FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 1-2 = Titel]
[Seite der Druckausg.: 3 = Inhalt]
[Seite der Druckausg.: 4 = Leerseite]

[Seite der Druckausg.: 5 ]


Einleitung

Glaubt man einer anlässlich eines Treffens zwischen Gerhard Schröder und Fidel Castro erschienenen Glosse der »Süddeutschen Zeitung«, wird die gegenwärtige deutsche Politik vom Typus des Revisionisten in der Nachfolge Bernsteins bestimmt: Mit Bernstein – laut einer anderen deutschen Tageszeitung der »Ur-Giddens der internationalen Sozialdemokratie« – habe Schröder die Neigung zu eleganter Kleidung gemein; doch vor allem bezieht sich der Autor auf das vielleicht berühmteste Bernstein-Zitat, ihm sei das Endziel nichts, die Bewegung jedoch alles. [SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, Nr. 147 v. 30.6.1999 [Das Streiflicht]. Was den Hang zur Eleganz betrifft, verwechselt der Autor hier vermutlich Bernstein mit Kautsky. Das berühmte Zitat: BERNSTEIN: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft. 2. Die Zusammenbruchs-Theorie und die Kolonialpolitik, in: NZ, Jg. 16/1 (1897/98), S. 548-557, S. 556. Dazu Bernstein in: DERS.: Entwicklungsgang eines Sozialisten (Leipzig 1924), Neuausg. zus. mit: Sozialdemokratische Lehrjahre, hg. v. Manfred Tetzel, Berlin 1991, S. 215. Vom »Ur-Giddens« spricht: DER TAGESSPIEGEL, 3.3.1999 [Sozialdemokratie – gibt es die noch?].]

Eduard Bernstein, 1850 in Berlin geboren, war beim Ausbruch der deutschen Novemberrevolution 68 Jahre alt. Die als »Revisionismusdebatte« in die Geschichte eingegangene große theoretische Auseinandersetzung, durch die er berühmt geworden ist, lag 20 Jahre zurück. Bernstein stammte aus kleinbürgerlichem jüdischen Milieu, die Familie war eng mit der reformjüdischen Bewegung verbunden und demokratisch orientiert. Er hatte das Gymnasium mit 16 Jahren aus finanziellen Gründen verlassen müssen, um als Bankangestellter zu arbeiten. 1872 trat er zunächst der Internationalen Arbeiterassoziation und dann der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) bei und war bald als Versammlungsredner und Agitator der Partei aktiv. Nachdem er im Herbst 1878 seine Stellung in der Bank aufgege-

[Seite der Druckausg.: 6 ]

ben hatte, um dem Parteimäzen Karl Höchberg als Privatsekretär in die Schweiz zu folgen, wurde er dort, nach dem Erlass des Sozialistengesetzes im Oktober 1879, Redakteur des »Sozialdemokrat«, des in der Schweiz gedruckten und illegal ins Reich geschmuggelten Zentralorgans der verbotenen Partei. Nach seiner auf deutschen Druck erfolgten Ausweisung aus der Schweiz lebte er seit 1888 in London. Dort blieb er bis 1901, denn auch nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 konnte er, einer ihm in Deutschland weiterhin drohenden Haftstrafe wegen, nicht nach Berlin zurückkehren. In London arbeitete er als freier Schriftsteller, Redakteur des von seinem engsten politischen Freund Karl Kautsky herausgegebenen Theorieorgans der Partei »Die Neue Zeit«, Korrespondent des »Vorwärts« und Herausgeber der Werke Ferdinand Lassalles.

Zweifel an der Richtigkeit einiger zentraler Marx’scher Grundannahmen und Zukunftsprognosen kamen ihm seit Anfang der 90er Jahre. Bernstein, der von Friedrich Engels zum Erben und Nachlassverwalter eingesetzt worden war, trat nach dessen Tod im August 1895 mit seinen Zweifeln an die Öffentlichkeit und löste damit die Debatte aus, die ihn weltberühmt gemacht, an den Rand eines Parteiausschlusses gebracht und zum Bruch mit Kautsky geführt hat. Als er 1901 nach Aufhebung des Haftbefehls nach Deutschland zurückkehren konnte, sah die Partei seiner Rückkehr mit gemischten Gefühlen entgegen: Die Gegner auf der Linken der Partei »ängstigten sich vor dem Eintreffen von irgend etwas unbestimmt Drohendem«, berichtet Heinrich Braun seiner Frau, und Freunde wie der Parteisekretär Ignaz Auer waren besorgt, »daß er keinerlei Existenz finden wird. So hat mir Auer gestern gesagt, das beste wäre, Bernstein ginge nach Zürich; wovon solle er hier leben?« [JULIE BRAUN-VOGELSTEIN: Heinrich Braun. Ein Leben für den Sozialismus, Stuttgart 1967, S. 138f. [Brief Heinrich Brauns an Lily Braun vom 15.1.1901].]
Es gelang Bernstein nach und nach, das Misstrauen gegen ihn in der Partei abzubauen. In den von Joseph Bloch herausgegebenen

[Seite der Druckausg.: 7 ]

»Sozialistischen Monatsheften« fand er eine neue publizistische Heimat. Seit 1902 war er, zunächst bis 1907 und dann ununterbrochen seit 1912, als Vertreter Breslaus Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. Dort hatte er sich »als Arbeitsfeld [...] solche Gebiete« ausgewählt, »auf denen ich sozusagen parteiorthodox war: Fragen der Steuer- und Handelspolitik und hatte später auch mehrmals [...] zum Haushalt des Ministers des Auswärtigen zu sprechen«. [BERNSTEIN: Entwicklungsgang (wie Anm. 1), S. 227.]
Die Außenpolitik entwickelte sich unter dem Eindruck der Wilhelminischen Weltpolitik und des chauvinistischen antibritischen Klimas seit 1905 zu einem Arbeitsschwerpunkt Bernsteins. Während er mit seinen dem Internationalismus verpflichteten Anschauungen in deutlichen Widerspruch zu Bloch und dem Kreis um die »Sozialistischen Monatshefte« geriet – ohne dass sich jedoch an seiner Mitarbeit dort etwas änderte –, fand er für seine Konzeption einer sozialdemokratischen Außenpolitik seit 1910 zunehmend die Unterstützung August Bebels und dann auch Kautskys. Damit gelang ihm eine gewisse Reintegration in die Partei, auch über den explizit ›revisionistischen‹ Flügel hinaus.

Großes Aufsehen erregte Bernstein erst wieder, als er am 19. Juni 1915 gemeinsam mit Kautsky und dem Parteivorsitzenden Hugo Haase den Aufruf »Das Gebot der Stunde« veröffentlichte. [LEIPZIGER VOLKSZEITUNG, Nr. 139 v. 19.6.1915.]
Durch seine Ablehnung der Burgfriedenspolitik und den Entschluss, die Zustimmung zu den Kriegskrediten zu verweigern, fand sich Bernstein Ende 1914 an der Seite seiner ehemals schärfsten Kritiker um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in der Parteiminderheit wieder. Bernsteins Hinwendung zum Pazifismus hatte sich schon vor dem Krieg abgezeichnet: Als erster Sozialdemokrat veröffentlichte er 1912, zu einem Zeitpunkt, als die Partei den bürgerlichen Pazifismus noch als »Friedensschwärmerei« ablehnte, einen Aufsatz im Verbandsorgan der

[Seite der Druckausg.: 8 ]

Deutschen Friedensgesellschaft. [BERNSTEIN: Wie man Kriegsstimmung erzeugt, in: DIE FRIE DENS-WARTE, Jg. 14/1 (1912).]
Der als ›Rechtsabweichler‹ geltende leidenschaftliche Internationalist geriet nun selbst in Schwierigkeiten, seinen Standort in der Partei zu beschreiben: Im November 1914 bekannte er gegenüber Hans Delbrück, er sei nicht nur Sozialist, sondern zähle »in der Frage der Internationalität zur Linken meiner Partei«. [Staatsbibliothek Berlin NL HANS DELBRÜCK Briefe: Bernstein, Eduard, Bl. 8 verso [Brief vom 3.11.1914].]
Doch wenig später verwendete er das Attribut ›links‹ nicht mehr, sondern wandte sich entschieden gegen die Auffassung, es bestehe eine Kontinuität zwischen dem Gegensatz Revisionisten – orthodoxe Marxisten einerseits und Nationalisten – Internationalisten andererseits. Den nationalistischen rechten Flügel der Partei bezichtigte er des Opportunismus, Opportunismus aber bedeute die Aufgabe jeglicher Theorie, also auch des Revisionismus. [BERNSTEIN: Revisionismus und Internationalismus, in: SAP, Jg. 1, Nr. 7 (16.6.1915).]
Dass in England und auch in Frankreich »die am meisten dem Kriege widerstrebenden Elemente der Arbeiterschaft solche waren, die man ehedem als Revisionisten bezeichnet hat«, darauf machte Ende 1918 Kautsky aufmerksam und nannte Bernsteins britische Freunde Ramsay MacDonald, John Burns und Keir Hardie. [KARL KAUTSKY: Die Wurzeln der Politik Wilsons, Berlin 1919, S. 37.]
Bernsteins Haltung war also, nahm man die internationale Arbeiterbewegung in den Blick, keineswegs ungewöhnlich. In Deutschland jedoch waren es vorwiegend linke Kräfte, die in Opposition zur Kriegspolitik gingen. Als die Parteiminderheit im April 1917 die Gründung einer neuen Partei beschloss, hatten Bernstein, Kautsky und Haase sich zwar dagegen ausgesprochen, doch traten auch sie der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) bei.

[Seite der Druckausg.: 9 ]

Im Rahmen dieser Untersuchung soll das Wirken Bernsteins in der Frühphase der Weimarer Republik, von November 1918 bis 1924, und damit der weniger bekannte Bernstein betrachtet werden. Durch die deutsche Niederlage im Krieg und die Revolution war die SPD über Nacht zur Regierungspartei geworden, doch auf diesen historischen Rollenwechsel war die deutsche Sozialdemokratie, der im Kaiserreich jegliche verantwortliche Mitgestaltung der ›großen Politik‹ verwehrt geblieben war, kaum vorbereitet. War Bernstein, der seit 20 Jahren forderte, die Sozialdemokratie solle sich von der Fixierung auf ihre Oppositionsrolle lösen und einer reformorientierten Kompromisspolitik in Kooperation mit bürgerlichen Kräften zuwenden, auf diese neue Situation besser vorbereitet?

Seine alten Forderungen nach einer Neubestimmung des politischen Kurses seiner Partei auf der Grundlage der Prinzipien der parlamentarischen Demokratie westlichen Musters hatten nun, als die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland Wirklichkeit geworden war, neue Aktualität gewonnen. Aktiv hat Bernstein versucht, in das Revolutionsgeschehen einzugreifen und diese grundsätzliche Neuausrichtung seiner Partei zu bewirken. Doch er blieb in der Weimarer Sozialdemokratie weitgehend ohne Einfluss. Zu untersuchen, wie Bernstein versucht hat, die Partei für seine Ziele zu gewinnen und warum es ihm nicht gelang, einen gewichtigen Einfluss auf die Politik der SPD auszuüben, hat sich diese Arbeit zur Aufgabe gestellt. Den mit der Revolution beginnenden Untersuchungszeitraum mit dem Jahr 1924 zu beenden, erschien sinnvoll, da sich zu diesem Zeitpunkt die wieder vereinigte Partei konsolidiert hatte und die aus der USPD zurückgekehrte jüngere Theoretiker-Generation um Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid die Theoriediskussion in der Partei bestimmte. Bernstein behielt zwar sein Reichstagsmandat bis 1928, doch seine Bedeutung im Parteileben ging immer weiter zurück. 1925 musste er

[Seite der Druckausg.: 10 ]

sich aus gesundheitlichen Gründen zudem des aktiven politischen Lebens weitgehend enthalten. [ IISG NL BERNSTEIN D VI 137.]

Vier Themen beherrschten Bernsteins politisches Engagement in der Frühphase der Weimarer Republik: das Ringen um die Anerkennung der deutschen Kriegsschuld, der Kampf gegen den russischen Bolschewismus und seine deutschen Anhänger, das Werben für die Wiedervereinigung der gespaltenen Sozialdemokratie und schließlich die Forderung an seine Partei, sich vorbehaltlos zu Koalitionsbündnissen mit bürgerlichen Parteien bereit zu finden.

Um Bernstein als politisch Handelnden sichtbar zu machen, stützt sich die Untersuchung zum einen auf seine umfangreiche politische Publizistik aus der Zeit zwischen 1918 und 1924, zum anderen auf Quellen, die ihn als unmittelbar Agierenden zeigen: Sitzungsprotokolle, Redemitschriften, Zeitungsberichte und in Memoiren und Briefen überlieferte Berichte von Zeitgenossen.

Sowohl die Frühphase der Weimarer Republik als auch die Geschichte der Sozialdemokratie für diesen Zeitraum sind gut erforscht. Auch liegen Monographien zu den vier genannten Themenfeldern, denen Bernsteins besondere Aufmerksamkeit galt, vor: Die Auseinandersetzung um die Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik untersucht Ulrich Heinemann; diesem Streit in der unmittelbaren Nachkriegszeit ist die Studie von Michael Dreyer und Oliver Lembcke gewidmet. Zu den Einigungsbemühungen innerhalb der Sozialdemokratie unter besonderer Berücksichtigung der von Bernstein gegründeten Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie liegt die Dissertation Guido Knopps vor. Den Streit um die Koalitionsfrage schließlich hat Alfred Kastning für die Jahre 1919 bis 1923 untersucht; auch Heinrich August Winkler widmet diesem Thema besondere Aufmerksamkeit. [HEINRICH AUGUST WINKLER: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, 2. Aufl., Berlin/Bonn 1985; SUSANNE MILLER: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918–1920, Düsseldorf 1978; ULRICH HEINEMANN: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983; MICHAEL DREYER/OLIVER LEMBCKE: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage 1918/19, Berlin 1993; GUIDO F. KNOPP: Einigungsdebatte und Einigungsaktion in SPD und USPD 1917-1920. Unter besonderer Berücksichtigung der »Zentralstelle für Einigung der Sozialdemokratie«, Diss. Würzburg 1975; ALFRED KASTNING: Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919–1923, Paderborn 1970; WINKLER: Klassenbewegung oder Volkspartei? Zur Programmdiskussion in der Weimarer Sozialdemokratie 1920-1925, in: GG 8 (1982), S. 9-54.]

[Seite der Druckausg.: 11 ]

Die Bernsteinforschung hat sich zunächst und vor allem mit dem Revisionismusstreit befasst. Das Verdienst der Wiederentdeckung Bernsteins gebührt Peter Gay, der in seinem 1952 in den USA und 1954 in Deutschland erschienenen Buch über Bernsteins Auseinandersetzung mit Marx vor allem auf die Schwächen der Bernstein’schen Kritik aufmerksam gemacht hat; den zahlreichen Einflüssen auf das Bernstein’sche Denken ist zuerst Bo Gustafsson nachgegangen. [PETER GAY: Das Dilemma des demokratischen Sozialismus. Eduard Bernsteins Auseinandersetzung mit Marx, Nürnberg 1954; BO GUSTAFSSON: Marxismus und Revisionismus. Eduard Bernsteins Kritik des Marxismus und ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Frankfurt a.M. 1972. Zur inzwischen recht umfangreichen Literatur zum Revisionismusstreit siehe: VELI-MATTI RAUTIO: Die Bernstein-Debatte: Die politisch-ideologischen Strömungen und die Parteiideologie in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1898-1903, Helsinki 1994.]
Inzwischen haben sich Einzelstudien gründlicher mit dem Einfluss der englischen Fabian Society und der britischen Radikalliberalen um Bernsteins Freund Ramsay MacDonald auf das Bernstein’sche Denken befasst. [HERBERT FREI: Fabianismus und Bernstein’scher Revisionismus 1884-1900, Bern 1979; MICHÈLE J. LALANCETTE: Evolutionary socialism and the challenge of British liberal reform, 1890-1914. A study of the views of Jean Jaurès, Eduard Bernstein and Ramsary MacDonald, Diss. Toronto 1990.]
Anfang der 70er Jahre setzte eine recht intensive Bern-

[Seite der Druckausg.: 12 ]

stein-Rezeption innerhalb der deutschen Sozialdemokratie ein. Ein Großteil seiner Schriften wurde neu aufgelegt, und 1977 erschien Thomas Meyers sehr systematische Rekonstruktion von Bernsteins Entwurf eines demokratischen Sozialismus. Diese unverzichtbare Arbeit geht über manche Schwächen in Bernsteins Konzept hinweg und billigt seinem theoretischen Konzept eine größere Stringenz zu, als sie das Bernstein’sche Werk aufweist. [THOMAS MEYER: Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozialismus, Berlin/Bonn 1977.]
Ein Tagungsband von 1978 versammelt 24 Beiträge zu Bernstein aus der Doppelperspektive der historischen Leistung und aktuellen Bedeutung des sozialdemokratischen Theoretikers; für diese Untersuchung sind daraus vor allem der kleine Beitrag Susanne Millers zu Bernstein in Krieg und Revolution sowie die Untersuchung Hans-Christoph Schröders zu Bernsteins Stellung zum Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg von Bedeutung. [HORST HEIMANN/THOMAS MEYER (Hg.): Bernstein und der demokratische Sozialismus. Bericht über den wissenschaftlichen Kongreß »Die historische Leistung und aktuelle Bedeutung Eduard Bernsteins«, Berlin/Bonn 1978; darin: MILLER: Bernsteins Haltung im Ersten Weltkrieg und in der Revolution 1918/19, S. 213-221; HANS-CHRISTOPH SCHRÖDER: Eduard Bernsteins Stellung zum Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg, S. 166-212.]
Roger Fletcher hat sich mit Bernsteins außenpolitischen Vorstellungen seit seiner Rückkehr nach Deutschland bis zum Ausbruch des Krieges beschäftigt und die erheblichen Differenzen zwischen Bernsteins Ideen und der Konzeption einer sozialdemokratischen Weltmachtpolitik, wie sie der Kreis der »Sozialistischen Monatshefte« um Bloch vertrat, herausgearbeitet. Seine sehr kritische Beurteilung Bernsteins stößt auf scharfen Widerspruch Markku Hyrkkänens, der Bernsteins Stellung zur Kolonialpolitik zwischen 1882 und 1914 behandelt. Die

[Seite der Druckausg.: 13 ]

Stärken Bernsteins arbeitet er klar heraus, doch ähnlich wie Meyer neigt auch Hyrkkänen dazu, manche fehlende Stringenz in Bernsteins Denken wegdiskutieren zu wollen. Kürzlich hat er eine kleinere Studie zur Idee des Vertragssozialismus bei Bernstein vorgelegt. [ROGER FLETCHER: Revisionism and Empire. Socialist Impe rialism in Germany 1897–1914, London 1984; MARKKU HYRKKÄNEN: Sozialistische Kolonialpolitik. Eduard Bernsteins Stellung zur Kolonialpolitik und zum Imperialismus 1882-1914: Ein Beitrag zur Geschichte des Revisionismus, Helsinki 1986; DERS.: Die allseitige Durchführung der Genossenschaftlichkeit. Eduard Bernsteins Vertragssozialismus, in: Soziale Demokratie und sozialistische Theorie. Festschrift für Hans-Joseph Steinberg, hg. v. Inge Marßolek u. Till Schelz-Brandenburg, Bremen 1995, S. 18-29.]
Der Beziehung Bernstein – Kautsky ist eine Arbeit Till Schelz-Brandenburgs gewidmet, die den immer noch nicht erschienenen Briefwechsel zwischen den beiden wichtigsten sozialdemokratischen Theoretikern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts jedoch nicht ersetzen kann. Seit 1993 liegt endlich eine, jedoch leider nur aus der Sekundärliteratur gearbeitete, Biographie über Bernstein vor. [TILL SCHELZ-BRANDENBURG: Eduard Bernstein und Karl Kautsky. Entstehung und Wandlung des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz 1879 bis 1932, Köln u. a. 1992; FRANCIS LUDWIG CARSTEN: Eduard Bernstein. 1850-1932. Eine politische Biographie, München 1993.]
Nach dem Untergang der DDR haben sich auch einige ostdeutsche Forscher mit dem bis dato geächteten Bernstein befasst: Manfred Tetzel besorgte Neueditionen von Bernsteins Hauptwerk und zweien seiner autobiographischen Schriften, Ehrenfried Pößneck hat in sehr knapper Form die politischen Anschauungen Bernsteins seit den 1870er Jahren bis zu seinem Tod 1932 zusammengestellt. [BERNSTEIN: Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899, Neuausg. hg. v. Manfred Tetzel, Berlin 1991. Die Autobiographien s.o. Anm. 1. EHREN FRIED PÖSSNECK: Eduard Bernstein. Eine Dokumentation seiner politischen Anschauungen (Politisch-philosophische Studientexte der Leipziger Gesellschaft für Politik und Zeitgeschichte e. V.), Leipzig 1994.]

[Seite der Druckausg.: 14 ]

Sehr anregend ist schließlich eine jüngst erschienene Arbeit, die sich mit dem Einfluss des Judentums auf Bernsteins Denken beschäftigt, einem Themengebiet, zu dem bisher nur der wenig befriedigende kleine Beitrag Robert Wistrichs vorlag: Adam Weisberger untersucht den Einfluss der jüdischen Ethik vor allem auf Bernstein, Ernst Toller und Gustav Landauer. [ADAM M. WEISBERGER: The Jewish Ethic and the Spirit of Socialism, New York u.a. 1997; ROBERT S. WISTRICH: Eduard Bernstein und das Judentum, in: HEIMANN/MEYER (wie Anm. 14), S. 149-165.]

Eine größere Einzeluntersuchung zu Bernstein in der Weimarer Republik gibt es bisher nicht. In seiner Einleitung zu der 1998 erschienenen Neuausgabe von Bernsteins historiographischer Darstellung der Geschichte der deutschen Revolution 1918/19 widmet sich Winkler dem »unbekannten Bernstein« dieser Zeit, dem er bereits 1985 in einem längeren Aufsatz nachgegangen ist. Wenn es für die Politik der Weimarer Sozialdemokratie Alternativen gegeben hätte, so die These Winklers, wären diese bei Bernstein zu finden gewesen. [BERNSTEIN: Die deutsche Revolution von 1918/19. Geschichte der Entstehung und ersten Arbeitsperiode der deutschen Republik (Berlin 1921), Neuausg. hg. u. eingel. v. Heinrich August Winkler u. annot. v. Teresa Löwe, Bonn 1998; WINKLER: Eduard Bernstein als Kritiker der Weimarer Sozialdemokratie, in: L’Internazionale Operaia e Socialistica tra le due guerre. A cura di Enzo Collotti. Annali 23 (1983/84), Mailand 1985, S. 1003-1027; Winklers These ebd., S. 1027.]
Zwar ist der Name Bernstein in den politischen Wortschatz quasi als Synonym für an Realität und Machbarkeit ausgerichtete sozialdemokratische Reformpolitik eingegangen, doch Bernsteins praktische politische Tätigkeit ist bisher keiner eingehenden Betrachtung unterzogen worden.

[Seite der Druckausg.: 15 ]

Bernsteins theoretische Konzeption einer sozialdemokratischen Reformpolitik bildete die Grundlage seines politischen Wirkens: Ein einleitendes Kapitel skizziert sein Konzept unter Berücksichtigung der Modifikationen, die es durch das Erlebnis des Ersten Weltkriegs erfuhr. Das zweite Kapitel widmet sich Bernsteins Kampf für die Anerkennung der deutschen Schuld am Ausbruch dieses Krieges. Das dritte Kapitel untersucht Bernsteins inner- und überparteiliches Engagement in der bis zum Herbst 1922 gespaltenen Sozialdemokratie. Ein viertes Kapitel beschäftigt sich mit dem politischen Publizisten Bernstein und seinem schwierigen Verhältnis zur sozialdemokratischen Presse.

Indem hier der Blick von dem Theoretiker auf den Politiker Bernstein gelenkt wird, soll auch das vorherrschende Rezeptionsmuster, das Bernstein zum Inbegriff von pragmatischer Reformpolitik werden ließ und auf das sich auch die eingangs erwähnte Glosse stützt, am Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts, um eine Wendung Ralf Dahrendorfs aufzunehmen, auf den Prüfstand gestellt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

TOC Next Page