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Michael Brenner
Wie jüdisch waren Deutschlands Juden?
Die Renaissance jüdischer Kultur während der Weimarer Republik


Es ist in der Diskussion um die jüngste deutsch-jüdische Vergangenheit schon beinahe Pflicht geworden zu betonen, welch gute Mitbürger die jüdischen Deutschen waren, auf ihre „Beiträge" zur deutschen Kultur hinzuweisen und das ganze dann unter dem Begriff der Symbiose zusammenzufassen. Es scheint mitunter, als ob erst die gelungene Integration und die kulturellen Höchstleistungen die weitgehende Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums zur besonderen Tragödie werden lassen. Dem Hinweis auf die Tatsache, dass die deutschen Juden zwar gewiss Deutsche, aber eben auch Juden waren und dies in unterschiedlichster Art und Weise zum Ausdruck brachten, wird in dieser Diskussion zumeist mit Verwunderung, mitunter gar mit Ablehnung begegnet. Wohl niemand hat diese Situation treffender geschildert als der aus Berlin stammende Jerusalemer Gelehrte Gershom Scholem: „Nachdem sie als Juden ermordet worden sind, werden sie nun in einem posthumen Triumph zu Deutschen ernannt, deren Judentum zu betonen ein Zugeständnis an die antisemitischen Theorien wäre. Welche Perversion im Namen eines Fortschritts, der den Verhältnissen ins Auge zu schauen nach Möglichkeit vermeidet!"

Dieses von Scholem kritisierte Bild von „Juden ohne Judentum" – Juden, die keine eigenständige Kultur zu schaffen vermochten, sondern lediglich zur deutschen Kultur beitrugen, bevor sie sich 1933 ihres Jüdischseins entsannen - ist bis heute anzutreffen. In der Tradition einer Historiographie von Aufstieg und Niedergang hat man den Weg der deutschen Juden zwischen Emanzipation und endgültiger Vernichtung häufig als ihren kon-

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sequenten Rückzug von jüdischen Traditionen und ihr allmähliches Aufgehen in der deutschen Kultur aufgefasst.

Die komplexe Lage der Juden während der Weimarer Republik spiegelt sich aber gerade in ihrem Versuch wider, auf dem schmalen Pfad zu wandeln, der den Fortbestand einer eigenen jüdischen Identität in einer nichtjüdischen Gesellschaft erlaubte. Wer einer jüdischen Sphäre angehörte, die eben nicht als geistiges Ghetto gedacht war, hatte mehrere Identitäten und lebte in vielen Welten: ein und derselbe Schriftsteller bezog seine Inspiration aus deutschen Heldensagen und aus chassidischen Geschichten, ein und derselbe Pädagoge war in der Erwachsenenbildung der deutschen Volkshochschule und in der des jüdischen Lehrhauses tätig, ein und derselbe Maler bildete deutsche Soldaten und Ostjuden ab, ein und derselbe Architekt baute Warenhäuser und Synagogen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstverständlich gab es auch während der Weimarer Republik viele Juden, die in der Tradition der „deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens" des 19. Jahrhunderts ihr Judentum, wenn überhaupt dann nur als rein konfessionelles Anhängsel oder als ehrwürdiges Überbleibsel einer Familientradition pflegten oder, wie Kurt Eisner es ausdrückte, ihrer Gemeinschaft so lange treu blieben, so lange diese verfolgt wurde. Dennoch änderte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts und vor allem mit dem 1. Weltkrieg so manches in der deutsch-jüdischen Identität, und die ehemals so zutreffend erscheinende Charakterisierung als „deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens" wurde zunehmend angezweifelt und parodiert. Wie war es denn für die, um mit Sigmund Freud zu sprechen, „deutschen Staatsbürger jüdischen Unglaubens" bestellt, die von ihren christlichen Nachbarn eben nicht mehr unterschied, dass die einen samstags in die Synagoge gingen, während die anderen sonntags die Kirche besuchten, sondern nur noch, dass die einen samstags nicht in die Synagoge gingen und die andern sonntags nicht in die Kirche. Wenn aber die Religion keine Rolle mehr spielte, welche Funktion hatte

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dann das Judentum bei einer solch rein konfessionellen Definition? Die Zionisten sprachen daher zynisch von den „deutschen Staatsjuden bürgerlichen Glaubens", und für den liberalen Juden Franz Rosenzweig galt: „Von Mendelssohn ab tanzte [...] das Judentum jedes Einzelnen nun auf der Nadelspitze eines Warum." Ich will nochmals betonen, dass es sich bei den deutschen Juden während der Weimarer Republik um eine äußerst differenzierte Gruppe handelte, auch was ihre Haltung gegenüber ihrer jüdischen Herkunft betraf, und dass ich mich in meinen Ausführungen dezidiert mit einem Segment dieser Gemeinschaft auseinandersetze - wenn Sie so wollen, den „jüdischen Juden" - dem ich Isaac Deutschers Begriff vom „nichtjüdischen Juden" oder George Mosses Formulierung von den „German Jews beyond Judaism" entgegenhalten möchte.

Oft begegnete man innerhalb einer Familie unterschiedlichen kulturellen und politischen Identifikationen. Gershom Scholem schildert in seinen Jugenderinnerungen eine Familie, die in ihrem Mikrokosmos die Mannigfaltigkeit des deutschen Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts verkörperte. Der kleine Gerhard (Gershom) war der einzige von vier Brüdern, der den Drang verspürte, mehr über das Judentum zu erfahren, und sich mit dem Zionismus identifizierte. Später wurde er ein weltberühmter Professor für jüdische Mystik, aber zu der Zeit, als er noch in Deutschland lebte, war er keineswegs der bekannteste der Scholem-Brüder. Diese Ehre gebührte seinem Bruder Werner, der zwischen 1924 und 1928 für die KPD im Reichstag saß. Ein weiterer Bruder, Erich Scholem, war Mitglied der liberalen Deutschen Demokratischen Partei und bekannte sich zur Ideologie des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", der die Hauptströmung unter den deutschen Juden vertrat. Der älteste Bruder schließlich, Reinhold Scholem, war Deutschnationaler und unterstützte die konservative Deutsche Volkspartei.

War Gershom Scholems Suche nach einem verlorenen Judentum auch in seiner eigenen Familie ein Unikum, so war sie

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doch bezeichnend für viele jüdische Intellektuelle seiner Generation und stellte den Sonderfall eines in der Weimarer Gesellschaft verbreiteten Phänomens dar – der Revolte des Sohns gegen den Vater. Ungefähr zu derselben Zeit, als Scholem sich in jüdische Geschichte und Mystik vertiefte, entdeckte ein begeisterter Franz Kafka jiddisches Theater und hebräische Literatur, und Franz Rosenzweig – auf der Schwelle des Übertritts zum Christentum, den einige seiner Vettern bereits vollzogen hatten – brach zu seiner Reise in die jüdische Kultur auf. Sie alle waren ohne jedes oder fast ohne jedes jüdische Wissen aufgewachsen. Das Residuum an jüdischer Kultur, das die Eltern noch besaßen, war, wie Franz Kafka im Brief an den Vater schrieb, „zu wenig, es vertropfte zur Gänze, während Du es weitergabst."

Kafka hat den Brief an seinen Vater nie abgeschickt, der ihn ohnedies nicht verstanden hätte. Für ihn wie für die Väter von Gershom Scholem und Franz Rosenzweig war Jüdischsein ein etwas sonderbares Stück Urväterhausrat, das man irgendwie erhalten musste, ohne es mit konkretem Inhalt zu füllen. Die Urgroßväter Kafkas und Scholems waren in bescheidenen Verhältnissen in einer geschlossenen jüdischen Gesellschaft aufgewachsen; ihre Großväter hatten den Weg zu wirtschaftlichem Erfolg und Integration in die deutsche Gesellschaft geebnet; ihre Väter setzten diesen Weg fort und erwarteten, dass ihre Kinder eines Tages dasselbe tun würden. Die Gründe dafür, dass die Generation Franz Kafkas das nicht tat, hingen nicht nur mit konkreten Entwicklungen im deutschen Judentum, sondern auch mit der generellen Entwicklung Deutschlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts zusammen.

Im 19. Jahrhundert schien den meisten Deutschen – Juden wie Nichtjuden gleichermaßen – eine unüberbrückbare Kluft das Judentum von der modernen Kultur zu trennen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass Juden, um Deutsche werden zu können, die Welt des Talmuds und der hebräischen Liturgie hinter sich lassen und statt dessen die Kultur Goethes und Beethovens annehmen mussten. Als den deutschen Juden in der Verfassung

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des Zweiten Reichs 1871 die rechtliche Gleichstellung gewährt wurde, hatten sie nach eigenem Verständnis diese Vorbedingung im Großen und Ganzen erfüllt. Das Studium der traditionellen jüdischen Quellen sowie die Kenntnis des Jiddischen und Hebräischen hatten sich im Wesentlichen auf eine kleine und immer mehr schrumpfende orthodoxe Minderheit beschränkt, während europäische Literatur, Musik und Kunst in allen deutsch-jüdischen Familien Einzug gehalten hatten.

Hannah Arendt hat diese Entwicklung unter deutschen Juden im 19. Jahrhundert auf ihre eigene, vielleicht etwas zugespitzte Weise zusammengefasst: „Juden, die ‚Kultur‘ wünschten, gaben ihr Judentum sofort und vollständig auf, auch wenn die meisten sich ihrer jüdischen Herkunft weiterhin bewusst blieben. Säkularisierung und sogar säkulare Bildung identifizierte man ausschließlich mit säkularer Kultur, so dass diesen Juden niemals der Gedanke kam, dass sie einen Prozess der Säkularisierung ihres eigenen Erbes eingeleitet haben könnten." Sogar ein so mitfühlender Beobachter wie Thomas Mann traf eine klare Unterscheidung, wenn er von Judentum und moderner Kultur sprach. Anlässlich der Beschreibung eines Besuchs bei seinem Schwiegervater in spe hielt er es für geboten, gegenüber seinem Bruder Heinrich zu betonen: „Kein Gedanke an Judentum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur."

Als Thomas Mann diese Feststellung traf, war unter deutschen Juden ein neues Interesse am Judentum erwacht, für das Martin Buber den Begriff „jüdische Renaissance" prägte. Drei Generationen, nachdem deutsche Juden begonnen hatten, dem - oft mauerlosen - Ghetto zu entkommen, war die Frage nach dem Wesen ihres Jüdischseins immer dringlicher geworden. Gewiss gab es Juden, die in der Weimarer Republik Orthodoxe blieben, und andere pflegten bei sich zu Hause die traditionellen jüdischen Gebräuche weiter. Manche hielten zumindest an einer liberalen Definition religiösen Jüdischseins fest. Die Religion allein erwies sich jedoch als brüchige Grundlage für die Selbst-

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definition einer stark säkularisierten jüdischen Bevölkerung, die die meisten rituellen Praktiken des Judentums ablehnte. Jene Juden, die sowohl die Ansicht verwarfen, das Judentum könne rein religiös definiert werden, als auch der Auffassung widersprachen, die Juden sollten sich vollständig an die deutsche Gesellschaft assimilieren, sahen sich also mit dem zentralen Problem jüdischer Existenz in der modernen säkularen Gesellschaft konfrontiert: Wie war eine neue Form des Judentums zu schaffen, und mit welchem Inhalt sollte diese gefüllt werden?

Um die dramatischen kulturellen Veränderungen im deutschen Judentum zu veranschaulichen, möge ein Blick auf zwei deutsch-jüdische Bibelübersetzungen genügen. Dazu müssen wir zeitlich ein wenig zurückgreifen. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts entstand unter der Federführung des Philosophen Moses Mendelssohn ein Werk, an das sich bis dahin kein anderer deutscher Jude gewagt hatte: die Übersetzung der Thora - der fünf Bücher Moses - aus dem Hebräischen in die hochdeutsche Sprache. Wir wissen, dass trotz Mendelssohns Beteuerung, diese Übersetzung und den dazugehörigen Kommentar nur für seine Kinder unternommen zu haben, ein anderes Motiv zumindest im Hintergrund eine Rolle spielte: die Mendelssohnsche Bibelübersetzung diente zahlreichen deutschen Juden als Lehrbuch der deutschen Sprache. Zu diesem Zweck wurde sie ursprünglich nicht etwa in lateinischen Buchstaben gedruckt, sondern in hebräischen Lettern - den einzigen für die Mehrzahl der damaligen deutschen Juden lesbaren Schriftzeichen.

Als 150 Jahre später Martin Buber und Franz Rosenzweig daran gingen, ihrerseits die hebräische Bibel zu übersetzen, waren sie mit umgekehrten Bedingungen konfrontiert: Nun waren zwar alle deutschen Juden tief in deutscher Sprache und Kultur verwurzelt, doch nur wenige von ihnen konnten noch Hebräisch lesen, geschweige denn verstehen. Die Aufgabe Bubers und Rosenzweigs war derjenigen Mendelssohns diametral entgegengesetzt: Sie versuchten nicht mehr, einen hochdeutschen Text zu schaffen, sondern kreierten ein hebraisiertes Deutsch, das - unter

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anderem - den deutschen Juden wieder das Gefühl für die Sprache ihrer Vorväter vermitteln sollte. Wäre es nach den Übersetzern gegangen, so wäre ihre Übertragung nur eine Vorstufe für die Leser gewesen, sich wieder dem Text im Original zu nähern.

Während Mendelssohn also nach einem Weg aus der autonomen und in vielfacher Hinsicht abgeschlossenen jüdischen Gesellschaft in die allgemeine Kultur suchte, strebten Buber und Rosenzweig danach, wiederum eine spezifisch jüdische kulturelle Sphäre zu errichten, ohne freilich ihre Beteiligung an der allgemeinen Kultur in Frage zu stellen. Der Buber-Rosenzweigschen Bibelübersetzung mag Symbolcharakter zukommen für eine breite Bewegung, die in den unterschiedlichsten kulturellen Bereichen ihren Ausdruck fand und die von Zeitgenossen als Jüdische Renaissance bezeichnet wurde.

Eines der symptomatischsten und wohl auch bekanntesten Beispiele dieser Wiederzuwendung zum Judentum war das Freie Jüdische Lehrhaus in Frankfurt am Main. Hinter dieser Institution der jüdischen Erwachsenenbildung stand das Bedürfnis zahlreicher deutscher Juden, die ohne jüdisches Wissen groß geworden waren, wieder etwas über ihre eigene Kultur kennenzulernen. Ständig konfrontiert mit dem Bewusstsein, Jude zu sein, wollten vor allem jüngere Juden erfahren, was dies eigentlich bedeutet: Jude zu sein.

Um hierbei ein wenig nachzuhelfen, war der junge Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig im Jahre 1920 von der jüngst gegründeten Gesellschaft für jüdische Volksbildung nach Frankfurt berufen worden. Der von ihm zu gründenden Jüdischen Volkshochschule verlieh er den Namen „Freies Jüdisches Lehrhaus", dabei bewusst auf das hebräische Beth-Midrash anspielend.

Obwohl das Lehrhaus sowohl mit der modernen deutschen Volkshochschulbewegung wie auch mit der altehrwürdigen jüdischen Institution des Beth-Midrash einige Gemeinsamkeiten aufwies, war es im Kern doch eine neuartige Institution - konfrontiert mit einer neuartigen Situation. Im Gegensatz zur Ar-

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beiterklasse und Mittelschicht, die von der deutschen Volkshochschulbewegung angesprochen wurden, handelte es sich bei den potentiellen Hörern des Lehrhauses zumeist um die Großbourgeoisie oder, um einen Ausdruck Rosenzweigs zu verwenden, das „Crèpe-de-chine-Publikum". Und anders als die Studenten des Beth-Hamidrash waren die Besucher des Lehrhauses zumeist völlige Amei-Haaretz, unwissend in jüdischen Dingen, unkundig der hebräischen Sprache und der traditionellen jüdischen Quellen.

Rosenzweig begegnete diesen spezifischen Voraussetzungen mit einem originellen Konzept, das er als Lernen in umgekehrter Richtung bezeichnete. Nicht nur die Schüler, nein, auch die Lehrer sollten Unwissende sein bzw. sich ihr Wissen erst kurz vor dem der Schüler angeeignet haben. So sollten Lehrende zugleich lernen und Lernende zugleich lehren. Dieser Bildungsprozess von unten nach oben schien Rosenzweig die einzig angemessene Reaktion auf die spezifische Situation des deutschen Judentums zu sein.

Es gelang Rosenzweig, sein Konzept in die Praxis umzusetzen: Den engeren Kern der Lehrer im Frankfurter Lehrhaus bildeten nicht „professionelle Juden", also Rabbiner und Religionslehrer, sondern jüdische Intellektuelle aus assimilierten Familien, die erst vor kurzem ihren Weg zurück ins Judentum gefunden hatten. Franz Rosenzweig selbst gehörte zu ihnen, hatte er doch noch am Vorabend des 1. Weltkrieges kurz vor der Taufe gestanden, bevor er sich entschloss, erst seine eigene Religion kennenzulernen, der er schließlich mit Überzeugung treu blieb. Weniger bekannt als Rosenzweigs Lebensweg sind diejenigen seiner engsten Mitarbeiter. Typisch ist die Beschreibung des Arztes Richard Koch, den Rosenzweig zur Mitarbeit für das Lehrhaus gewann: „Er wollte meine Mitarbeit für das Freie Jüdische Lehrhaus. Ich erwiderte, dass mir dazu alle Voraussetzungen fehlen. Er meinte, dass er gerade aus diesem Grund meine Mitarbeit brauche. Er brauche einen Mann, der nichts von der Sache verstehe." Mit ähnlichen Worten gewann Rosenzweig den

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aus völlig assimilierter Familie stammenden Ernst Simon sowie seinen bereits zum Christentum konvertierten Jugendfreund Rudolf Hallo als künftige Mitarbeiter. Aus ebenso assimiliertem Elternhaus stammte der Chemiker Eduard Strauss, der bezeichnenderweise ohne jegliche Hebräischkenntnisse die Bibelstunden des Lehrhauses leitete. Ein anderer zeitweiliger Lehrer des Lehrhauses, mit ähnlichem Familienhintergrund, Gershom Scholem, charakterisierte Strauss als den „wahren Stern" des Lehrhauses: „Seine überfüllten Bibelstunden waren Reden eines Erweckten", so fährt Scholem fort, „der aus dem Geiste sprach. Es waren, wie man das nach christlicher Sektensprache nennen dürfte, pneumatische Exegesen [...] Die Hörer waren wie in einem Zauberkreis gebannt. Wer auf den Bann nicht ansprach, der blieb weg. So ging es mir."

Durch derartig charismatische Persönlichkeiten versuchte Rosenzweig, das Publikum des Frankfurter Westends in das Lehrhaus zu locken, ihm klarzumachen, dass jüdisches Wissen Teil ihrer Bildung werden sollte - und schließlich, und hierin verstand er seine Hauptaufgabe, Teil ihres Lebens werden musste. Es versteht sich von selbst, dass in diesem Kreis charismatischer Lehrer der im nahen Heppenheim lebende Martin Buber nicht fehlen durfte, war er es doch, der bereits vor dem 1. Weltkrieg mit seinen chassidischen Erzählungen zahlreichen assimilierten Juden den Weg für ein wiedererstarktes Interesse an jüdischen Belangen geebnet hatte.

Doch auch andere Lockvögel sollten bestimmte Kreise des Frankfurter jüdischen Publikums ins Lehrhaus bringen. Mit dem bekannten Journalisten Siegfried Kracauer wollte Rosenzweig die „Kreise der Frankfurter Zeitung" ansprechen, was jedoch ein Flop wurde, da er nicht mit Krakauers Stottern rechnete; ebenfalls wenig erfolgreich war eine Veranstaltung mit dem Frankfurter Soziologen Franz Oppenheimer, der nur einmal erschien, dann jedoch seinen Assistenten schickte. Die Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes, Bertha Pappenheim - von Rosenzweig als „geniale Kratzbürste" bezeichnet - sollte ebenso die weib-

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lichen Interessierten ansprechen wie die Frauenrechtlerin Dora Edinger, mit der Rosenzweig die „Tanten für Frieden und Freiheit" gewinnen wollte. Weitere bekannte Namen unter den Dozenten des Lehrhauses beinhalten den späteren Nobelpreisträger Shmuel Yosef Agnon, den zu Ruhm gelangten Psychologen Erich Fromm und den vor wenigen Jahren in Los Angeles verstorbenen Mitbegründer einer anderen Frankfurter Schule, Leo Löwenthal.

Will man eine Bewertung des Frankfurter Lehrhauses vornehmen, so kann man ihm einen gewissen Erfolg keinesfalls absprechen. Im Gegensatz zu den schon seit längerem bestehenden Vereinen für jüdische Geschichte und Literatur gelang es dem Lehrhaus tatsächlich, breite Kreise des jüdischen Bürgertums anzusprechen, die sich bisher nie für jüdische Themen interessiert hatten. Besonders unter den Jüngeren galt das Lehrhaus als „in", und so mancher Vater beklagte sich bei Rosenzweig, dass sein vierzehnjähriges Töchterchen die Hausaufgaben vernachlässige, weil es glaube, am Nachmittag an den Lehrhauskursen teilnehmen zu müssen. Die höchste Teilnehmerzahl erreichte das Lehrhaus 1922 mit 1.100 Hörern in einem Semester - gemessen an einer jüdischen Bevölkerungszahl von 27.000 mag dies wenig erscheinen, im Vergleich zu Hörerzahlen an deutschen Volkshochschulen war dies eine enorme Leistung.

Die meisten dieser Hörer schnupperten wohl nur einmal he-rein und erreichten nicht das Ziel, das Rosenzweig für das Lehrhaus gesetzt hatte: das intensive Lernen, das Erlernen der hebräischen Sprache, das Kennenlernen der traditionellen jüdischen Quellen. Dennoch bildete die kleine Gruppe, die Rosenzweig hierzu gewinnen konnte, eine noch in der Generation vorher für unmöglich gehaltene Avantgarde eines neuen jüdischen Lebensstils, die Erlernen und Erleben jüdischer Kultur mit dem Verankertsein in deutscher Kultur zu verbinden glaubte.

Häufig wird übersehen, dass es sich bei der jüdischen Erwachsenenbildung der Weimarer Jahre keineswegs nur um ein lokal begrenztes Phänomen handelte. Die Erfolge auch in ande-

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ren Gemeinden sind durchaus beachtenswert, sei es in Berlin, wo zum ersten Mal systematisch über zeitgenössisches Judentum unterrichtet wurde, in Breslau, wo alle deutsch-jüdischen Schriftsteller von Rang und Namen zu Vorträgen zu hören waren, in Stuttgart, wo die Anfänge eines organisierten christlich-jüdischen Dialoges stattfanden oder in Mannheim, wo im Bereich der jüdischen Musik Außergewöhnliches geleistet wurde. Das dortige Jüdische Lehrhaus organisierte an Chanukka 1931 eine Lehrkantate „Licht und Volk" zur Geschichte der Makkabäer. Kaum einer anderen Veranstaltung gelang es, eine ähnlich große Zahl von Gemeindemitgliedern aktiv für ein kulturelles Unternehmen zu gewinnen. Der Chor auf der Bühne allein bestand aus über 250 Gemeindemitgliedern, viele halfen bei der Vorbereitung, an die Tausend sahen die Aufführung, die nicht etwa in der Gemeinde, sondern im großen Saal des Mannheimer Rosengartens stattfand. Das Beispiel der Lehrkantate, das in anderen Gemeinden Nachahmung fand, zeigt deutlich die Kombination jüdischer Traditionen mit den kulturellen Errungenschaften der Gegenwart. Die Tradition des Chanukkaspiels wurde durch Gemeinderabbiner Max Grünewald mit der erst ein Jahr vorher durch Bertolt Brecht, Kurt Weill und Paul Hindemith geschaffenen musikalischen Form des Lehrstücks verbunden.

Ebenso wie Franz Rosenzweig auf Modelle zeitgenössischer Erwachsenenbildung zurückgriff, fand Grünewald im pädagogisch wirksamen und viele Beteiligte fordernden Lehrstück das ideale Modell für eine Belebung jüdischer Kultur in einem modernen Rahmen.

Ein weiterer Bereich, der sich um die Belebung jüdischer Kultur und Wiederaneignung jüdischen Wissens bemühte, war die Wissenschaft des Judentums. Begründet im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, war ihr Schaffen während der ersten hundert Jahre vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - durch apologetisch gefärbte Forschungen gekennzeichnet. Mit Hilfe der Wissenschaft, so sprachen dies ihre Gründerväter von Im-

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manuel Wolf bis Leopold Zunz offen aus, sollte auch das Judentum die ihm gebührende Anerkennung als Weltkultur erfahren und letztlich den Juden in ihrem Kampf um rechtliche Gleichstellung zugute kommen. Für eine kleine Gruppe ihrer Vertreter im 19. Jahrhundert mag auch die Moritz Steinschneider zugesprochene Behauptung, mit Hilfe der Wissenschaft dem Judentum ein ehrwürdiges Begräbnis zu verschaffen, zugetroffen haben.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert machten sich dann - sicherlich unter Einwirkung des Zionismus - neue Tendenzen in der Wissenschaft des Judentums bemerkbar: Es entstanden Teilbereiche wie jüdische Soziologie, Volkskunde und Familienforschung, die sich nicht mehr vornehmlich auf die Erforschung der Vergangenheit konzentrierten, sondern ihren Blick auf die Gegenwart und Zukunft des jüdischen Volkes richteten. In der Weimarer Zeit schließlich kam eine Tendenz zum Vorschein, die ich als Popularisierung der Wissenschaft des Judentums definieren würde. Übersetzungen jüdischer Quellen wie die Bibelübertragung von Buber und Rosenzweig, aber auch Lazarus Goldschmidts Talmudübersetzung gehörten ebenso in diesen Bereich wie der Plan eines monumentalen Werkes zur jüdischen Geschichte, zu dem unter Leitung von Ismar Elbogen führende jüdische Historiker der ganzen Welt Beiträge verfassen sollten.

Während dieses Werk wegen der Wirren der Weltwirtschaftskrise und der Machtübernahme der Nazis nicht ausgeführt wurde, bilden die beiden jüdischen Enzyklopädien der Weimarer Republik das Zentrum des Versuches, die Erkenntnisse des ersten Jahrhunderts der Wissenschaft des Judentums einem breiten Publikum in deutscher Sprache zugänglich zu machen.

Das Erscheinen des auf Hochglanzpapier mit zahlreichen Illustrationen geschmückten fünfbändigen Jüdischen Lexikons 1927-1930 wurde in der gesamten jüdischen Presse - trotz mancher Einwände im Detail - stürmisch begrüßt. Die zionistische „Jüdische Rundschau" feierte es als Mittelpunkt einer Renaissance jüdischen Wissens, liberale und orthodoxe Zeitungen

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schlossen sich dieser Tendenz an. Ein derartiges Werk nahm sich in der Tat gut aus in der Bibliothek deutscher Juden. Hatten ihre Vorfahren noch vor wenigen Generationen jüdische Bücher aus ihren Regalen entfernt, so richteten sich diese neben Klassikern und modischen Neuerscheinungen wieder ihre jüdische Bücherecke ein. In dieser nahm das Jüdische Lexikon einen Ehrenplatz ein, galt es doch wiederum als Teil der Allgemeinbildung, auch über jüdische Grundbegriffe Bescheid zu wissen.

Als das Jüdische Lexikon am Ende der zwanziger Jahre erschien, erhielt es in Form eines noch anspruchsvolleren Werkes, der Encyclopaedia Judaica, bereits Konkurrenz. Im Gegensatz zum Lexikon richtete sich die Encyclopaedia nicht nur an gebildete Laien, sondern auch an das Fachpublikum. Wenn auch die großen jüdischen Namen wie Einstein, Freud und Trotzki fehlten, die allesamt Beiträge für die gleichzeitig erscheinende Ausgabe der Encyclopaedia Britannica lieferten, so ist die Liste der Beiträger doch beeindruckend. Zwar nicht Albert Einstein, aber dafür sein ebenfalls berühmter Cousin, der Musikwissenschaftler Alfred Einstein gehörte zu den Mitarbeitern der Encyclopaedia Judaica. Hier publizierte Gershom Scholem seine erste längere Zusammenfassung über Kabbala, hierfür lieferte Walter Benjamin einen Beitrag über Juden in der deutschen Kultur.

Die Versuche, eigenständige jüdische Kulturleistungen zu schaffen, erschöpfen sich natürlich nicht an diesen beiden Beispielen. Auf den Gebieten von Kunst und Musik, Literatur und Publizistik, Architektur und Bildungsarbeit entstanden während der Weimarer Republik zahlreiche Projekte, die den Schluss zulassen, dass es für einen Großteil der jüdischen Bevölkerung durchaus selbstverständlich war, als Deutsche und Juden zu leben und zu wirken und nicht das eine für das andere aufzugeben.

Auch wenn nur eine Minderheit der deutschen Juden aktiv an diesen Kulturleistungen teilhatte, war die Grundlage für eine Hinwendung zum Judentum doch breiter. Dies war sowohl in dem tatsächlichen Interesse an den eigenen Wurzeln begründet wie auch in der zunehmenden Ausgrenzung von einer sich zu-

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nehmend als Volksgemeinschaft definierenden deutschen Gesellschaft. Mochte sich vor dem 1. Weltkrieg in der Tat ihre eigene Geschichte noch als eine Erfolgsgeschichte lesen, in den Jahren danach wurde die Bürde des Erfolgs - um einen Ausdruck des Historikers Fritz Stern zu gebrauchen - immer sichtbarer.

Der Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum konnte sich in der Weimarer Republik kaum noch ein deutscher Jude verwehren. Für manche führte diese Auseinandersetzung zu einer bewussten und vollständigen Trennung von der jüdischen Gemeinschaft, für die Mehrheit jedoch bedeutete sie eine neue Identitätssuche. Die jüdische Jugendbewegung, zu deren unterschiedlichen Organisationen in den zwanziger Jahren jeder dritte jüdische Jugendliche gehörte, verkörperte am deutlichsten diese Bewegung hin zum Judentum, die zumeist auch eine Suche nach dem verlorenen jüdischen Wissen bedeutete. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass in vielen Großstädten, wie Frankfurt, Hamburg und Köln, Ende der zwanziger Jahre beinahe jeder zweite jüdische Schüler einmal eine jüdische Schule besuchte, dass in Städten wie München und Nürnberg erstmals seit Jahrzehnten überhaupt wieder jüdische Schulen eröffnet wurden.

Man sollte diese jüdische Renaissance nicht als deutsch-jüdische Symbiose mißverstehen. Dieser Ausdruck wurde zu Recht von Gershom Scholem diskreditiert. Die hier geschilderte Entwicklung muss durchaus auch als Zeichen der Krisensitua-
tion erkannt werden, die der zunehmende Antisemitismus für die Juden der Weimarer Republik bedeutete. Anstelle des Gemeinsamen wurde nun eher das Trennende betont. In fast prophetisch anmutenden Worten formulierte zehn Jahre vor dem Beginn der NS-Herrschaft der Arzt und Erwachsenenbildner Richard Koch den Sinn des Lehrhauses folgendermaßen:

    So trennen wir uns von niemand, der guten Willens ist. Auch nicht von der nichtjüdischen Welt, den Völkern, unter denen wir nicht nur wohnen, sondern zu denen wir so gehören, wie wir sind, mit dem was wir lieben und

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    wünschen. Möge unser fernerer Weg mit ihnen nicht wieder ein Weg des Leidens werden, wie er es auf so langen Strecken gewesen ist. Wenn unser geschichtliches Leid aber wieder kommt, dann wollen wir wissen, warum wir leiden, wir wollen nicht wie Tiere sterben, sondern wie Menschen, die wissen, was gut und schlecht ist [...] Dass wir Juden sind, dass wir Fehler und Tugenden haben, ist uns von uns selber und anderen gesagt worden. Das Lehrhaus soll uns lehren, warum und wozu wir es sind.

Ich möchte es abschließend doch wagen, auf die heutige Relevanz dieses Abschnitts deutscher und jüdischer Geschichte hinzuweisen. Bei allen geschichtlichen Differenzen zur heutigen Zeit gibt es auch ganz entscheidende Parallelen zur heutigen Situation. Die Juden in der Diaspora haben sich, unter gewiss veränderten - und teilweise tragisch veränderten - Umständen, weiterhin mit der Frage auseinanderzusetzen, die Richard Koch in Bezug auf das Lehrhaus stellte, nämlich zu wissen, was es bedeutet, als Jude in einer modernen Welt zu leben. Mit anderen Worten: Wie kann ich meiner Herkunft mehr als nur nominell treu bleiben und dennoch ein völlig integraler Bestandteil einer Gesamtgesellschaft sein? Hier sei ein letztes Mal Franz Rosenzweig zitiert, der ganz bewusst unter Benutzung eines antisemitischen Terminus sagte: „Die Verjudung hat aus mir keinen schlechteren, sondern einen besseren Deutschen gemacht." Dies ist freilich in einer von vornherein bunt zusammengewürfelten Gesellschaft wie etwa der amerikanischen einfacher möglich als in den europäischen Nationalstaaten. Doch stellt sich die Frage heute auch für die deutsche Gesellschaft: Inwieweit kann und darf der Andere auch anders sein und dennoch Deutscher werden oder bleiben? Diese Herausforderung wurde zuletzt im Kontext der Neuregelung des Staatsbürgerrechts im vergangenen Jahr allzu deutlich. Viele der Fragen, die sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Bezug auf die Integration und Duldung

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einer jüdischen Minderheit ergaben, stellen sich heute für andere, größere Minderheiten, wie etwa die türkische bzw. muslimische. Darf auch diese, selbst wenn sie stark säkularisiert sein sollte, ihre kulturelle Identität nur aus einer religiösen Minderheitenposition beziehen oder sind heute auch andere Defini-
tionsmuster legitim? Es bleibt zu hoffen, dass am Beginn eines neuen Jahrhunderts auch neue Antworten auf eine in der deutschen Geschichte alte Frage gefunden werden.

Michael Brenner ist Professor für Jüdische Geschichte und Kultur am Historischen Seminar der Universität München.
Sein Buch „Jüdische Kultur in der Weimarer Republik" erschien im Frühjahr 2000 im Verlag C.H. Beck.


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