssozialistischer Strukturen verhinderte, begann Fellisch im Verlaufe des Jahres 1919/20 an der Einrichtung dieses repräsentativen Demokratiemodells grundsätzlich zu zweifeln, da scheinbar auf diesem Weg der von ihm favorisierte und zu diesem Zeitpunkt von ihm als realisierbar erachtete sozialistische Utopieentwurf nicht ansatzweise zu verwirklichen war.

Interessant ist es in diesem Kontext, auf die Sozialismusvorstellungen Fellischs und seiner "Chemnitzer Richtung" hinzuweisen, die vor allem Ende 1919 und 1920 in der Theoriezeitschrift der Plattform, in der "Brücke", erörtert worden sind. Darin wird die Verbindung von überkommener parteimarxistischer Programmatik, die ihren Ausgangs- und Bezugspunkt im Erfurter Programm von 1891 hat, mit den aus der straff organisierten deutschen Kriegswirtschaft abgeleiteten planwirtschaftlichen Vorstellungen evident. Planung der Produktion und der Verteilung mittels eines zentralen Wirtschaftsamtes und einer Kartellierung einzelner Wirtschaftsbranchen wurde als entscheidende Vorstufe einer später ins Werk zu setzenden Sozialisierung angesehen. Für die Realisierung dieser sozialistischen Planwirtschaft mit zwangspolitischem Charakter wurde die enge Kooperation von MSPD und USPD bzw. deren Wiedervereinigung als notwendig erachtet und auch die Kooperation mit der KPD ins Kalkül gezogen. Dass dieses wirtschaftssozialistische Ziel gegenüber dem Leitbild des Verfassungsstaates zumindest im Frühjahr 1920 klare Priorität genoss, machte insbesondere Fellisch deutlich, als er die "formale Demokratie" nunmehr als sekundär betrachtete und eine Ausschaltung der bürgerlichen Parteien bei deren weiterer wirtschaftspolitischer "Blockadehaltung" als nötig bezeichnete. Im April 1920 prägte er dafür die Formel vom Sozialismus als "Hauptprinzip" und von der Demokratie als "Hilfsprinzip".

Im Laufe des Jahres 1920 wurden Politik und Programmatik der "Chemnitzer Richtung" zuerst in der mehrheitssozialistischen Fraktion und wenig später in der Partei dominant. Nach den Landtagswahlen im November 1920, bei denen die seit September 1919 miteinander koalierenden Parteien MSPD und DDP dramatische Verluste hatten hinnehmen müssen, setzte Fellischs "Chemnitzer Richtung" auch unter Androhung der Zerschlagung der eigenen Partei eine Koalition mit der von linksradikalen Kräften verlassenen USPD unter kommunistischer Tolerierung durch. Das so entstandene "linksrepublikanische Projekt" realisierte vornehmlich im Innen-, Justiz- und Kultusbereich zahlreiche Reformen.

Fellisch selbst wurde im Frühjahr 1921 sächsischer Wirtschaftsminister; er vermochte es freilich nicht, seine hochfliegenden wirtschaftssozialistischen Pläne zu verwirklichen. Nur mit Mühe konnte er die 1919 geschaffene "Landesstelle für Gemeinwirtschaft" aufrechterhalten. Erfolgreicher operierte er jedoch beim Ausbau und bei der Modernisierung der seinem Ministerium zugeordneten landwirtschaftlichen Staatsbetriebe.

Den Bestand der Regierungskoalition sicherte Fellischs "Chemnitzer Richtung" trotz mehrerer Angriffe vom rechten Flügel der MSPD auf den Landesparteitagen von 1921 und 1922. Auch auf Reichsebene gehörte der Chemnitzer Bezirk zu den Vorreitern eines Bündnisses bzw. einer Vereinigung mit der USPD, von der er sich einen Neubeginn in der Sozialisierungsfrage versprach. Nach der Fusion von MSPD und USPD in Sachsen und einer damit verbundenen innerparteilichen Flügelneubildung sowie dem Umzug Fellischs nach Dresden Anfang 1923 verlor die "Chemnitzer Richtung" erheblich an politischer Bedeutung. Diese innerparteiliche Entwicklung und Fellischs angeschlagenes Ansehen als Wirtschaftsminister im Krisenjahr 1923 eröffnete dem von ihm geförderten Justizminister Erich Zeigner den Weg ins Ministerpräsidentenamt. Dessen erstmals vertraglich geregeltes Tolerierungsmodell mit der KPD gipfelte Anfang Oktober 1923 in eine auch von Fellisch unterstützte SPD-KPD-Koalition, die Ende Oktober durch die militärische Besetzung Sachsens und eine Reichsexekutionsverordnung zerschlagen wurde. Noch am gleichen Tag installierte die Berliner Reichsführung ein sächsisches Reichskommissariat unter Leitung des DVP-Politikers Rudolf Heinze.

Um das Reichskommissariat so schnell wie möglich zu beenden, einigte sich die Mehrheit der Landtagsfraktion mit Unterstützung des Parteivorstandes am 30.10.1923 gegen den mehrheitlichen Willen der Landesgremien auf die Konstituierung einer Minderheitsregierung mit linksliberaler Tolerierung. Mit Fürsprache Zeigners übernahm der frühere Wirtschaftsminister Fellisch das Amt des Ministerpräsidenten. Dieser Schritt vereitelte die von maßgeblichen Reichswehrkräften und den rechtsbürgerlichen Parteien geforderte Weiterführung des Reichskommissariats mit dem Ziel der Bildung einer rein bürgerlichen Regierung. Eine erfolgreiche Realisierung der von Reichswehr und Reichskommissar avisierten Ausschaltung der sächsischen SPD als führender Regierungspartei, die Bildung eines Bürgerblockkabinetts und eine Liquidierung des bis dahin Erreichten hätten das "linksrepublikanische Projekt" in seinen Grundfesten erschüttert und schließlich unwiderruflich vernichtet. Insofern eröffnete die Existenz der Regierung Fellisch - anders als in Thüringen mit dem freiwilligen Wechsel der SPD in die Opposition - die perspektivische Behauptung des bislang Erreichten. Selbst als die von Fellisch geführte Minderheitsregierung mit linksliberaler Tolerierung Mitte Dezember 1923 zum Rücktritt gezwungen wurde, war der langjährige Wirtschaftsminister des "linksrepublikanischen Projektes" nicht bereit, die jahrelange, auf tiefgreifende gesellschaftliche Reformen abzielende Regierungsarbeit durch eine überstürzte, in sozialen Notzeiten vorgenommene Landtagsauflösung und eine dann ermöglichte Bürgerblockregierung leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Anders als der linkssozialistische Flügel der Partei hatte er auch erkannt, dass die nun offen linksradikal und antidemokratisch auftretende KPD als Kooperationspartner für einen längeren Zeitraum ausfallen würde und deshalb eine zeitweilige Annäherung an die DVP notwendig erschien.

Mit dieser Betrachtungsweise war bei Fellisch der in der Zeit nach 1919 handlungsbestimmend gewordene sozialistische Utopieentwurf in den Hintergrund gerückt. Hatte er bereits seit ca. 1921 aufgrund der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen immer mehr von einer grundlegenden sozialistischen Umgestaltung Abstand nehmen müssen, so orientierte er jetzt nur noch auf eine Wahrung des bis dahin Erreichten. Der reformerisch-lassalleanische Handlungsimpuls war nun wieder der beherrschende geworden.

Als Anfang 1924 die Mehrheit der SPD-Landtagsfraktion und die Abgeordneten von DDP und DVP den bisherigen sozialdemokratischen Finanzminister Heldt zum neuen Ministerpräsidenten wählten und kurz darauf eine Regierung der Großen Koalition installierten, optierte Fellisch trotz seiner Kritik am Disziplinbruch der Rechtssozialdemokraten grundsätzlich für dieses Regierungsmodell. In der Folgezeit zählte er zu den aktivsten Gesetzgebungsgestaltern der Großen Koalition und des sächsischen Parlaments. Wirtschaftssozialistische Vorstellungen der Kommunisten und eines Teils seiner eigenen Partei trafen bei ihm ob deren vermeintlicher Realitätsferne nur noch auf beißenden Spott und Häme. Sein Versuch, die bald als "Sachsenkonflikt" der SPD bezeichnete fraktionelle und innerparteiliche Spaltung der Sozialdemokratie mit einer "Mittelfraktion" zu überbrücken, endete 1926 in einem persönlichem Debakel. Der nun endgültig dominierende linkssozialistische Flügel der SPD verhinderte Fellischs Kandidatenaufstellung zum Landtag. Dieser Ausgang bedeutete zugleich sein Ende als sächsischer Landespolitiker.

Seine weitere politische Entwicklung war durch die Übernahme des Postens eines Amtshauptmanns von Großenhain in der Zeit von 1924 bis 1932 stark geprägt. In dieser Funktion sah sich Fellisch statt des bisher ihm vertrauten industriellen und arbeiterschaftlichen Mili-eus mit einer berufsspezifischen Dominanz der Landwirtschaft und deren konservativen Interessenvertretern konfrontiert. Unter diesem Einfluss distanzierte er sich Ende der 1920er Jahre immer stärker von sozialdemokratischen Positionen und verließ Anfang der 1930er Jahre sogar die SPD. Damit wird deutlich, dass ein bestimmtes Amt und ein damit verkoppeltes Umfeld sehr wohl auch einen parteilich klar verortbaren Politiker prägen können. Andererseits korrespondierte mit dieser Entwicklung ein feststellbarer opportunistischer Zug, da der Posten des von ihm sehr hoch geschätzten Amtshauptmanns von Großenhain Fellisch samt seiner vierköpfigen Familie die existenzbewahrende und auch gesellschaftliches Ansehen garantierende Basis sicherte.

Diese mehrjährige Entwicklung blieb jedoch nach seiner, längere Zeit dauernden, beruflichen und gesellschaftlichen Ausgrenzung nach 1933 und der hier wieder aufgenommenen Verbindung zu sozialdemokratischen Weggefährten von einst nur Episode. Im Spätsommer 1945 trat er der wiedergegründeten SPD Sachsens bei. Auf deren erstem Landesparteitag Anfang Oktober 1945 war es dann Fellisch, der als Mitverantwortlicher für die Verwirklichung der Bodenreform deren rücksichtslose Durchsetzung allein aus weltanschaulich-sozialistischen Gründen forderte. Wie schon bei der Diskussion über die personelle Erneuerung in der Verwaltung griff Fellisch hier auf eigene Erfahrungen der Umbruchsituation von 1918/19 zurück. Damals sei die Sozialdemokratie an ihrer Halbherzigkeit und Schwäche bei der Umsetzung des eigenen marxistischen Programms gescheitert. Die Weimarer Demokratie sei demzufolge nur ein "Schutz- und Trutzbündnis" für das Kapital gewesen. Mit seiner Formel von der "neuen Demokratie" vollzog Fellisch 1945 einen Rückgriff auf die programmatischen Thesen der "Chemnitzer Richtung": Demokratisierung auf wirtschaftlichem Gebiet durch Enteignungen, Vergesellschaftungen, Sozialisierungen, zentralistische Wirtschaftsplanung und personelle Erneuerung der staatlichen Verwaltungen. Insofern erscheint es gerechtfertigt, Fellischs politischen Ansatz vom Spätsommer und Herbst 1945 als "nachholende Revolution" auf sozialökonomischem und personellem Gebiet zu charakterisieren.

Ausgangspunkt und Grundlage dieses politischen Selbstverständnisses war die durch die "sozialistische Besatzungsmacht" herbeigeführte Umbruchsituation von 1945. Fellisch begriff diese Zäsur als einmalige historische Chance, den auf der SPD-Parteischule als weltanschauliche Grundlage aufgenommenen sozialistischen Utopieentwurf nach dem ersten Fehlschlag von 1918/19 doch noch realisieren zu können. Demgegenüber traten bei ihm und einem Teil der SPD der Gedanke und die Wirklichkeit einer "formalen Demokratie" in den Hintergrund. Wie schon im April 1920 erklärte er auch jetzt den Sozialismus zum "Hauptprinzip" und die Demokratie zum "Hilfsprinzip". Auch in dieser Frage fand also ein Rückgriff auf Programmatik und Politik der "Chemnitzer Richtung" statt.

Mit dieser politischen Sicht empfahl sich Fellisch für höhere Aufgaben in der neugebildeten Landesverwaltung Sachsen. Die "Sowjetische Militäradministration für Sachsen" (SMAS) und Sachsens Innenminister Kurt Fischer (KPD) beriefen den Sozialdemokraten Anfang November 1945 als Landrat von Annaberg und im Mai 1946 zum Ministerialdirektor und Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. In seiner neuen Stellung bewährte sich Fellisch sowohl als verlässlicher Motor bei den von der SMAS verordneten Umwälzungen im gesellschaftlichen und sozialökonomischen Bereich als auch in der Frage einer Vereinigung von SPD und KPD. Seine Argumentation für die Schaffung einer Einheitspartei glich dabei derjenigen von 1919 bis 1922, als er als Führer der "Chemnitzer Richtung" eine "Große Arbeitsgemeinschaft des Proletariats" und eine sozialistische Einheit als notwendig bezeichnet hatte, um die "bürgerliche Reaktion" überwinden zu können. Als Wirtschaftsminister Selbmann im Zuge der Zentralisierung der ostzonalen "Deutschen Wirtschaftskommission" (DWK) Anfang 1948 als Vizepräsident nach Berlin wechselte, wurde sein bisheriger Stellvertreter Fellisch im April des Jahres als Ressortchef berufen. Bis zu seinem gesundheitlich bedingten Zusammenbruch Ende September 1948 war er als eher defensiv agierender Ressortchef ohne innerparteiliche Verankerung für den in jenen Monaten stattfindenden wirtschaftlichen Autonomieverlust Sachsens ebenso verantwortlich wie für die besonders von ihm vorangetriebene Genossenschaftsbewegung sowie die Ausweitung des volkseigenen Sektors und die (ihm allerdings zu rasch erfolgende) Zentralisierung der ostzonalen Planwirtschaft. Anfang 1949 wurde der fast 65-jährige kränkelnde, politisch zögerliche und den parteimarxistischen Auffassungen der SPD verhaftete Politiker im Zuge der Transformation der SED in eine bolschewistische "Partei neuen Typus" durch einen jüngeren Kader ersetzt.

Um ihm einen würdevollen Abgang zu verschaffen, übertrugen ihm SED und Landesregierung das Direktorat der Sächsischen Landesbibliothek (SLB), welches er bis 1952 inne hatte. Aus dieser Zeit, genauer: vom Oktober 1951, stammt eine erst vor wenigen Monaten publizierte Quelle, die Fellischs Sicht auf die gesellschaftliche Entwicklung in der SBZ/DDR vermittelt. Im letzten Band der soeben erschienenen Tagebücher Viktor Klemperers von 1950-1959 notierte der Gelehrte über ein Treffen mit Fellisch in der Landesbibliothek: "Wirklich kennen lernte ich ihn erst jetzt. 67 Jahre, die man ihm nicht ansieht, seit 49 Jahren bei der Partei, via Wirtschaftsminister in Sachsen. Er schüttete mir mit größter Verbitterung sein Herz aus. Junge 150 %ige Burschen schikanierten ihn, Vorschriften, die er vor Bürgerlichen u. vor dem eigenen Gewissen nicht verantworten könne. Schopenhauer musste aus dem Lesesaal entfernt werden. Ein wichtiges antifaschistisches holländisches Werk zum Thema der Wirkung Hitlers auf das Ausland darf nicht angeschafft werden, weil es 'von Hitler handelt', wichtige alte Adressbücher wurden verbrannt, weil Titel wie 'Sturmbannführer' und dergleichen drinstanden. Weiter Unzufriedenheit der Arbeiterschaft: ... Fellisch: 'wir haben die Masse nicht mehr hinter uns, der Contakt der Führenden mit ihr fehlt, sie fahren im Auto statt in der Elektrischen."

Diese Notate Klemperers umreißen den quellenmäßig frühesten Zeitpunkt von Fellischs Kritik an der Entwicklung in der DDR. Seine Kritik und seine Enttäuschung bezogen sich dabei aus der Sicht des SLB-Direktors und ehemaligen Sozialdemokraten auf die kulturlose Bilderstürmerei von Kommunisten, auf persönlich erlittene Schikane durch ideologisch monolithisch geschulte Jung-Kader der Partei und auf die Herausbildung einer neuen privilegierten Schicht bzw. Klasse von Parteifunktionären. Aber, und dies gilt es festzuhalten, einen Bruch mit der Partei bedeuteten diese Einsichten und die "Verbitterung" darüber (noch) nicht. Noch glaubte Fellisch an systemimmanente Reformen, um den von ihm gewollten Wirtschaftssozialismus auf teildeutschem Boden langfristig sichern zu können. Eine reformierte Partei schien ihm hierfür die geeignete Kraft.

Es bedurfte noch einer längeren Wegstrecke als Radebeuler Kulturbundfunktionär und Rentier, um hier ein generelles Umdenken auszulösen. Erst weitere Enttäuschungen, die sich aus den negativen Auswirkungen des zentralistischen Planwirtschaftssystems, der seit 1949/50 deutlich spürbaren Abwesenheit von Pluralismus und innerparteilicher Demokratie sowie seiner offensichtlichen Observation durch das MfS ergaben, veranlassten ihn zum intensiveren Nachdenken über die Gesamtentwicklung. Unter dem Einfluss des Radebeuler Kulturbundvorsitzenden und Altsozialdemokraten Helmuth Rauner ging er ab Mitte der 1950er Jahre verstärkt zum DDR-System auf Distanz. Als nach 1961 der Freiraum für örtliche Kulturbundstrukturen noch massiver beschnitten wurde, verzichtete Fellisch auf die Weiterausübung seiner Funktionen 1963 freiwillig.

Im letzten Jahrzehnt seines nun passiven politischen Lebens waren es drei Entwicklungen und Zäsuren, die die bis Anfang der 1960er Jahre erreichte Distanz zum DDR-System zu einem irreversiblen Bruch ausreifen ließen: erstens das kirchliche Engagement des Sohnes, das den Vater zur familiären Solidarität gegen den Staat veranlasste, zweitens die blutige Niederschlagung des von ihm mit großen Hoffnungen begleiteten Prager Frühlings 1968 sowie drittens die von ihm nun erstmals als Alternative zur DDR betrachtete bundesdeutsche Entwicklung ab 1969. Mit Willy Brandts Kanzlerschaft und der jetzt von ihm akzeptierten Godesberger Programmatik der SPD als reformerisch-lassalleanischer Gestaltungsvariante konnte sich Fellisch nach dem offensichtlichen Scheitern des sozialistischen Utopieentwurfs in der DDR und aufgrund seiner disparaten Prägung fast vollständig identifizieren, obgleich er bis zu seinem Tode 1973 formal SED-Mitglied blieb.

In seinen handschriftlich angefertigten Notizen aus den Jahren 1971/72, die quasi als sein politisches Testament betrachtet werden können, erhielt nun wieder der Begriff der Demokratie Vorrang gegenüber dem Begriff des Sozialismus - so wie im Winter 1918/19 oder nach 1923/24. Fellisch stellte nunmehr fest: "Große soziale Probleme und Aufgaben, die mit den Interessen einer großen Masse von Menschen zusammenhängen, lassen sich niemals durch Gebot einer guten Lösung entgegenführen, sondern müssen in demokratischer Weise gelöst werden ... Eine große Massenpartei kann daher auf die Dauer nur Großes und Erhabenes leisten, wenn sie nicht vergisst, innerparteilich eine unentbehrliche Demokratie zu pflegen. Das ist meine feste Überzeugung aus meiner sehr alten Erfahrung meines sehr langen politischen Lebens. Vergessen wir das besonders als Sozialdemokraten nie."

Es hatte nahezu 25 Jahre gedauert, ehe Fellisch durch eigene bittere Erfahrungen den Charakter des diktatorischen DDR-Sozialismus erkannt und für sich selbst geistig aufgearbeitet hatte. Dass er überhaupt noch mit fast 90 Jahren in der Lage war, die Pole seines politischen Denkens noch einmal zu durchmessen und die 1945/46 scheinbar endgültig fixierte Formel vom Sozialismus als "Hauptprinzip" und von der Demokratie als "Hilfsprinzip" in ihr Gegenteil zu verkehren, belegt sowohl seine menschliche wie auch seine geistig-politische Größe. Fellischs Entwicklung bis 1973 zeigt darüber hinaus eine grundsätzliche Problematik der sächsischen bzw. mitteldeutschen Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert: nämlich die Frage der Prioritätensetzung von Demokratie und Sozialismus vor dem Hintergrund eines ideologisch manifestierten Konstrukts der Einheit der Arbeiterbewegung. In der Beantwortung dieser Fragestellung zugunsten des einen oder anderen Elements nach 1945/46 und zugunsten späterer Einsichten (wie bei Fellisch) liegt zugleich die Größe und Tragik dieser regional verankerten Partei.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001