FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 24 ]


II. Bernsteins Kampf für die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld

Eduard Bernstein hatte bis 1918 nicht im Zentrum der aktiven Politik gestanden, weder in den leitenden Gremien seiner Partei, also Parteivorstand, Kontrollkommission und dem seit 1912 bestehenden Parteiausschuss, noch innerhalb der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der er von 1902 bis 1907 und dann ununterbrochen seit 1912 angehört hatte.

In der am 10. November 1918 gemeinsam von MSPD und USPD gebildeten Revolutionsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, übernahm Bernstein das Amt eines Unterstaatssekretärs im Reichsschatzamt, wurde aber auch auf dem Feld der Außenpolitik sofort nach der Revolution aktiv: Am 11. November richtete er, zusammen mit fünf Genossen aus MSPD und USPD, an den Führer der schwedischen Sozialdemokratie Hjalmar Branting die Bitte, die Internationale möge, gerade auch in den gegen Deutschland verbündeten Ländern, ihren Einfluss für die Erleichterung der Waffenstillstandsbedingungen geltend ma-

[Seite der Druckausg.: 25 ]

chen. [GERHARD A. RITTER (Hg.): Die II. Internationale 1918/19. Protokolle, Memoranden, Berichte und Korrespondenzen, 2 Bde., Bonn/ Berlin 1980, Bd. 2, Dok. 16, S. 741f. Mitunterzeichner waren von den Unabhängigen Oskar Cohn und Kautsky, aus der MSPD Hermann Müller, Hermann Molkenbuhr und Wilhelm Pfannkuch. Brantings Antwort an Bernstein in: Schulthess’ Europäischer Geschichtskalender. Hg. v. Wilhelm Stahl. Neue Folge, 34. Jg. 1918, München 1922, Bd. 1, S. 470.]
Zwei Tage später traf Bernstein in der Schweiz ein und versuchte, Kontakt zu einem Vertrauensmann der französischen Regierung, möglichst zu einem Sozialisten, aufzunehmen. Er hatte in seinem Telegramm an den französischen Botschafter in der Schweiz Paul Dutasta unter Hinweis auf die instabile politische Lage in Deutschland um unverzügliche Lebensmittellieferungen nachgesucht und die Entente davor gewarnt, »durch Maßnahmen und Forderungen ihrerseits die Demobilisierung des deutschen Heeres zu überstürzen«. Seine Mission hatte keinen Erfolg, ein Treffen mit einem ihrer Vertreter lehnte die französische Regierung ab, obwohl Dutasta Bernsteins Initiative nicht vollkommen negativ bewertet hatte. [HENNING KÖHLER: Novemberrevolution und Frankreich. Die französische Deutschland-Politik 1918-1919, Düsseldorf 1980, S.110 f., 176. Köhlers herablassende Bewertung dieser Initiative Bernsteins (»als ob solche [französische Sozialisten; T.L.] zur Regierungskoalition gehört hätten«) entspricht seiner Haltung gegenüber sämtlichen Initiativen aus dem pazifistischen und linken Milieu, insbesondere seiner Haltung gegenüber Eisner. Dagegen: HEINE MANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 284, Anm. 175.]

Ende November berief die Regierung der Volksbeauftragten, sowohl um alliierten Vorwürfen entgegentreten zu können, als auch um die tatsächlichen Vergehen zu ahnden, eine »Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland« unter Lei- tung des international renommierten Marburger Völkerrechtlers und Vordenkers der Völkerbundbewegung Walther Schücking; neben zwei beratenden, aber auch stimmberechtigten Militärs

[Seite der Druckausg.: 26 ]

saßen sechs weitere Mitglieder in der Kommission, darunter von den Unabhängigen Bernstein und Oskar Cohn. [REICHSGESETZBLATT, Nr. 169 v. 30.11.1918 [Verordnung über Zusammensetzung und Geschäftsgang der Kommission zur Untersuchung der Anklagen wegen völkerrechtswidriger Behandlung der Kriegsgefangenen in Deutschland]. Am 15.9.1920 wurde die Kommission per Kabinettsbeschluss aufgelöst. Dazu und zum Folgenden: DETLEV ACKER: Walther Schücking (1875–1935), Münster 1970, S. 133-137.]
In diesem Gremium, das vor allem durch den Freispruch im »Fall Fryatt«, der Erschießung eines englischen Handelskapitäns, bekannt geworden ist, sammelte Bernstein erste Erfahrungen hinsichtlich der Schwierigkeit, bei der Untersuchung von Schuldfragen in einer nach demokratischen Prinzipien gebildeten und arbeitenden Kommission, in der unterschiedliche Auffassungen über Recht und Unrecht, über den Staat und Begriffe wie Ehre herrschten, zu konsensfähigen Urteilen zu kommen. Er hatte, ebenso wie Cohn, im erwähnten Fall gegen Freispruch votiert.

Ein »treuer Ekkehard des Amtes« sei der Unterstaatssekretär Bernstein gewesen, sagt Eugen Schiffer, der leitende Staatssekretär im Reichsschatzamt, in seinen Memoiren. Bernstein habe sich »in die Versammlungen seiner eigenen Leute« begeben, »in denen über mich hergezogen werden sollte, kämpfte wie ein Löwe für das Reichsschatzamt und erstattete mir schweißtriefend und triumphierend Bericht. Es war ein rührender Mensch.« [EUGEN SCHIFFER: Ein Leben für den Liberalismus, Berlin 1951, S. 220f. Schiffer berichtet – nicht ohne Selbstgefälligkeit und in sehr bezeichnender Weise für die Einstellung, die die wegen ihres Sachverstandes in ihren Ämtern belassenen ›bürgerlichen‹ Staatssekretäre gegenüber den ihnen zugewiesenen ›Kontrolleuren‹ hegten –, dass er Bernsteins Zimmer »derartig mit Akten zugepflastert« habe, »daß der Wissensdurst des neuen Mannes mehr als befriedigt war« und das für die parlamentarischen Unterstaatssekretäre vorgesehene Mitzeichnungsrecht mit der Hilfe Eberts für Bernstein zu dessen Erleichterung [!] außer Kraft gesetzt habe. Bernstein selbst über seine Tätigkeit im Finanzministerium in: Entwicklungsgang (wie Anm. 1), S. 237. Zum Ausscheiden Bernsteins vermerkt das Protokoll der SPD-Frak tions sitzung vom 12.2.1919, dass sich »verschiedene Redner gegen das Verbleiben Bernsteins auf seinem bisherigen Posten erklärt« haben. Die SPD-Fraktion in der Nationalversammlung 1919–1920, eingel. v. Heinrich Potthoff, bearb. v. dems. u. Hermann Weber, Düsseldorf 1986, Dok. 8, S. 21.]
Hinter Bernsteins »Eifer« vermutete Schiffer aber

[Seite der Druckausg.: 27 ]

auch »eine Erwartung: er sollte mit seiner Frau nach England fahren, um dort diplomatische Geschäfte zu erledigen. Er hoffte wohl, daß er, der viele Jahre des Exils in England verbracht hatte, zum Botschafter in London oder vielleicht sogar zum deutschen Außenminister ausersehen sei.« [SCHIFFER (wie Anm. 40), S. 221.] Mit Sicherheit ist diese Bemerkung Schiffers, was Bernsteins Eifer betrifft, eine Unterstellung; Aspirationen auf das Botschafteramt in London scheint Bernstein aber tatsächlich gehegt zu haben, jedenfalls ist er der deutschen Regierung von englischer Seite für diese Funktion vorgeschlagen worden. [RITTER (Hg.): Die II. Internationale (wie Anm. 37), Bd. 2, Dok. 89 [Aufzeichnungen von Müller Heymer über Unterredungen mit Arthur Henderson und Ramsay MacDonald], S. 853. – Bernstein hielt den Diplomatenstand für eine in Zukunft überflüssig werdende reaktionäre Institution; im Reichstag bezeichnete er ihn 1913 als ein Überbleibsel »aus dem Zeitalter des beschränkten Menschenverstandes«. Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstags, XIII. Leg., 1. Sess., 1913, Bd. 289, S. 4741 [Sitzung v. 14.4.1913]. Vgl. auch BERNSTEIN: Die Demokratisierung der Diplomatie, in: DERS.: Sozialdemokratische Völkerpolitik. Die Sozialdemokratie und die Frage Europa. Gesammelte Aufsätze, Leipzig 1917, S. 34-57, S. 56f. – In Deutschland hätte Kurt Eisner Bernstein gern im Auswärtigen Amt gesehen: Die Regierung Eisner 1918/19. Ministerratsprotokolle und Dokumente, eingel. u. bearb. v. Franz J. Bauer unter Verwendung der Vorarbeiten v. Dieter Albrecht, Düsseldorf 1987, Dok. 14b, S. 84.]
Und das Auswärtige Amt, das seit Ende Dezember 1918 von dem ehemaligen Botschafter in Kopenhagen Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau geleitet wurde, einem Diplomaten, der schon im Krieg keinerlei Berührungs-

[Seite der Druckausg.: 28 ]

ängste auch gegenüber linken Sozialdemokraten gehabt hatte, setzte durchaus auch auf die diplomatischen Kanäle der Sozialdemokratie, als er sich darum bemühte, die erwarteten harten Friedensbedingungen durch eigene Vorschläge und Initiativen zu mildern. [Zu Brockdorff-Rantzaus Strategie für die Friedensverhandlungen: HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 35-47; LEO HAUPTS: Deutsche Friedenspolitik 1918-19. Eine Alternative zur Machtpolitik des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1976, S. 404-415.]

Page Top

II.1. Sachverständiger der Friedensdelegation (1919)

Die Friedensverhandlungen in Versailles sollten von deutscher Seite durch eine sechsköpfige Friedensdelegation, auch engere Friedensdelegation genannt, geführt werden, welcher zum einen als Kommissare bezeichnete Vertreter der einzelnen Reichsministerien, zum anderen so genannte Sachverständige zur Seite gestellt wurden. Nachdem zunächst vor allem Wirtschaftsfachleute zu Sachverständigen ernannt worden waren, beschloss das Kabinett am 18. März 1919 die Erweiterung um »einige Personen von internationalem Ruf [...] (insbesondere Prof. Brentano, Prof. Aeroboe, Prof. Max Weber, Prof. Bonn – München –; Ed. Bernstein), ferner einen Vertreter der Zionisten [...], der katholischen [...] und der evangelischen Kirche [...]. Dabei war der Grundgedanke, Persönlichkeiten zu finden, welche die Wiederanknüpfung internationaler Beziehungen jeder Art erleichterten, als Köpfe von Weltruf, das Reich würdig repräsentierten und eine unwürdige Behandlung erschwerten.« [Das Kabinett Scheidemann. Bearb. v. Hagen Schulze, Boppard 1971, Nr. 16 (Kabinettssitzung vom 18.3.1919), S. 64. Mit der Zusammenstellung der Kommission war Mitte Januar begonnen worden. Ein Teil dieses Sachverständigenrates (Liste A), unter ihnen auch Bernstein, sollte mit nach Versailles, eine zweite Gruppe (Liste B) sollte der Delegation und dem Kabinett in Berlin zur Verfügung stehen.]

[Seite der Druckausg.: 29 ]

Bereits auf der ersten Sitzung der Friedensdelegation, an der Bernstein teilnahm [Bernstein bittet zu Beginn der Sitzung am 27.3.1919 um Aufklärung über »die Aufgaben, Rechte und Pflichten der Beiratsmitglieder«; er habe bisher nur telegrafisch seine Ernennung mitgeteilt bekommen: PA AA R 23154 Geschäftsstelle für Friedensverhandlungen. Protokolle und Protokollmaterial, Bd. 98, Besprechung betreffend Finanzkommission v. 27.3.1919. Das Telegramm: IISG NL BERNSTEIN D 77 [Telegramm Brockdorff-Rantzau v. 23.3.1919].] , kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Bankier Max Warburg über die Kriegsschuldfrage. Am Vortag hatte die deutsche Regierung in einer an die britische Regierung gerichteten Note die von Großbritannien am 7. März 1919 geäußerte Auffassung, wonach »die Verantwortlichkeit Deutschlands für den Krieg längst unzweifelhaft festgestellt« sei, zurückgewiesen. [PETER KRÜGER: Deutschland und die Reparationen. Die Genesis des Reparationsproblems in Deutschland zwischen Waffenstillstand und Versailler Friedensschluß, Stuttgart 1973, S. 147. Ebd. auch das folgende Zitat. Die Noten: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Hg. u. bearb. v. Herbert Michaelis u. Ernst Schraepler, Berlin (W) 1958ff., Bd. 3, S. 332, Dok. 706a (britische Note v. 7.3.), Dok. 706b (deutsche Note vom 26.3.; hier das falsche Datum 30.3., s. KRÜGER, S. 147, Anm. 108).]
Die Reichsregierung habe damit, so bewertet Peter Krüger diese Antwort, die Kriegsschuldfrage erneut zur Debatte gestellt, »und der Hinweis, daß gerade diejenigen, die über Deutschland richten sollten, ›zum Teil gleichfalls der Schuld geziehen‹ würden, war eine klare Kampfansage. Die Erörterung dieses Problems auf der Friedenskonferenz um der Reparationen willen war damit kaum noch zu umgehen, wenn auch seine Erforschung auf die Zukunft verschoben werden sollte.«

Auf der Tagesordnung der Besprechung der Sachverständigen stand nicht die Kriegsschuldfrage, sondern die vom Obersten

[Seite der Druckausg.: 30 ]

Wirtschaftsrat der Alliierten an die deutsche Regierung ergangene Einladung, einen aus sechs Mitgliedern bestehenden kleinen Wirtschaftsrat nach Versailles zu entsenden, der mit der Finanzabteilung des Obersten Wirtschaftsrats über Kredit- und Währungsfragen beraten sollte. Den zweiten Teil dieser Sitzung bildete ein Referat Warburgs, in welchem er die finanzielle Lage Deutschlands darlegte, Reichsvermögen und Reichsschulden annähernd zu beziffern suchte und die Möglichkeit einer Erhöhung des Steueraufkommens erwog. Er begann seine Ausführungen mit sechs Voraussetzungen, die seiner Einschätzung der finanziellen Lage Deutschlands für die nächsten zwei Jahre zu Grunde lagen: 1. Aufhebung des Wirtschaftsembargos und sonstiger Handelsschranken; 2. Erhalt der wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit Deutschlands; 3. militärische Abrüstung von allen Seiten; 4. Erhalt der deutschen Kolonien; 5. Restitutio in integrum bzw. Schadenersatz an von den Kriegsgegnern geschädigte Auslandsdeutsche, Nichtbeschlagnahme ausländischer Vermögen von Deutschen, Wiederherstellung der internationalen Zahlungsfreiheit; 6. im Falle von Gebietsabtretungen die Forderung nach Sukzession der Schulden durch die »Annexionisten«. Unter diesen Voraussetzungen sei Deutschland in der Lage, »weiter zu leben, als ehrliche Leute unsere Schulden zu zahlen, unsere Verpflichtungen überall zu erfüllen«. [PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Besprechung betreffend Finanzkommission v. 27.3.1919, S. 21.]
»Unbedingt nötig« aber sei, so schloss Warburg seine Ausführungen: »[...] daß wir, wenn wir unter diesen Voraussetzungen unsere Wirtschaftslage wieder aufbauen wollen, die Schuldfrage am Kriege von vornherein verneinen, was wir mit vollkommenem Recht können. Ich weiß, Sie sind nicht meiner Ansicht, Herr Bernstein. (Heiterkeit.) Die Schuldfrage als solche möchte ich teilen in eine causa proxima und eine causa remota. Über die causa proxima habe ich kein eigenes Urteil, da ich die Weltakten noch nicht kenne. Was die causa remota betrifft, so bin ich aber schon heute der festen Überzeugung, daß Deutschland an dem

[Seite der Druckausg.: 31 ]

Kriege nicht mehr Schuld hat als alle anderen Länder (sehr richtig!), diesen Standpunkt müssen wir mit aller Energie verfechten. [...] Jetzt ex post uns eine Schuld zuschieben zu wollen, weil wir nach dem Kriege hoffen, auf Grund einer anderen Weltauffassung zu leben, ist ein Unrecht, und ich möchte – das ist auch der Zweck, weshalb wir uns unterhalten –, daß wir in Privatgesprächen einheitlich nach außen auftreten und die Schuldfrage, soweit die causa remota in Frage kommt, zurückweisen. Sonst können wir unsere Zahlungen gleich einstellen und brauchen nicht zu reisen, denn dann kommen wir mit unseren Gegnern überhaupt nicht zu einem Resultat.« [Ebd., S. 24ff. Da auch die folgenden Zitate. Der Wortwechsel Warburg – Bernstein ist abgedruckt bei: KRÜGER (wie Anm. 46), S. 148-150.]

Bernstein widersprach: Er halte aus seiner Kenntnis der »Mentalität der Völker« ein anderes taktisches Vorgehen für zweckmäßig. Die weitere Vergangenheit könne man unerörtert lassen. Es sei auch nicht die Frage, »ob wir schuldig sind. Ich möchte Sie bitten, das Wort ›wir‹ mit großer Vorsicht zu behandeln; es wird in keinem Punkte mehr gesündigt und gefehlt als mit dem Wort ›wir'. (Warburg: Unsere Vorgänger!) Ja, das ist die Sache. Deutschland ist heute eine Republik und hat mit dem alten System gebrochen. Es muß doch eines gesagt werden: daß das neue Deutschland nicht mit dem alten Deutschland gleichbedeutend, solidarisch ist; die Solidarität muß abgewiesen werden, und gerade indem man sie abweist, stellt man das neue Deutschland viel sicherer vor dem Ausland, als es bisher der Fall war.«

Man habe »sozusagen aus den Gefühlen heraus, denen die Ausführungen des Herrn Vorredners Ausdruck gaben, eine Solidarhaft konstruiert [...], sagen wir zunächst eine moralische, die man aber dann in eine ökonomische umwandelte«. Im Sommer 1914 seien die englische und die französische Regierung durchaus friedenswillig gewesen, die ersten Kriegserklärungen seien »auf Grund ganz irrealer Tatsachen« von Österreich und

[Seite der Druckausg.: 32 ]

Deutschland ausgegangen: »Diese Tatsache – nehmen wir nicht einmal das Wort ›Schuld‹, sagen wir ›Verantwortung‹ – bestreiten kann sie niemand, und je mehr wir uns auf den Standpunkt dessen stellen und das anerkennen, was wir den Völkern und Staatsmännern drüben nicht ausreden werden, um so eher werden wir sie zu Konzessionen bereit finden, um so mehr zeigen wir, zeigt das neue Deutschland, daß man mit dem alten gebrochen hat.«

Wilsons Position sei, wie ihm ein amerikanischer Gewährsmann gerade berichtet habe [Von diesem Gespräch berichtet Bernstein ausführlich in einem Schreiben an das Auswärtige Amt, abgedruckt in: RITTER (Hg.): Die II. Internationale (wie Anm. 37), Bd. 2, Dok. 79, S. 830 [Eindrücke und Beobachtungen im Anschluß an den Berner Internationalen Sozialistenkongreß von Eduard Bernstein].] , außerordentlich geschwächt »durch die Reden und Ernennungen in Deutschland«, welche den Eindruck vermittelten, »daß das neue Deutschland in gewissen Fragen sich noch gar nicht von dem alten Deutschland unterscheide«. Er glaube, »daß, wie ja auch im privaten Leben ein ehrliches Bekenntnis der erste Weg zur Verständigung ist, dies auch hier der Fall ist«.

Warburgs Erwiderung aus der Perspektive des »Finanzpraktikers und Bankiers« – denn persönlich habe er sich von der Politik der kaiserlichen Regierung bereits vor dem wie im Krieg distanziert – benennt die entscheidende Differenz gegenüber Bernsteins Auffassung: »Es handelt sich darum, daß wir diesen Leuten gegenüber – [...] weil wir sonst auf eine sehr schlechte finanzielle Unterhandlungsbasis kommen – mit Stolz erklären: Wir sind in die allgemeine Kriegslage hineingetrieben worden infolge der Verhältnisse, wie sie früher existiert haben; ihr habt uns wirtschaftlich nicht aufkommen lassen (Bernstein: Ach, das reiche Deutschland!), wir haben während der ganzen Zeit uns wirtschaftspolitisch nicht ausdehnen können, sei es in der einen oder andern Weise. Ich kenne die Vorverhandlungen des Kolo-

[Seite der Druckausg.: 33 ]

nialabkommens mit England und weiß, wie schwer es uns gemacht wurde, politisch uns auch nur etwas auszudehnen.«

Gerade gegen diese Legende, daß England Deutschland ›den Platz an der Sonne‹ verwehrt habe, hatte Bernstein seit seiner Rückkehr nach Deutschland 1901 unermüdlich publizistisch zu wirken versucht. [BERNSTEIN: Die englische Gefahr und das deutsche Volk, Berlin 1911. Dies ist eine vom Jenaer SPD-Parteitag 1911 offiziell als Aufklärungsschrift von Bernstein angeforderte Broschüre; außerdem zahllose Artikel Bernsteins in Zeitungen und Zeitschriften.]

Max Weber, der an der Sitzung am 27. März nicht teilgenommen hatte, nutzte seine erste Wortmeldung in der folgenden Sitzung, gegenüber Bernstein zu der »völlig sterilen Schuldfrage« zu bemerken, er sei von amerikanischen Gesprächspartnern explizit gebeten worden, »diesen Schuldbekenntnissen endlich entgegenzutreten«. [PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Sitzung v. 29.3.1919, S. 44; abgedruckt in: MWG I/16, S. 261. Ebd. auch die folgenden Zitate. Vgl. die gegen Eisner gerichtete Passage über das Kriegsschuldbekenntnis als Beispiel für in der Politik schädliche Gesinnungsethik in Webers berühmtem Vortrag »Politik als Beruf« in: MWG I/17, S. 232f.] Sein gegenüber angelsächsischen Gesprächspartnern vertretener Standpunkt, »entweder sprechen wir als Gentlemen oder als alte Jungfern, im letzten Falle sprechen wir von ›Schuld und Sühne‹«, habe durchweg deren Billigung gefunden. Es sei doch auffällig, »daß unter vier Augen Unterhandlungen in dieser Form zu verlaufen pflegten, öffentlich dagegen in der Form, die Herr Bernstein für unvermeidlich hält«. Bernsteins Erwiderung, auch seine englischen Freunde forderten, den Blick nach vorn, nicht zurück zu richten; er habe sich lediglich dem Ansinnen Warburgs, »daß die Schuldfrage absolut abzuweisen sei« [PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Sitzung v. 29.3.1919, S. 45.] , entgegengestellt, konnte die grundsätzliche Differenz zwischen der Haltung Bernsteins, der zum einen ein Schuldbekenntnis, zum anderen eine entschiedene Trennung zwischen altem und neuem System forderte, und dem Stand-

[Seite der Druckausg.: 34 ]

punkt Warburgs und Webers, jegliches Schuldbekenntnis strikt abzulehnen, nicht überbrücken.

Max Weber hatte, gemeinsam mit dem Prinzen Max von Baden, zur Abwehr der alliierten Schuldvorwürfe bereits am 3. Februar in seinem Haus in Heidelberg die Arbeitsgemeinschaft für eine Politik des Rechts – meist kurz Heidelberger Vereinigung genannt – ins Leben gerufen, in der er renommierte Wissenschaftler und andere Personen des öffentlichen Lebens, die sich im Krieg nicht durch Zustimmung zu annexionistischen Kriegszielen kompromittiert hatten, zum gemeinsamen Protest gegen die angebliche Kriegsschuldpropaganda der Westmächte und für die Forderung nach einer wissenschaftlichen Untersuchung der Schuldfrage versammelte. Der erste öffentliche Aufruf der Arbeitsgemeinschaft sprach von einer »gemeinsamen Schuld aller kriegführenden Großmächte Europas«, protestierte dagegen, dass die Siegermächte gegenüber Deutschland als Richter aufträten, um »imperialistische Kriegsziele« zu verwirklichen, und forderte die Einsetzung eines unparteiischen, neutralen Gremiums zur objektiven Untersuchung der Schuldfrage. [Die Erklärung ist abgedruckt im Anschluss an den Gründungsvortrag Max von Badens für die Heidelberger Vereinigung in: Pr Jbb, Bd. 175 (Jan.-März 1919), S. 319f., Zitate ebd.] Die Erklärung unterzeichneten 22 »durchweg hochkarätige Wissenschaftler mit untadeligem demokratisch-pazifistischem Hintergrund; die Hälfte von ihnen gehörte der DDP an«. [DREYER/LEMBCKE (wie Anm. 10), S. 102.] Bernstein war dieser Zusammenschluss nicht nur aus der Presse bekannt. Auf der Internationalen Völkerbundkonferenz, einem Pazifistenkongress, der vom 6. bis 13. März 1919 in Bern stattgefunden hatte und auf dem Deutschland mit 34 Teilnehmern von 18 verschiedenen Organisationen im Vergleich zu den übrigen Ländern deutlich überrepräsentiert war, hatten sowohl Bernstein als Delegierter der Zentralstelle Völkerrecht [DIETER FRICKE: Zentralstelle Völkerrecht, in: DERS. (Hg.): Lexi kon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), 4 Bde., Leipzig 1983ff., Bd. 4, S. 507f.] als auch der Völker-

[Seite der Druckausg.: 35 ]

rechtler Albrecht Mendelssohn-Bartholdy und der ehemalige kaiserliche General Graf Max von Montgelas, der 1914 aus Protest gegen den Einmarsch in Belgien seinen Abschied aus der Armee genommen hatte, als Vertreter der Arbeitsgemeinschaft für eine Politik des Rechts teilgenommen. Bereits dort war es zwischen der Gruppe der bürgerlichen Antiannexionisten, die den Positionen der Arbeitsgemeinschaft nahe stand, und den von der deutschen Kriegsschuld überzeugten so genannten entschiedenen Pazifisten zu scharfen Auseinandersetzungen über die Schuldfrage gekommen. [PA AA R 20533 Der Weltkrieg 2 d , Bd. 2, Pazifistenkongresse in der Schweiz, Internationale Völkerbundkonferenz Bern 6.-13.3.1919; LUDWIG QUIDDE: Der deutsche Pazifismus während des Weltkrieges 1914-1918. Aus dem Nachlaß Ludwig Quiddes hg. v. Karl Holl, Boppard 1979, S. 230. – Zur Auseinandersetzung um die Kriegsschuldfrage in der deutschen Friedensbewegung zu Beginn der Weimarer Republik: ROLF R. SCHLÜTER: Probleme der deutschen Friedensbewegung in der Weimarer Republik, Diss. Bonn 1974, S. 53-91.]
Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass Warburgs Plädoyer gegen ein Schuldbekenntnis ganz gezielt an den zur Friedensdelegation neu hinzugekommenen Bernstein gerichtet war, um ihm den quasi offiziellen Standpunkt der Delegation, der demjenigen des Außenministers Brockdorff-Rantzau entsprach, deutlich zu machen; darauf deutet auch das Verhalten Webers in der folgenden Sitzung.

Bernstein bemühte sich noch einige Wochen um konstruktive Mitarbeit in der Friedensdelegation. Die Sitzung am 31. März sollte dazu dienen, ein positives Programm zur »Judenfrage« vorzubereiten, welches die deutsche Verhandlungsposition auf der Friedenskonferenz und vor der Weltöffentlichkeit verbessern sollte. [Der Vorsitzende Graf Bernstorff erläuterte zu Beginn, »ähnlich wie bei der Völkerbund- und der Sozialen Frage«, sei Deutschland vielleicht in diesem Punkt in der Lage, »den Feinden mit einem positiven Programm entgegenzutreten«, welches nicht nur »die prinzipielle Frage« löse, sondern auch »in anderer Richtung taktisch nützlich ist, indem wir ein Programm entwickeln, das uns die Sympathien der Welt wieder vermittelt« und den Beweis erbringe, dass in Deutschland tatsächlich ein neuer Geist herrsche. PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Besprechung über Judenfrage v. 31.3.1919, S. 1. Ebd. auch das folgende Zitat.]
Der Forderungskatalog umfasste Gleichberechtigung

[Seite der Druckausg.: 36 ]

und Gleichstellung, »nationale und kulturelle Autonomie in den neugebildeten Staaten in dem von den Juden geforderten Umfang«, die Beseitigung von Einwanderungs- und Wanderverboten und anderes mehr. In den Überlegungen zu einem östlichen Autonomiegebiet bzw. einem unabhängigen ostjüdischen Staat, dem er, da das Bedürfnis danach zumindest »transitorisch« vorhanden sei, nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehe, erkannte Bernstein jedoch die »machiavellistische« Absicht der deutschen Seite, »der polnischen Nation eine andere gegenüberzusetzen«. [Ebd., S. 31f. Entschieden warnte Rathenau vor diesem Vorschlag, den er »für ein sehr schweres internationales Präjudiz« hielt, das auch auf Deutschland würde Anwendung finden können. Ebd., S. 24.]
Wenig glaubwürdig erschien Bernstein und anderen jüdischen Teilnehmern die Forderung nach Abschaffung diskriminierender Einreisegesetze, wenn die anwesenden Vertreter des Reichsamts des Innern die deutsche Absperrung gegenüber polnischen Juden im Krieg immer noch mit der angeblichen Seuchengefahr, die von diesen ausgegangen sei, zu rechtfertigen suchten. [So die Geheimräte Lenz (ebd., S. 3f.) und Hering (S. 9); Widerspruch vom Vorsitzenden des Central-Vereins der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens Dr. Fuchs (S. 6) und von Bernstein (S. 8 u.ö.).]

Auf der Sitzung vom 5. April standen »Militär- und Marinefragen« zur Debatte. Bernstein meldete sich sofort zum ersten Diskussionspunkt – der Allgemeinen Wehrpflicht und der Befürchtung, die Alliierten könnten die Abschaffung derselben verlangen – zu Wort und empfahl zu diesem Thema »das bedeu-

[Seite der Druckausg.: 37 ]

tende Buch von Jean Jaurès«. [PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Besprechung betreffend Armee und Marine v. 5.4.1919, S. 3. Ebd. ff. auch die folgenden Zitate. Der Titel, den Bernstein nicht nennt, lautet: JEAN JAURÈS: L’Armeé nouvelle, Paris 1912 (dt. 1913).]
Er selbst stehe für den Fall, dass Deutschland nur eine nicht ausreichend leistungsfähige Armee werde aufstellen können, auf dem Standpunkt, »der gar nicht so abstrus ist, daß gar keine Wehrmacht mir lieber ist als eine ungenügende. Wenn man zu einem wirklichen Völkerbunde kommen will, dann muß man sich fragen: wozu die Ausgaben, wozu die Gefahr, wozu das alles? Zunächst würde der radikalste Vorschlag sein – und den würde ich einnehmen – überall das Heer abzuschaffen und nur so viel Sicherheitsmannschaften übrigzulassen, um die Ordnung im Innern aufrechtzuerhalten. Ich glaube, die Welt könnte dabei sehr gut existieren, die Völker könnten damit sehr gut auskommen und das wäre dann der Ausgangspunkt.«

Als die Militärs ihre Überlegungen zur Verkleinerung des Heeres durch Verkürzung der Dienstzeit vorgerechnet hatten, forderte Bernstein von ihnen Realismus. Es handle sich darum, »welche Vorschläge man unter Umständen, und mindestens mit dem Eindruck der Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit machen soll«. Deutschland werde beträchtliche Gebiete und damit auch an Bevölkerung verlieren, neben Elsass-Lothringen auch »große Teile von Posen, wahrscheinlich auch Stücke von Oberschlesien«. Mit einem »Nein!« wies der Vorsitzende diese letzte Annahme zurück und bestätigte auf Bernsteins Nachfrage, dessen sei er sich sicher. Darauf Bernstein: »Ich hoffe es auch, aus einer Reihe von Gründen. Aber ich sage, nehmen wir einmal das Extrem an und gehen wir davon aus [...].« Bernstein verlangte exakte Zahlen, worauf General von Wrisberg antwortete, er könne »Positives noch nicht sagen«, diese Besprechung diene dem Zweck, die Wünsche und Anregungen der Sachverständigen zu hören, es gebe noch keinen »endgültigen Standpunkt«. Wrisberg kam auf weitere Forderungen der Entente zu sprechen,

[Seite der Druckausg.: 38 ]

in einigen Punkten werde man wohl nachgeben können, nicht aber »bezüglich der Zerstörung usw. von strategischen Bahnen, die wir angelegt haben«, denn man könne beweisen, dass diese nicht »lediglich strategischen Zwecken dienen«. Bernstein bezweifelte das. Nach sehr gewundenen Erklärungen verschiedener Militärs stellte er noch einmal klar, er sei, wie die Mitglieder der Kommission wüssten, der Ansicht, »daß wir bei den Verhandlungen am besten mit der vollen Wahrheit fortkommen«; stimme das Gesagte, dann sei es »sehr wünschenswert [...], daß man für die Behauptungen auch Beweise hat [...]«.

Mit insgesamt 16 Wortmeldungen war Bernstein unter den Zivilisten der aktivste Sitzungsteilnehmer. Er habe, sagte er selbst gegen Ende der Sitzung, »nicht den besonderen Wunsch als advocatus diaboli aufzutreten« [PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Besprechung betreffend Armee und Marine v. 5.4.1919, S. 21.] , doch das war die Rolle, die er, trotz seines Bemühens, die Dinge auch vom Standpunkt der Militärs aus zu sehen, hier einnahm. Die Empfehlung der Lektüre eines französischen Sozialisten, der Vorschlag an die Militärs, die Armee, also sich selbst abzuschaffen, sowie Bernsteins als Tabubruch empfundener Hinweis auf den zu erwartenden Verlust von Teilen Oberschlesiens sind schlagende Beispiele dafür, dass er seine persönliche Überzeugung nicht zurückhielt: Er sagt, was er denkt; taktische Rücksichten auf den Horizont, das Weltbild und die Befindlichkeiten seiner Gesprächspartner sind ihm fremd. Seine Rückfragen an die Militärs haben zudem streckenweise einen geradezu inquisitorischen Ton. Diese wiederum vermitteln in der Besprechung den Eindruck, als hätten sie immer noch nicht das Ausmaß der Niederlage realisiert, geschweige denn eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der an sie von den Alliierten gestellten Forderungen.

Bernstein hat sein Mandat in der Friedensdelegation kurz nach dieser Sitzung niedergelegt. Im Nachhinein stellte er resigniert fest: »Ich gehörte dem Beirat für die Friedensbedingungen an [...]. Ich sollte mit nach Versailles. Ich habe abgelehnt. Was

[Seite der Druckausg.: 39 ]

sollte ich hinter den Kulissen, zum Handeln wäre ich ja doch nicht gekommen. Aber das ist eine Frage für sich. Im Beirat habe ich zu meinem Erstaunen bemerkt, daß diese Großkaufleute und Großindustriellen, mit denen ich zusammen war, eigentlich in der Politik Kleinkrämer sind, daß sie die Grundsätze, die sie im Geschäftsleben beachten, in der Politik nicht verstehen. Man wollte an allem herumkramen und hat sich damit das Spiel verdorben.« [Der Sozialistentag. Protokoll der Konferenz für Einigung der Sozialdemokratie im ehemaligen Herrenhause zu Berlin vom 21.–23. Juni 1919, in: Protokolle der Parteitage der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 5 Bde., ND Glashütten i. T. 1975, Bd. 1: 1917-1919, S. 32.]

Die von Weber und Warburg vertretene Position zur Kriegsschuldfrage wurde, zu einem gewichtigen Gutachten ausgearbeitet, den Alliierten in Versailles – übrigens gegen den ausdrücklichen Wunsch des Kabinetts – am 28. Mai 1919 überreicht. [Dazu und zur Entstehung der Denkschrift, die »in einer geschickten Mischung aus juristischer Unschulds- und politischer Unfähigkeitserklärung« die alliierten Vorwürfe weitgehend zurückwies und auf umfangreichen Vorarbeiten des Auswärtigen Amtes beruhte: DREYER/LEMBCKE (wie Anm. 10), S. 146-153; Zitat ebd., S. 147. Sie ist abgedruckt in: BERLINER TAGEBLATT, Nr. 253 v. 3.6.1919 [Ueber die Schuldfrage].] Unterzeichnet war diese so genannte »Professoren-Denkschrift« von Max Weber, Albrecht Mendelssohn-Bartholdy, dem Historiker Hans Delbrück sowie dem Grafen Montgelas. Sie alle gehörten der Heidelberger Vereinigung an.

Bereits im November 1918 hatte die Regierung der Volksbeauftragten Karl Kautsky in seiner Funktion als Beigeordneten im Auswärtigen Amt und den mehrheitssozialdemokratischen Beigeordneten im Reichsamt des Innern Max Quarck mit der Sichtung und Herausgabe der deutschen Akten zum Kriegsausbruch beauftragt. Kautsky hatte diese Arbeit im März 1919 abgeschlossen, doch das Kabinett Scheidemann konnte sich auf

[Seite der Druckausg.: 40 ]

Grund des »niederschmetternden Eindrucks« [HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 41.] trotz des grundsätzlichen Willens zu einer sofortigen Veröffentlichung nicht entschließen. Zunächst wurde die Publizierung verschleppt, schließlich wurden im August 1919 Montgelas und Schücking mit der erneuten Überarbeitung der Edition beauftragt: Es sollte ein für Deutschland günstigeres Bild entworfen werden. [Zur Aktenedition: DREYER/LEMBCKE (wie Anm. 10), S. 62f., 113-117, 199-208; HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 40f., 75-78. Die Hauptarbeit der Revision besorgte Montgelas, Schücking gab »wie so oft in den folgenden Jahren [...] im Grunde genommen nicht viel mehr als seinen im In- und Ausland hoch geschätzten Namen für ein offiziöses Projekt her«. Ebd., S. 76.]
Die stärkste Kraft in der Regierungskoalition, die Mehrheitssozialdemokratie, die schon in Versailles Brockdorff-Rantzau nach seinen Vorstellungen hatte walten lassen, gewährte den national gesinnten bürgerlichen Kräften also auch in Bezug auf die Aktenedition den Vortritt. Eine Auseinandersetzung mit dieser somit quasi offiziellen Haltung zur Kriegsschuldfrage fand in der deutschen Öffentlichkeit kaum statt, wenngleich sich die im Bund Neues Vaterland organisierten Intellektuellen um eine kritische Debatte bemühten. Ganz besonders engagierten sich dort in dieser Frage der radikaldemokratische Publizist Hellmut von Gerlach, der zur Unabhängigen Sozialdemokratie gehörende ehemalige leitende »Vorwärts«-Redakteur Heinrich Ströbel und Bernstein. [DIETER FRICKE: Bund Neues Vaterland (BNV). 1914-1922, in: DERS. (Hg.): Lexikon (wie Anm. 55), Bd. 1, S. 351-360; OTTO LEHMANN-RUSSBÜLDT: Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte (vormals Bund Neues Vaterland) für den Weltfrieden 1914-1927, Berlin 1927.]

[Seite der Druckausg.: 41 ]

Page Top

II.2. Außenpolitischer Referent des MSPD-Parteitags (Juni 1919)

Die Führung der Mehrheitssozialdemokratie hatte seit der Revolution eine innerparteiliche Diskussion um ihre Kriegspolitik mit Erfolg weitgehend vermeiden können. In Anbetracht der Zerreißprobe, in der sich die sozialdemokratisch geführte Koalitionsregierung aus MSPD, Zentrum und DDP wegen der Frage der Annahme oder Ablehnung der alliierten Friedensbedingungen im Juni 1919 befand, hatte der Parteivorstand das Thema Außenpolitik auch auf dem ersten Nachkriegsparteitag, der vom 10. bis 15. Juni in Weimar stattfand und erstmals die Möglichkeit zu einer breiteren Aussprache über die Kriegspolitik von Reichstagsfraktion und Parteiführung geboten hätte, nicht vorgesehen. [Die Alliierten hatten der deutschen Delegation in Versailles am 7. Mai ihre Friedensbedingungen überreicht; mit Ausnahme der USPD lehnten alle deutschen Parteien diese Forderungen ab; deutsche Gegenvorschläge am 28. Mai; zum Zeitpunkt des Parteitags wartete die Regierung also auf die Antwort der Alliierten, die am 16. Juni eintraf und eine Frist von fünf Tagen zur Annahme oder Ablehnung einräumte; Scheidemann hatte sich schon weitgehend auf ein »Nein« zum Vertrag festgelegt. Zur Reaktion der SPD auf den Vertragsentwurf: MILLER: Bürde (wie Anm. 10), S. 274-280; WINKLER: Von der Revolution (wie Anm. 10), S. 218-220.] Dass jedoch der Kreis Teltow-Beeskow den Antrag stellen werde, die Außenpolitik auf die Tagesordnung zu setzen und seinen Delegierten Bernstein zum Referenten zu bestellen, hatte schon am 19. Mai im »Vorwärts« gestanden. [VORWÄRTS, Nr. 254 v. 19.5.1919 [Kreisgeneralversammlung von Teltow-Beeskow]. Vgl. auch Bernsteins Artikel »Richtige Fragestellung. Qualifiziertes oder unqualifiziertes Nein« in: VORWÄRTS, Nr. 245 v. 14.5.1919; »Wann und wie Volksabstimmung« in: ebd., Nr. 258 v. 21.5.1919. – Die Rede, mit der Brockdorff-Rantzau am 7. Mai auf die Bekanntgabe der alliierten Friedensbedingungen reagiert hatte, hat Bernstein als einen schweren politischen Fehler angesehen: BERNSTEIN: Die deutsche Revolution (wie Anm. 19), S. 250.]

[Seite der Druckausg.: 42 ]

Deutliche Kritik an der Kriegspolitik der Partei artikulierte ein zu Beginn des Parteitags eingebrachter Antrag aus Jena: Die Bewilligung der Kriegskredite, hieß es dort, sei unter der Voraussetzung eines Verteidigungskrieges erfolgt, inzwischen sei aber offensichtlich, dass mindestens Teile der 1914 in Deutschland regierenden Kreise mit dem Ziel von Eroberungen bewusst auf einen Krieg hingearbeitet hätten. Folglich sei die Kriegspolitik der MSPD, insbesondere auch das Festhalten an dieser Politik, das zur Kriegsverlängerung beigetragen habe, falsch gewesen. Der Parteitag wurde aufgefordert, »die Haltung der Reichstagsfraktion während des Krieges als nicht im Interesse des deutschen Volkes, wie insbesondere der Arbeiterklasse gelegen« zu bedauern. [Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands abgehalten in Weimar vom 10. bis 15. Juni 1919. Bericht über die 7. Frauenkonferenz abgehalten in Weimar am 15. und 16. Juni 1919, ND Glashütten i.T./Bonn 1973, S. 102, Antrag Nr. 183.]
Otto Wels, der den Parteitag mit dem Vorstandsbericht eröffnete, wandte sich gleich zu Beginn seiner Rede scharf gegen diesen Antrag: »Unsere Kriegspolitik war von Anfang an eine Friedenspolitik, sie hat uns das Vertrauen des gesamten deutschen Volkes errungen, weit über die Kreise und Schichten hinaus, die der Sozialdemokratie während des Krieges aus politischer Überzeugung Gefolgschaft geleistet hatten. Deshalb ist es unverständlich, wenn heute an den Parteitag Anträge kommen, wie der aus Jena unter Nr. 183. Das Vertrauen, das das deutsche Volk der Sozialdemokratie ausgesprochen hat, auch bei den Wahlen am 19. Januar, beweist die Richtigkeit unserer Kriegspolitik.« [Ebd., S. 141. Diese Behauptung ging jedoch selbst dem Vorstandsmitglied Adolf Braun zu weit, vgl. ebd., S. 189.]

Bernstein sprach im Anschluss an den Reichskanzler Philipp Scheidemann, der in seinem Referat mit Blick auf den drohenden Friedensvertrag zur Außenpolitik nur sehr knapp Stellung genommen hatte. Scheidemanns Ausführungen über die allge-

[Seite der Druckausg.: 43 ]

meine Grundlage einer sozialistischen Außenpolitik könne er ohne weiteres zustimmen, doch solche allgemein gehaltenen grundsätzlichen Erklärungen reichten in der gegenwärtigen Lage nicht aus. [Bernsteins Rede: ebd., S. 240-249. Dazu: MILLER: Bürde (wie Anm. 10), S. 280-282; WINKLER: Bernstein als Kritiker (wie Anm. 19), S. 212-214.]
Der Resolutionsentwurf, den Bernstein vorbereitet hatte, tat eben das, was Scheidemann vermieden hatte: Er folgerte aus den generellen Grundsätzen einer sozialdemokratischen Außenpolitik, aus ihrer Verpflichtung auf die Prinzipien Internationalismus, Vertragspolitik und Freihandel, die sich bei Grundsatztreue daraus in der aktuellen politischen Lage ergebenden außenpolitischen Positionen: 1. Maßgeblich für die sozialdemokratische Außenpolitik seien die Beschlüsse der Sozialistischen Internationale, insbesondere die im Februar in Bern gefassten Beschlüsse [In der Schlussresolution der 1. Konferenz der II. Internationale nach dem Krieg in Bern Anfang Februar 1919 hieß es zur »unmittelbaren Verantwortung des Krieges«, diese Frage sei für die Internationale geklärt »durch die Erklärung der deutschen Mehrheit, die den revolutionären Geist des neuen Deutschland und dessen völlige Loslösung von dem für den Krieg verantwortlichen alten System bekundet hat«. Im Hinblick auf die Friedensverhandlungen verwarf die Berner Konferenz ausdrücklich jedes »Recht der Sieger auf Beute« und forderte, den internationalen Beziehungen das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu Grunde zu legen. RITTER (Hg.): Die II. Internationale (wie Anm. 37), Bd. 1, Dok. 46a, S. 316 (Resolution).] ; »ihre internationale Gesinnung« werde die Partei »durch ihre politische Haltung wie durch Beweise unmittelbarer Solidarität« zu bekräftigen suchen, also das durch ihre Kriegspolitik verlorene Vertrauen durch besondere Anstrengungen wieder zu erwerben bestrebt sein. 2. Angestrebt werde der gleichberechtigte freundschaftliche Verkehr mit allen Völkern, gegen Dritte gerichtete Sonderbünde lehne die Partei ab. Damit wandte sich Bernstein nicht nur gegen die alte »Staatenpolitik«, sondern auch gegen die »kontinentalpolitische« Strömung inner-

[Seite der Druckausg.: 44 ]

halb der Sozialdemokratie um Max Cohen und den Kreis der »Sozialistischen Monatshefte«, denen ein Bündnis Deutschland - Frankreich - Russland vorschwebte. Punkt 3 benannte den Schlüssel für eine friedliche internationale Politik: Freizügigkeit und Freihandel. Die Punkte 4 bis 7 bekannten sich zur Übernahme der Verantwortung für Kriegsschuld und Kriegsschäden: 4. Wiedergutmachung »bis an die äußerste Grenze« der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; 5. »absoluter« Bruch mit der Politik des Kaiserreichs, denn »jede Halbheit in der wichtigen Frage der Verantwortungen für den Ausbruch des Weltkrieges muß das Vertrauen der Völker in die Wahrheit der Republik beeinträchtigen«; 6. hinsichtlich der »allgemeinen Ursachen des Krieges« schließe sich der Parteitag der Erklärung der Sozialisten der Entente-Staaten von 1915 an [Darin werden als »die allgemeinen und tiefen Ursachen« des Krieges, an denen »alle Regierungen ihr Teil der Verantwortlichkeit tragen«, die »Gegensätze, welche die kapitalistische Gesellschaft zerreißen, sowie die aggressive Kolonial- und imperialistische Politik« genannt, doch »der Einfall der deutschen Armee in Frankreich und Belgien bedroht die Existenz der Nationen und untergräbt den Glauben an Verträge«. Nach: Protokoll PT Weimar (wie Anm. 69), S. 246.] ; 7. die deutsche Regierung habe für rücksichtslose Feststellung der persönlichen Verantwortungen an Kriegsausbruch und Art der Kriegsführung zu sorgen. Die Punkte 8 und 9 signalisierten, trotz Einwänden, die Zustimmung zu dem von den Alliierten vorgelegten Friedensvertrag: 8. Der von der Entente präsentierte Entwurf eines »Bundes der Nationen« sei ungenügend, doch die Regierung solle, da er immerhin einen Schritt in die richtige Richtung darstelle, die Aufnahme Deutschlands als gleichwertiges Mitglied beantragen; 9. mit den territorialen Regelungen des Friedensvertrages, die dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker entsprächen, erkläre die Partei sich einverstanden; Gebietswechsel ohne vorherige Befragung der Bevölkerung lehne sie ab und fordere bei Mischbevölkerung eine Regelung durch Schiedsspruch und die Garantie von Minderheitenrechten. Punkt 10

[Seite der Druckausg.: 45 ]

wandte sich gegen jegliche auswärtige Politik mit Hilfe von Geheimdiplomatie, Spionage und Agentenwesen und zielte damit vor allem auf die Tätigkeit der bolschewistischen Propaganda, die Aktivitäten der russischen Botschaft und russischer Agenten in Deutschland. [Diese Methoden, derer sich auch das deutsche Kaiserreich – besonders im Krieg – sehr unrühmlich bedient habe, gehören nach Bernstein zum Arsenal der klassischen »Staatenpolitik«, vgl. u., S. 76]

Schon einmal, im August 1915, hatte Bernstein der Partei eine Resolution für eine sozialdemokratische Außenpolitik vorgelegt. Wegen des innerparteilichen Konflikts um die Haltung zur deutschen Kriegspolitik waren mit Eduard David und Bernstein ein Befürworter und ein Kritiker der Burgfriedenspolitik mit der Ausarbeitung von »Leitsätzen zur Frage der Kriegsziele und der Agitation für Annexionen« beauftragt worden, die auf einer gemeinsamen Sitzung von Parteivorstand, Parteiausschuss und Reichstagsfraktion diskutiert werden sollten. Nach einigen Änderungen war der von David ausgearbeitete Entwurf mit überwiegender Mehrheit der Sitzungsteilnehmer angenommen worden, ohne dass Bernsteins Entwurf ausgiebig diskutiert worden war. [Ein ausführlicher Bericht über den Verlauf der Sitzung sowie beide Entwürfe bei: Wilhelm Dittmann : Erinnerungen, bearb. u. eingel. v. Jürgen Rojahn, Bd. 2, Frankfurt a.M./New York 1995, S. 338-362; ein Kurzprotokoll und die verabschiedete Fassung in: Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie 1898 bis 1918, Zweiter Teil: 1914 bis 1918, bearb. v. Erich Matthias u. Eberhard Pikard, Düsseldorf 1966, Dok. 372a, S. 59-69. In der SAP, Jg. 4, Nr. 47 v. 17.10.1918, S. 6-8 [Ein Beitrag zum kommenden Friedenskongress] hat Bernstein seine und Davids Leitsätze, mit einem kurzen Kommentar versehen, im Hinblick auf die zu erwartenden Friedensverhandlungen erneut zur Diskussion zu stellen versucht. Außerdem erwähnt er die Diskussion in seinem Vortrag »Völkerbund« (wie Anm. 32), S. 17 und erörtert sie ausführlich in seiner Vorlesung an der Berliner Arbeiterschule vom Winterhalbjahr 1917/18: DERS.: Völkerrecht (wie Anm. 32), S. 153-159.] David hatte seinen Entwurf stark auf die deutschen

[Seite der Druckausg.: 46 ]

Machtstaats- und Wirtschaftsinteressen ausgerichtet und zunächst sogar auf den Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker verzichtet. [Zwischen David und Bernstein prallten hier die zwei Konzepte von Nation aufeinander, die 1870/71, ebenfalls ausgehend von dem Pro blem Elsass-Lothringen, der französische Kirchengeschichtler Ernest Renan als das Resultat seiner Kontroverse mit dem deutschen Theologen David Friedrich Strauß festgehalten hatte: Während der Deutsche nach so genannten »objektiven« Kriterien wie Sprache und Kultur die Zugehörigkeit zu einer Nation zwangsverordnen wollte, definierte der Franzose diese Zugehörigkeit als ein »plebiscite de tous les jours«, als eine immer wieder zu erneuernde Willensbekundung der Bevölkerung. ERNEST RENAN: Was ist eine Nation? Und andere politische Schriften, hg. v. Walter Euchner, Wien 1995 [darin der Briefwechsel mit David Friedrich Strauß].]

An diesen Vorgang erinnernd, mahnte Bernstein auf dem Parteitag vergeblich die Abstimmung über seine ursprüngliche Resolution an, nachdem aus seinen ganz dem Internationalismus verpflichteten Grundsätzen durch zahlreiche Änderungen eine »Protestresolution gegen die Friedensbedingungen« [Protokoll des 1. Sozialistentages (wie Anm. 62), S. 31; vgl. Protokoll PT Weimar (wie Anm. 69), S. 354 (Aufforderung an den Vorstand, die verschiedenen Resolutionen noch einmal zu vergleichen).] geworden war. Diese vom Parteitag fast einstimmig angenommene Erklärung begann mit dem Ausdruck der »Entrüstung über den Gewaltfrieden«. [Ebd., S. 512f. (Angenommene Anträge: Auswärtige Politik).]
Erhalten blieben von Bernsteins Bezugnahme auf die Beschlüsse der Internationale lediglich die Berufung auf die Berner Beschlüsse, die aus Sicht der Mehrheitssozialdemokraten weitere Diskussionen über ihre Politik im Krieg überflüssig machten, und zur Frage der Ursachen des Krieges (s.o., 6.) der Verweis auf die Erklärung der Entente-Sozialisten von 1915, wobei die Differenzierung Bernsteins in »allgemeine Ursachen« und »Schuld am Kriegsausbruch« entfiel. Bezüglich der Kriegsschäden (s.o., 4.) wurden die deutschen Verfehlungen nicht erwähnt, dagegen gefordert, dass auch die Folgen des »Hunger-

[Seite der Druckausg.: 47 ]

krieges«, also der alliierten Seeblockade, Berücksichtigung finden müssten. Gegen die Territorialbestimmungen des Friedensvertragsentwurfs wurde Verwahrung eingelegt, da diese das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen verletzten. Die Auslieferung von Deutschen an Gerichte der Entente wurde abgelehnt, die Internationale zum Protest gegen den Versailler Vertragsentwurf aufgerufen und »gegen jede Errichtung einer Fremdherrschaft in Deutschland« protestiert. Die im Zentrum von Bernsteins Konzeption einer neuen Außenpolitik Deutschlands stehende Forderung nach uneingeschränktem Eingeständnis der Schuld am Ausbruch des Krieges einerseits und absolutem Bruch mit dem für den Kriegsausbruch verantwortlichen politischen System des Kaiserreiches andererseits (s.o., 5.), dieselbe Forderung, die er auch im Sachverständigenrat eindringlich erhoben hatte, kam in der neuen Erklärung nicht vor. Sie war für Bernstein deshalb so zentral, weil nur auf ihrem Boden das für eine gleichberechtigte, auf freien Verträgen beruhende »Völkerpolitik« notwendige Vertrauen, das Deutschland durch seine Kriegspolitik vollkommen zerstört hatte, neu entstehen konnte.

Der schlechteste Anwalt seiner Sache auf dem Parteitag war jedoch Bernstein selbst. Wels’ Behauptung, der Friedensvertrag bezeuge die Richtigkeit der MSPD-Politik im Krieg, wies er entschieden zurück. Dieser Vertrag sei das Ergebnis von viereinhalb Jahren Krieg: »Was wir heute vor uns sehen, das konnte niemand am 4. August 1914 voraussehen, und wenn er den berühmten Fernblick des Wunderrabbi von Minsk besessen hätte. Und wenn man es vorausgesehen hätte, wäre es erst recht ein Grund gewesen, damals nein zu sagen.« [Ebd., S. 241. Da ff. auch die folgenden Zitate [Hervorhebungen im Original].]

Er wolle über niemanden richten, doch für ihn persönlich seien der 3. und 4. August 1914 »der schwärzeste Tag meines ganzen politischen Lebens«. Hätte die Sozialdemokratie mit Nein gestimmt oder sich der Stimme enthalten, würde es dem deutschen Volk nun nicht schlechter gehen: »Nur wären Millionen

[Seite der Druckausg.: 48 ]

Menschen weniger gefallen und Millionen weniger verkrüppelt worden.« Nachdem er knapp die politische Situation im Sommer 1914 skizziert hatte, zog er sein Fazit: Die Generäle hätten die deutsche Politik bestimmt und in den Krieg gedrängt: »Das haben wir damals allerdings nicht gewußt. Aber die Frage ist, warum man, als man etwas näher informiert war, an dieser Politik festgehalten hat.«

Erst durch den Krieg seien in Frankreich die Nationalisten und in England die Tories an die Macht gelangt. – Und nun folgt, was diesen Parteitag zu einem Fiasko für Bernstein werden ließ: »Genossen! Die Friedensbedingungen, die uns von den Alliierten auferlegt werden, sind hart, sehr hart und zum Teil – das sage ich offen und habe ich in englischen Blättern, in dem ›Daily Herald‹ gesagt – – einfach unmöglich. Aber auch Scheidemann hat das anerkannt: die Notwendigkeit eines großen Teils davon, der auch sehr schwer ist, erkennen wir an. Neun Zehntel davon sind Notwendigkeiten. (Lebhafter Widerspruch.) Neun Zehntel davon sind unabweisbare Notwendigkeiten. (Stürmischer anhaltender Widerspruch und große Unruhe. Rufe: Skandal!) Werte Genossen! Dann desavouieren Sie ja das Anerbieten der deutschen Regierung selbst, das neun Zehntel davon zugibt (erneuter lebhafter Widerspruch); das Anerbieten der deutschen Regierung selbst empfahl einen großen Teil der Bedingungen, sagen wir acht Zehntel, aber es ist ein großer Teil.«

Bernsteins weitere Ausführungen, etwa seine Kritik am inflationären und sinnentleerenden Gebrauch des Wortes »Imperialismus« oder, im Zusammenhang mit der Frage der Bestimmung der deutschen Grenzen – also im Hinblick auf die deutsch-polnischen Ostgebiete und Elsass-Lothringen –, die Erläuterung, dass das Kriterium für die Bestimmung der Nationszugehörigkeit nicht »historisches Recht« oder scheinbar objektive Kriterien wie die Sprache, sondern »der politische Wille« sein müsse, gingen in der Ereiferung über die unglückliche Neun-Zehntel-Formulierung unter. Die anschließende Debatte glich einer »mo-

[Seite der Druckausg.: 49 ]

ralischen Hinrichtung« [WINKLER: Bernstein als Kritiker (wie Anm. 19), S. 1021.].
Eine sachliche Auseinandersetzung mit Bernsteins Grundsätzen fand ebenso wenig statt wie eine Abstimmung über seinen Resolutionsentwurf. Einhellig war der Vorwurf, er habe mit seiner Rede den Absichten der Entente Vorschub geleistet. Diffamierend waren die Äußerungen des Ostpreußen Otto Braun: Die östlichen Teile Deutschlands seien Bernstein gleichgültig, für Belgien habe er dagegen »bittere Tränen« gehabt; man wisse ohnehin nicht, ob er nicht noch mit einem Fuß bei den Unabhängigen stehe, zudem sei gerade er zunächst »mit Begeisterung für die Kriegskredite gewesen«; Braun behauptete auch, der drohende Friedensvertrag rechtfertige »glänzend« die Kriegspolitik der Mehrheitler. [Protokoll PT Weimar (wie Anm. 69), S. 252f. Ebd. die folgenden Redebeiträge: Adolf Braun: S. 255, Hermann Müller: S. 256f. – Als die nach Müller sprechende Breslauer Delegierte Franz Bernsteins Neun-Zehntel-Satz paraphrasiert, reagiert er mit dem Zwischenruf: »Das ist eine Lüge, das habe ich nicht gesagt.« Ebd. S. 259. Zu Bernsteins anfänglicher Befürwortung des Krieges vgl. seinen Artikel »Der Krieg, sein Urheber und sein erstes Opfer« in: SM, Jg. 18/2, Nr. 16 (13.8.1914), S. 1015-1023; nach seiner damaligen Auffassung war Russland Schuld am Kriegsausbruch.]
Adolf Braun nannte die Rede »friedenserschwerend und schädlich für das deutsche Volk [...]. Wir kennen allerdings den Genossen Bernstein und wissen, daß er kein praktischer Politiker ist.« Die Partei könne ihm »in der talmudistischen Methode« seiner Politik nicht folgen. Hermann Müller fuhr auf diesem Niveau fort: Man dürfe »eben nicht alle Dinge unter dem Gesichtpunkte des Rabbiners von Minsk behandeln«, Bernstein komme daher wie ein »Hosenhändler«, wenn er zunächst von neun und dann von acht Zehnteln spreche. David machte sich über Bernsteins internationalistische Emphase lustig. [Protokoll PT Weimar (wie Anm. 69), S. 266f. – Wenige Tage später, in der Kabinettssitzung vom 28.6., schlägt David zum Punkt »Auslieferungsfragen« vor, »sofort weitere Verhandlungen zur Vermeidung der Auslieferung Deutscher an die Entente einzuleiten und in gleichem Sinne auch mittelbar durch Persönlichkeiten mit internationalen Beziehungen wie z.B. den Prinzen Max von Baden, Eduard Bernstein usw. tätig zu werden«. Das Kabinett Bauer. Bearb. v. Anton Golecki, Boppard 1980, Dok. 7, S. 27.]
Der Genosse Kummer aus Leipzig

[Seite der Druckausg.: 50 ]

verglich ihn mit Kurt Eisner, auf dessen Grab geschrieben werden müsse: »Er litt arg am Wahrheitsfimmel.« Wilhelm Keil schließlich befand, es sei »unhistorisch und unmarxistisch, wenn wir uns jetzt auf die Erörterung des persönlichen Anteils der Staatsgewaltigen von 1914 an dem Kriegsausbruch einlassen«. [Protokoll PT Weimar (wie Anm. 88), S. 271 (Kummer), 273 (Keil).]

Dass es ihm nicht um Schuldzuweisungen, sondern um die Schaffung eines tragfähigen Fundaments für einen politischen und moralischen Neuanfang ging, hat Bernstein in seinem Schlusswort noch einmal vergeblich zu erklären versucht. Wenn er die Schuld des alten Systems feststelle, »dann sage ich nicht, wir, das deutsche Volk, sind schuld, sondern dann sage ich, diejenigen sind schuld, die das deutsche Volk damals belogen und betrogen haben. Dann wälze ich die Schuld ab vom deutschen Volk.« [Ebd., S. 277f.]

Seine Partei, die die Politik des alten Systems mitzutragen sich bereit gefunden hatte, besaß nicht die Souveränität, sich diesen Fehler einzugestehen und damit aus dem »Turm«, in den sie sich mit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten begeben hatte, herauszuzutreten. Gustav Hoch, der einzige Fürsprecher, den Bernstein auf dem Parteitag fand, benannte das Kommunikationsproblem: »Wir alle, die wir Bernstein näher kennen, wissen, daß er sicher bestrebt gewesen ist, auch in diesem Teil seiner Rede gerecht zu sein. Er hat aber eins übersehen: wir können gegeneinander noch nicht gerecht sein, weil wir den Tatsachen noch zu leidenschaftlich gegenüberstehen.« [Ebd., S. 274. Hoch übersetzte Bernsteins Anliegen: »[...] das deutsche Volk muß sich darüber klar sein, daß der Frieden ungeheure Härten haben wird, auch wenn er den Grundsätzen von Wilson, den Geboten der Gerechtigkeit entspricht, wie es ja auch unsere eigene Regierung anerkannt hat, durch ihre Gegenvorschläge, die ungeheure Lasten dem deutschen Volke auferlegen.« Ebd., S. 276.]

[Seite der Druckausg.: 51 ]

Der »Vorwärts« suchte den Vorfall herunterzuspielen, und im Abschlussbericht über den Parteitag erwähnte er ihn mit keinem Wort. Die unabhängige »Leipziger Volkszeitung« konstatierte mit Genugtuung, Bernstein sehe sich »fast völlig isoliert in der Partei, die er aufgesucht hat, weil er glaubte, sie stehe ihm näher als die Kampfgenossen, mit denen er in der Kriegszeit zusammenwirkte«. Scharf ins Gericht mit der MSPD ging Hellmut von Gerlach in seiner »Welt am Montag«. [VORWÄRTS, Nr. 297 v. 13.6.1919 [Parteitag und auswärtige Politik]: »Auch Bernsteins mit Spannung erwartete Rede hätte sich harmonisch in den Rahmen gefügt, wenn dem Redner nicht das Ungeschick einer mißverstandenen Aeußerung passiert wäre, die einen Sturm des Widerspruchs hervorrief. Was Bernstein wirklich gesagt haben wollte, ist in der erregten Debatte und in Bernsteins Schlußwort selbst nicht ganz klar geworden.« Abschlussberichte in: VORWÄRTS, Nr. 299/344 v. 17.6.1919 [Der Parteitag von Weimar]. LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, Nr. 128 v. 16.6.1919 [Wahrheitsfimmel]. DIE WELT AM MONTAG, Nr. 24 v. 19.6.1919 [Verdunkelungsbücher und Wahrheitsfimmel]. Keine Pressestimmen der »Freiheit«, des »Berliner Tageblatt« etc. wegen Druckerstreiks in Berlin zwischen 14. u. 17.6.1919.]
Schlimm sei, dass die Mehrheit des deutschen Volkes über die Schuldfrage immer noch nicht unterrichtet sei, schlimmer sei, dass es immer noch Leute gebe, die die Wahrheit gar nicht wissen wollten: »Und zwar nicht bloß Leute, die ein Interesse an der Vertuschung der Schuld des alten Regimes haben, sondern auch angebliche Vertreter des angeblichen ›neuen Geistes‹ in Deutschland.« Bernstein habe »ein sachlich ausgezeichnetes Referat« gehalten, auch seine Gegner billigten ihm »seine Sachkenntnis und sein Bemühen um Objektivität« zu. Doch wie sei es ihm auf dem Parteitag ergangen?

»Wahrheitsfimmel! Das Wort wird haften bleiben an dem Weimarer Parteitag und an der Scheidemann-Noskeschen Sozi-

[Seite der Druckausg.: 52 ]

aldemokratie. Einst war es der Stolz der Sozialdemokratie, nicht nur für die Freiheit, sondern auch für die Wahrheit zu kämpfen. [...] Internationales Proletariat, höre, zu welchen Moralgrundsätzen man sich in Weimar bekennt! Die Arbeiterschaft der ganzen Welt kennt Eduard Bernstein als den Mann, der sein Leben dem Dienst der Wahrheit geweiht hat. «Doch seine eigene Partei verhöhne und beschimpfe ihn, tue ihn ab »wie eine Art Trottel«.

Die antisemitischen Anspielungen Müllers und Adolf Brauns, die von Bernstein selbst gebrauchte Wendungen in eindeutig diffamierender Weise gegen ihn richteten, sind ein Indiz für den auch in der Weimarer Sozialdemokratie nicht nur latent vorhandenen Antisemitismus. Sie zeigen zudem, dass und wie sehr Bernstein von manchen seiner Parteigenossen als Jude wahrgenommen wurde. Er selbst hat dieser Wahrnehmung eher vor- als entgegengearbeitet. David und der Gewerkschafter Emil Kloth überliefern eine »in vertraulichen Parteikreisen viel erörterte Äußerung« Bernsteins, der 1915 zu Stampfer gesagt haben soll: »Es fließt doch jüdisches Blut in Ihren Adern, also sind Sie doch auch verpflichtet, der internationalen Aufgabe des Judentums im Weltkriege Rechnung zu tragen.« [EMIL KLOTH: Einkehr. Betrachtungen eines sozialdemokratischen Gewerkschafters über die Politik der deutschen Sozialdemokratie, München 1920, S. 100; vgl. Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918. In Verbindung mit Erich Matthias bearb. v. Susanne Miller, Düsseldorf 1966, S. 112.]

1917 hat Bernstein in einem »Von den Aufgaben der Juden im Weltkriege« betitelten Essay die These aufgestellt, die Juden seien die berufenen Mittler zwischen den Völkern sowie Vorreiter und Förderer eines »rationellen weltbürgerlichen Empfindens«. [BERNSTEIN: Von den Aufgaben der Juden im Weltkriege, Berlin 1917. Das Zitat aus: DERS.: Entwicklungsgang (wie Anm. 1), S. 236.] Der aus besten Absichten heraus verfasste Text war zunächst für den innerjüdischen Diskurs mit ehemaligen Weggefährten aus dem Kreis der »Sozialistischen Monatshefte«, ganz besonders wohl Wolfgang Heine, gedacht, die einem kompensa-

[Seite der Druckausg.: 53 ]

torischen Patriotismus huldigten, und ist ein ziemlich unausgegorener, stark moralisierender Versuch, den Juden im historischen Entwicklungsprozess eine besondere Rolle zuzuschreiben. [»Dieses vollständige Vergessen der Tatsache, daß man einem in der Welt als Gast vieler Völker lebenden Volke angehört, ist ein großer Nachteil für die Sache der europäischen Kultur. [...] Auch bin ich der Ansicht, daß der Zionismus in keinem notwendigen Widerspruch steht zum weltbürgerlichen Denken, vorausgesetzt, daß der Zionist kein Chauvinist des Judentums ist, und Weltbürgertum nicht gleichgesetzt wird mit roh materialistischem Weltbummlertum. Wer aus Genuß- oder Gewinnsucht, anders ausgedrückt: aus Bequemlichkeit vaterlandslos ist, ist Weltausbeuter, aber nicht Weltbürger.« BERNSTEIN: Aufgaben der Juden (wie Anm. 88), S. 32f.]
Vor allem ist er aber ein deutliches Indiz dafür, dass Bernsteins jüdische Wurzeln in seinem Leben und für seine politischen Überzeugungen eine größere Rolle spielten, als er selbst zugeben wollte. Sein Verhältnis zum Judentum beschrieb Bernstein 1919 mit den Worten: »Ich bin weder Konfessionsjude noch gehöre ich einer spezifisch jüdischen Verbindung an, bin auch nicht Nationaljude. Ich bin im deutschen Volk aufgewachsen und fühle mich als Deutscher, weiß aber, dass ich von Juden abstamme, und wo die Juden unterdrückt werden, fühle ich es als natürliche Pflicht, für sie einzutreten.« [PA AA R 23154 (wie Anm. 45), Besprechung über Judenfragen v. 31.3.1919, S. 19. Zu Bernsteins Verhältnis zum Judentum: WISTRICH (wie Anm. 18); WEISBERGER (wie Anm. 18).]

Page Top

II.3. Referent des Parlamentarischen Untersuchungs-ausschusses (1923)

Als die Nationalversammlung am 21. August 1919 die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses beschloss, der die Fragen des Kriegsausbruchs, der Kriegsführung, verpasster Friedensmöglichkeiten und der Ursachen des Zu-

[Seite der Druckausg.: 54 ]

sammenbruchs erforschen sollte, war dieses Unternehmen bereits mit der schweren Hypothek des Versailler Vertrages und der systematischen »Kriegsschuldlügen«-Propaganda von rechts belastet. Die Grundüberzeugung, dass die Alliierten Deutschland zu Unrecht die Schuld am Ausbruch des Krieges zugeschoben hätten, hatte sich bereits so sehr in den meisten Köpfen verfestigt, dass die Aufgabe des Ausschusses weniger als Untersuchungs- denn als Entlastungsauftrag definiert wurde.

Bernstein trat dem am 20. Oktober 1919 gebildeten Ersten Unterausschuss, der die Vorgeschichte des Krieges zu untersuchen hatte, am 4. März 1920 als Sachverständiger für die deutsch-englischen Beziehungen im Kaiserreich bei. [HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 204-218; außerdem: EUGEN FISCHER-BALING: Der Untersuchungsausschuß für die Schuldfragen des ersten Weltkrieges, in: Aus Geschichte und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ludwig Bergstraesser, hg. v. Alfred Herrmann, Düsseldorf 1954, S. 117-137. Fischer-Baling war selbst Mitglied des Ersten Unterausschusses und später Geschäftsführer des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses; diese Arbeit ist kaum mehr als eine impressionistische Erinnerungsskizze, Bernstein wird darin nicht erwähnt. Ein wenig schmeichelhaftes Gegenstück zu diesen Erinnerungen ist der bei HERMANN KANTOROWICZ: Gutachten zur Kriegsschuldfrage 1914. Aus dem Nachlaß hg. u. eingel. v. Imanuel Geiss, Frankfurt a.M. 1967, S. 443-446 abgedruckte Brief von Fischer-Baling, inzwischen Direktor der Reichstagsbibliothek, an Hermann Göring im Mai 1933.]
Er war mit seiner die deutsche Schuld am Kriegsausbruch bekennenden Haltung in diesem von Abgeordneten bürgerlicher Parteien majorisierten Gremium – dem er jedenfalls noch 1929, vermutlich aber, bis der Erste Unterausschuss seine Arbeit 1931 einstellte, angehört hat – nicht allein, jedoch in einer Minderheitsposition. Ähnlich wie er dachten unter den Sachverständigen der mehrheitssozialdemokratische Südosteuropa-Experte Hermann Wendel, der Jurist und Publizist Hans Wehberg, ein exponierter Vertreter der bürgerlichen Völkerrechts- und Friedensbewegung und

[Seite der Druckausg.: 55 ]

Mitherausgeber der »Friedens-Warte« [Nachdem Wehberg zunächst ein klares Bekenntnis zur Kriegsschuld gefordert hatte, ist er von dieser Position allerdings im Laufe der 20er Jahre zunehmend zu Gunsten von Revisionsforderungen abgerückt: PETER K. KEINER: Bürgerlicher Pazifismus und »neues« Völkerrecht. Hans Wehberg (1885–1962), Diss. Freiburg 1976.] , und der dezidiert demokratisch gesinnte, dem Pazifismus nahe stehende Freiburger Jurist Hermann Kantorowicz [Sein Gutachten, dessen Erscheinen das Auswärtige Amt 1927 zu verhindern verstand, wurde erst spät, 1967, veröffentlicht: KANTOROWICZ (wie Anm. 91). Er war DDP-Mitglied.] ; Vorsitzender des Ersten Unterausschusses war zeitweise Schücking. [Liste der Abgeordneten und Sachverständigen des Untersuchungsausschusses: HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 260-262; WUA, 1. Reihe, Bd. 5,1, Berlin 1929, Xa-Xb [Tafel der Mitglieder].]

Nicht der als »notorischer Alldeutscher« bekannte Historiker Robert Hoeniger [HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 206.] und nicht Johannes Kriege, auf Grund seiner vorangegangenen Tätigkeit als Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes »im höchsten Maße Partei« [Schücking an Wehberg am 19.4.1923: zitiert nach HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 194. Ebd., S. 212 das folgende Zitat.] , mit denen eine Verständigung ohnehin nicht möglich und deren apologetische Intentionen offensichtlich waren, sondern die als Mitverfasser der »Professoren-Denkschrift« bereits erwähnten »Nestoren der ›Kriegsschuldforschung‹« Hans Delbrück und Graf Max von Montgelas waren die Kontrahenten der ehrlich um Aufklärung bemühten Sachverständigen.

Delbrück, bis 1919 Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« und Hausherr des bedeutendsten politischen Salons im damaligen Berlin, des Mittwochskreises, war im Krieg energisch gegen die Annexionsforderungen der Alldeutschen aufgetreten und ging mit Ludendorff und Tirpitz nach der Niederlage scharf ins Gericht. [WILHELM DEIST: Hans Delbrück. Militärhistoriker und Publizist, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 57 (1998), S. 371-383; außerdem die zahlreichen Hinweise bei: HERBERT DÖRING: Der Weimarer Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik, Meisenheim 1975; HANS SCHLEIER: Die bürgerliche Geschichtsschreibung in der Weimarer Republik, Berlin (O) 1975 .]
Er hatte in einem auf den 28. Juni 1919 datierten,

[Seite der Druckausg.: 56 ]

also wenige Tage nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages verfassten Text die USPD, da diese sich als einzige sozialdemokratische Partei der Welt für die Vertragsunterzeichnung ausgesprochen habe, sowie die »Herren Georg Bernhard, von Gerlach, Harden, Bernstein« beschuldigt, dafür verantwortlich zu sein, dass Deutschland den »Entbehrungsfrieden« habe unterzeichnen müssen. [HANS DELBRÜCK: Frieden (28.6.1919), in: Vor und nach dem Weltkrieg. Politische und historische Aufsätze 1902–1925, Berlin 1926, S. 406-416, Zitat S. 410. Georg Bernhard, Chefredakteur der »Vossischen Zeitung«, war ein Vertreter der Kontinentalpolitik, weshalb er die Taktik Delbrücks, die Hauptschuld Russland zuzuschieben, nicht unterstützte; Maximilian Harden, seit 1892 Herausgeber der Zeitschrift »Die Zukunft«, war scharfer Kritiker der Tirpitz’schen Flottenpolitik gewesen und hat die Revolution zunächst begrüßt. Ebenso wie Bernhard und Bernstein war er Jude. – Eine vage Hoffnung verband Delbrück mit den durch die Revolution an die Macht gekommenen »Proleten und Juden« (so der in Anführung gesetzte Titel eines Aufsatzes v. 24.10.1919): »Unser einziges und letztes Hilfsmittel ist der moralische Protest, und dieser findet, wenn überhaupt, jenseits ein Echo nur bei den Parteien, die selber mehr oder weniger international gerichtet sind. Das sind die bürgerlichen Pazifisten und vor allem die Sozialisten – Proleten und Juden.« Unter den Proletariern gebe es ein internationales Solidaritätsgefühl, an das die Sozialdemokratie zu appellieren berechtigt sei. Doch müsse die SPD für eine praktische Sozialpolitik das Dogma des Klassenkampfes fallen lassen. Gerade auf diesem Dogma beruhe aber jene internationale Solidarität der Proletarier, die ganz eventuell imstande sein könne, Deutschland »aus dem Chaos des Versailler Friedens« zu befreien. Ebd., S. 436-443, Zitat S. 443.]
Der Grund bzw. der letzte Anstoß für die Nennung Bernsteins war wohl dessen Rede auf dem Weimarer SPD-Parteitag.

[Seite der Druckausg.: 57 ]

Zwischen Bernstein und Delbrück scheint es seit Ende 1911 keinen engeren, aber doch einen freundlichen Kontakt gegeben zu haben. Bernstein hatte sich damals mit der Bitte um einen Gedenkartikel zum hundertsten Geburtstag seines Onkels Aron Bernstein – eines liberalen Berliner Politikers und Publizisten, Gründers der »Berliner Volkszeitung« und Mitbegründers der Berliner Jüdischen Reformgemeinde [Zu Aron Bernstein: JULIUS H. SCHOEPS: Bürgerliche Aufklärung und liberales Freiheitsdenken. A. Bernstein und seine Zeit, Stuttgart/Bonn 1992.] – an den Herausgeber der »Preußischen Jahrbücher« gewandt; in der Folge hatte Delbrück Bernstein mit Aufsätzen aus seiner Feder bedacht. [Staatsbibliothek Berlin NL HANS DELBRÜCK, Briefe: Bernstein, Eduard, 4 Briefe 1911-1916 (9 Blatt). Der erste Brief Bernsteins datiert vom 25.12.1911; IISG NL BERNSTEIN D 130 Hans Delbrück, 4 Briefe 1913-1921. Ein Gedenkartikel für Aron Bernstein ist in den »Preußischen Jahrbüchern« nicht erschienen.]

Eine genauere Betrachtung der Tätigkeit des Ersten Unterausschusses würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Hier soll lediglich Bernsteins Vortrag, den er im Ausschuss am 8. Februar 1923 »über die deutsch-englischen Beziehungen in der Zeit von Gründung des deutschen Kaiserreichs an bis zum Ausbruch des Weltkrieges« gehalten hat, in den Blick genommen werden. Bernstein schickte seinem Bericht die Bemerkung voraus, das bereits gehaltene Referat zu den deutsch-englischen Beziehungen des Sachverständigen Eugen Fischer(-Baling) habe vornehmlich auf dem Studium der Akten des Auswärtigen Amtes beruht und Erkenntnisse zum »inneren Getriebe« des Amtes und dem Einwirken »bestimmter einflußreicher Persönlichkeiten [...] auf die deutsche Politik« liefern können. [PA AA R 26122 Parlamentarischer Untersuchungsausschuss. 1. Unterausschuss, Referat Bernstein. Ebd., Referat Fischer, gehalten am 21.6.1922.]
Er dagegen habe seine Arbeit anders aufgefasst, und seine »sehr vielseitige Berufstätigkeit« habe es ihm »leider [...] bisher noch nicht erlaubt

[Seite der Druckausg.: 58 ]

[...], die Absicht, gleichfalls an die Akten heranzugehen, zur Ausführung zu bringen«. Das sei allerdings für sein Referat auch nicht nötig gewesen, denn ihm komme es darauf an, »den Entwicklungsgang der deutsch-englischen Beziehungen« seit der Reichsgründung »im Zusammenhang mit der Entwicklung der treibenden Kräfte der Politik der beiden Länder zur Anschauung zu bringen«. Dazu genüge die »überreich« vorhandene Literatur, der gegenüber Fischers »so fleißige Arbeit« nichts substanziell Neues habe hinzufügen können. Er selbst präsentiere also kein »Quellenwerk im strengen Sinne dieses Wortes« und behandle »nicht das diplomatische Zustandekommen wichtiger Entscheidungen«, sondern beabsichtige, »nur ihre Natur und politischen Wirkungen zu beleuchten und die allgemeinen Triebkräfte darzulegen, aus deren Spiel sie hervorgehen«.

Bernsteins Referat umfasst gut 130 Schreibmaschinenseiten, die Darstellung ist mäßig strukturiert, teils auch unsystematisch, eine Mischung aus oft nicht ganz präzisen Fakten, persönlichen Eindrücken und Anekdoten. So heißt es zum Amtsantritt des britischen Außenministers Sir Edward Grey: »Dieser Staatsmann ist verschieden beurteilt worden, und allerdings ist er keine ganz einfache Natur. Er ist ein Eigenbrödler, lebt außerordentlich zurückgezogen und hat nur einen Sport, das Angeln, worüber er auch ein Buch geschrieben hat.«

Grey sei des Deutschen nicht mächtig, doch Richard Haldane, sein wichtigster Deutschlandberater, habe in Göttingen studiert und sei »auch philosophisch gebildet«. Es sei vorgekommen, dass der ebenfalls philosophisch gebildete Konservative Arthur Balfour im Parlament an Haldane, Mitglied der Radikalliberalen, mit den Worten herangetreten sei: »›Lassen Sie die Leute schwatzen, unterhalten wir uns lieber über die Hegelsche Philosophie!‹« [Ebd., Referat Bernstein, S. 121f. – Richard Haldane war 1905-1912 britischer Kriegsminister, 1912-1915 und 1924 Lordkanzler; er verhandelte 1912 in Berlin erfolglos über eine deutsch-britische Verständigung in der Flottenfrage.]

[Seite der Druckausg.: 59 ]

Bernsteins Vortrag endet weder in einem Finale noch in einem Fazit, sondern versandet in einer Diskussion um die Authentizität einer angeblichen Äußerung Greys [Die vom alldeutschen Historiker Hoeniger angeführte angebliche Erklärung Greys, »er würde jede Gelegenheit benutzen, Deutschland den schweren Schlag zu versetzen«. Ebd., S. 134. Da S. 134 f. auch das folgende Zitat.].
Auf den Einwurf eines Sachverständigen, diese stehe in den Siebertakten, erwidert Bernstein: »In den Siebertakten steht viel und manches Wichtige nicht.« Darauf entspinnt sich ein Streit zwischen Delbrück und Bernstein, der die Authentizität der Äußerung bestreitet, eine – laut Delbrück falsche – Quelle als dessen »feinen Gewährsmann« bezeichnet und schließlich dennoch darauf beharrt: »Grey hat niemals eine solche Absicht gehabt. Das erkläre ich aufs allerentschiedenste. Auch seine heutige Haltung zeigt, daß er nicht von solcher Absicht beseelt war.«

Die übrigen Sachverständigen vermochte Bernsteins Referat in Form und Inhalt nicht zu überzeugen. Indem er seinem aus der persönlichen Anschauung und aus Sekundärliteratur gewonnenen Wissen den Vorzug vor »den Akten« gab, auf Belege und Exaktheit der historischen Angaben verzichtete, also zentrale Spielregeln wissenschaftlicher Geschichtsaufarbeitung ignorierte, brachte er, der sich mit seinen Auffassungen in diesem Gremium ohnehin in einer Außenseiterrolle befand, sich noch weiter ins Abseits. Sein Bericht war denn auch für die – niemals erfolgte – Publikation von Berichten des Ersten Unterausschusses nicht vorgesehen. [HEINEMANN: Niederlage (wie Anm. 10), S. 208. Der Plan der Veröffentlichung kam wegen des Machtantritts der Nationalsozialisten nicht zur Ausführung.]

In einer 1920 verfassten Kurzrezension über Bernsteins schmalen Band »Die Wahrheit über die Einkreisung Deutschlands« [BERNSTEIN: Die Wahrheit über die Einkreisung Deutschlands, Berlin 1919.] urteilte Delbrück, die Schrift suche »in etwas unbehol-

[Seite der Druckausg.: 60 ]

fener, aber sachlich zutreffender Weise« den auch von Delbrück selbst vertretenen Standpunkt, dass Englands Politik nicht den Krieg gegen Deutschland zum Ziel gehabt habe, darzulegen. »Wenn nun aber Bernstein von da ohne weiteres Ueberlegen und Beweisen den Sprung macht, daß dem deutschen Reiche der Krieg nicht aufgezwungen sei, so ist das nicht anders zu erklären, als daß Bernstein die Literatur über das Ost-Problem unbekannt geblieben ist. Er sieht und kennt nichts als England, den Westen, die Sozialdemokratie und den Pazifismus. Da ist sein Irrtum verzeihlich, aber nicht minder groß, und leider auch ein schweres Hindernis für jene Völkerversöhnung, die uns allein einen Dauerfrieden sichern kann.« [Pr Jbb, Bd. 180 (April bis Juni 1920), S. 419 [Geschichte]. Zu Kautsky, mit dem Delbrück erbittert über die Kriegsschuldfrage und die deutsche Aktenedition stritt, heißt es dort: »Daß Kautsky kein Historiker, sondern bloß ein Parteipolitiker ist, der sich auch bei gutem Willen in sachlich-wissenschaftliches Denken nicht zu finden vermag, wußte man ja auch schon vorher.« Zu weiteren Auseinandersetzungen zwischen Bernstein und Delbrück in der Presse s.u., S. 145.]

Die Arbeit im parlamentarischen Untersuchungsausschuss krankte, da sie um Konsensbeschlüsse bemüht war, an einem Grundproblem, das Kuno Graf von Westarp, der ehemalige Führer der Konservativen, nun DNVP-Abgeordneter, in der Diskussion um eine konsensfähige Formulierung zur Beurteilung der Haltung der deutschen Regierung auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 folgendermaßen formuliert hat: »Ein Kompromiß ist denkbar, wenn ein Beschluß zu fassen ist über das, was geschehen soll. Aber Kompromisse, wenn man ein geschichtliches Urteil aussprechen soll, scheinen mir eigentlich in der Natur der Sache nicht gegeben zu sein. Da kann ich nur meine Meinung sagen und auf meiner Meinung bestehen.« [WUA, 1. Reihe Bd. 5,1: Deutschland auf den Haager Friedenskonferenzen, Entschließung und Verhandlungsbericht, Berlin 1929, S. 140 [Sitzung v. 20.6.1923].]

[Seite der Druckausg.: 61 ]

Auch Bernstein sprach sich gegen eine ›Kompromissentscheidung‹ aus, »und ich weiß nicht, ob ich mich ihr anschließen könnte, denn man opfert dabei an seiner eigenen Überzeugung zugunsten einer Einigkeit etwas, ohne daß dieses Votum in bezug auf Schlüssigkeit wirksamer gemacht, sondern im Gegenteil vielleicht sogar beeinträchtigt würde«. Statt dessen plädierte er für die Veröffentlichung sämtlichen im Ausschuss verhandelten Materials, »weil die Untersuchungen [...] in erster Linie für das deutsche Volk bestimmt sind und weil ungünstige Einwirkungen auf die auswärtige Politik nicht befürchtet zu werden brauchen«. Es handle sich bei den Gutachten »ja immer um Privatarbeiten, für die die Verfasser die Verantwortung tragen«. [Ebd., S. 130, 153.] Mit dieser Auffassung, die dem deutschen Volk wenigstens die Möglichkeit gegeben hätte, sich umfassend zu informieren, konnten sich Bernstein und seine Mitstreiter aus dem demokratisch-pazifistischen Lager jedoch nicht durchsetzen. Mit der Begründung, dass Veröffentlichungen von gegen die Politik des Kaiserreichs gerichteten kritischen Passagen dem feindlichen Ausland als Handhabe gegen Deutschland würden dienen können, blieb der überwiegende Teil der Gutachten unveröffentlicht.

Die im Krieg erfolgte vorsichtige Fühlungnahme zwischen den im Bund Neues Vaterland organisierten entschiedenen Pazifisten, Internationalisten und Demokraten um Wehberg, Bernstein, Gerlach einerseits und den um Delbrück und Weber gruppierten national gesinnten, jedoch Demokratie und Republik nicht vollkommen ablehnend gegenüberstehenden Vertretern der alten Elite andererseits war spätestens mit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages in teils erbitterte Gegnerschaft umgeschlagen. Dass eine Verständigung nicht mehr möglich war, wurde im Untersuchungsausschuss ebenso deutlich wie die Tatsache, dass es dem zwar mit Ludendorff und Tirpitz scharf ins Gericht gehenden, jedoch die deutsche Hauptschuld am Ausbruch des Krieges hartnäckig leugnenden Kreis um Delbrück

[Seite der Druckausg.: 62 ]

gelungen war, im Auswärtigen Amt seine einflussreiche Stellung zu behaupten und die offizielle deutsche Linie in der Kriegsschuldfrage zu bestimmen. Die Mehrheitssozialdemokratie hatte der alten Elite hier bereitwillig das Feld überlassen; die wenigen um wirkliche Aufarbeitung bemühten Politiker aus DDP und MSPD fanden in ihren eigenen Reihen keine Unterstützung für diese Arbeit. Bernstein führte seinen Kampf um Aufklärung der deutschen Öffentlichkeit jedoch unermüdlich weiter. Sein »ganzes Fühlen und Denken«, schrieb er am 26. Juli 1924 an Kautsky, beherrsche der »praktische Kampf«: »Welcher Frage er gilt, sagen Dir meine Artikel in der ›Glocke', die Du erhalten haben wirst. Es sind Versuche, der für die Partei und die Republik selbstmörderischen Behandlung der Kriegsschuldfrage entgegenzuwirken, wie sie unter dem Einfluß von Stampfer und Gleichgesinnten in der Partei betrieben worden ist und, obwohl sich ihre verhängnisvollen Wirkungen heute auf's deutlichste zeigen, noch immer betrieben wird. [...] Von der Tatsache aus, daß das kaiserliche System nicht allein schuld am Krieg sei, die sie dann mit bequemer Dialektik zu ›überhaupt nicht schuld‹ umdeuten, ist es leicht, den Massen plausibel zu machen, daß das Kaisertum zu Unrecht gestürzt worden, die ›Judenrepublik‹ und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld seien, unter dem Deutschland heute leide.« [IISG NL KARL KAUTSKY D V 525 [Brief Bernsteins v. 26.7.1924]. Zu Bernsteins Artikeln zur Kriegsschuldfrage und seinem Streit darüber mit dem »Vorwärts« s.u., Kap. IV.]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

Previous Page TOC Next Page