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TEILDOKUMENT:

ANHANG: DOKUMENTE
[von Kurt Schumacher]



[15.]
Arbeiter und Verfassung


STW Nr. 184/185 v. 8./9.8.1929

I.

Man kann nicht der Verfassung vom 11. August 1919 gedenken, ohne sich des 1. August 1914 zu erinnern. Giftig genug wird von den Hassern der Weimarer Verfassung ja auch erklärt, sie sei ein Kind der Niederlage. Gewiß, die Tatsache, daß ihre Grundgedanken früher zur Wirklichkeit wurden, als man vorher annehmen konnte, ist ein Ergebnis der Niederlage, aber der Niederlage des alten Systems. Die hat die Notwendigkeit der demokratischen Republik und ihrer Verfassung schlagend bewiesen.

In diesem Zusammenhang gilt die Frage, ob sich das Weltgeschehen so gestaltet hätte, wenn die Grundgedanken der Weimarer Verfassung schon vor 1914 für das politische Leben des deutschen Volkes maßgebend gewesen wären. Um sich selbst zu retten, suchen die Mitschuldigen an der großen Katastrophe auch eine Art von Kriegsschuld des deutschen Volkes herauszukonstruieren, das sich von ihnen angeblich bereitwillig in das Abenteuer hinzeinziehen ließ. Aber diese Schuld könnte bestenfalls in dem Mangel an Demokratie bestehen, in der Tatsache, daß das deutsche Volk nicht mit dem alten System aufgeräumt und ein demokratisches System der Kontrolle der Diplomatie und des Militärs geschaffen hat. Was im Munde der Feinde der Verfassung Anklage sein soll, ist in Wirklichkeit stärkste Empfehlung.

Nichts macht den Unterschied zwischen dem alten Reich und dem Deutschland der Weimarer Verfassung lebendiger als das Gedenken des 1. August. Das Recht über Krieg und Frieden, das einst dem Kaiser aufgetragen war, ein Umstand, der die Situation des Juli 1914 mit geschaffen hat, liegt heute bei den gesetzgebenden Faktoren, dem Reichstag und dem Bundesrat, kann nur auf Grund und in Vollmacht eines von ihnen gefaßten Beschlusses wirksam werden. Diese Grundtatsache alles politischen Geschehens, aus der Glück und Unglück eines Staates erwächst, ist vom Monarchen auf das Volk gekommen. Das ist das stärkste aller Beispiele dafür, daß jetzt das Volk selbst zeigen muß, was es kann. Es hat die große Chance, ungehindert seine eigenen Fähigkeiten zu produzieren. Es gilt, diese Chance zu erhalten und zu nützen.

Das Ergebnis von Weimar ist die Demokratie. Alle Kritik aus dem Lager der von unten nach oben drängenden Volksmassen kann nicht gegen die Demokratie gehen, sondern nur dagegen, was man mit ihr anfängt. Die Kritik an der Demokratie ist die Kritik am Volke und seinen Taten selbst. Man kann der Verfassung nicht die Verantwortung für die gesamte Klassenlage und die Kräfte der einzelnen in ihr ringenden Faktoren zuschieben. Darum geht die Bemerkung fehl, daß auch das neue Deutschland den Arbeitern wenig Hoffnung gebe. Eine Kritik der sozialen Zustände zu Lasten der Verfassung verkennt nicht nur die Tatsache, daß vom Staate her politische Klassenerfolge errungen worden sind und noch errungen werden, sondern verkennt vor allem die Rolle und die Kraft der Bourgeoisie. Die ist durch Revolution und Verfassung auch erst von manchen Bindungen des alten Obrigkeitsstaates frei geworden und fühlt sich jetzt als erste Macht. Man kann nicht pikiert der Verfassung vorwerfen, daß sie die tatsächlichen Machtverhältnisse insoweit anerkennt, daß sich die anderen auch rühren dürfen. Dem entspricht doch die Möglichkeit der eigenen Leistung. Eine Kritik an der Verfassung ist nur berechtigt, wenn und wo sie hinter dem klassenmäßig Erreichten und Erreichbaren zurückbleibt. Ein solch einschränkendes und hemmendes Moment in der großen Auseinandersetzung der Klassen ist die Weimarer Verfassung nicht. Wohl ist sie nichts Einheitliches, sind in ihr verschiedene Welten lebendig.

Das deutsche 1789, die radikale bürgerliche Revolution, ist nie Wirklichkeit geworden. Ihre programmatischen Forderungen haben darum erst in der Verfassung ihren Niederschlag gefunden. Daneben stehen Menschheitsgedanken der bürgerlichen Demokratie, die längst allein von der Sozialdemokratie vertreten werden, weil der moderne Hochkapitalismus mit ihnen nichts mehr anzufangen weiß. Hinzu treten Konzessionen an die, die nicht im Herzen bei dem Neuaufbau waren, ohne die es aber nicht gegangen ist. Und schließlich ist eine Anzahl moderner Klassenkampfergebnisse und Gedanken aus der Ideenwelt der Arbeiterschaft da. Diese Verschiedenheit und Uneinheitlichkeit aber ist nicht nur ein Zufallsprodukt der politisch-taktischen Kräfteverhältnisse im heutigen Deutschland. Die Frage, wem der Staat gehören soll, ist durch die Weimarer Verfassung nicht beantwortet, konnte von ihr nicht beantwortet werden, weil die Voraussetzungen grundlegender Entscheidungen zwischen den Klassen nicht gegeben waren. Diese Elastizität, die aus dem Mangel an letzter grundsätzlicher Klärung entstand, hat nach dem Zusammenbruch das Reich gerettet, hat den zentrifugalen Ausbrüchen ihre Kraft genommen. Aber die Möglichkeiten zur Entwicklung, die sie gibt, können von jedem ergriffen werden, wie ja die Versuche der Nationalisten mit ihrem Volksbegehren gerade in diesen Monaten zeigen. Die Illusion von der Verfassung als dem Ruhebett des Staatsbürgers, auf dem er entrüstet aufschreit, wenn ihm das Leben irgendwie weh tut, muß gerade in der Arbeiterschaft aufhören. Darum ist es auch so falsch, unwirsch von dem „Tanz um die Verfasssung" zu reden. Eine solche Kritik beruht auf Ansprüchen an die Verfassung, die sie niemals befriedigen kann und die zu erfüllen auch gar nicht ihre Aufgabe ist. Die Verfassung kann doch nicht schon die Ergebnisse des Klassenkampfes vorwegnehmen und stabilisieren. Ganz verderblich aber ist die üble Spielart pazifistisch gefärbter Intellektuellenpolitik, die durch höhnische oder politisch sinnlose Glossierung den Arbeitern die Verfassung verekeln möchte. Diese Stimmungen führen in die Sackgasse, aber nicht auf politisches Kampffeld. Sie sind in ihrer Art Auflockerung und Vorbereitung für die Faschisierung der Hirne und Seelen. Das Abwägen und Kritisieren von bestehenden Zuständen von der Warte letzter Ideale aus hat als Ansporn seinen Wert, als absoluter Maßstab in der Beurteilung von Tagesverhältnissen ist es unbrauchbar.

Es ist nicht das Wesen der Verfassung, Erreichtes ein- für allemal und unabänderlich festzulegen, oder gar den theoretischen Idealstaat zu proklamieren, sondern die Möglichkeit der zukünftigen Entwicklung zu geben. Darum ist die Frage nach dem Wert einer Verfassung auch die Frage nach der eigenen Kraft, die diese Chancen auszunützen imstande ist. Hier hat eine falsche Lobsingerei des Verfassungswerkes mehr Schaden als Nutzen gestiftet, denn sie erweckt Täuschungen über die Machtverhältnisse und provoziert damit geradezu eine gefährliche Schärfe der Kritik.

Den Wert der verfassungsmäßig stabilisierten Demokratie hat die Arbeiterschaft begriffen. Von den Tagen des Kapp-Putsches an, wo sie sich für die Ordnung einer Verfassung einsetzte, die damals ungekannter und unpopulärer war, als irgendetwas sonst in Deutschland, bis zu den Tagen der Gründung des Reichsbanners und seines großartigen Aufstieges. Nichts hat die Verfassung dem Proletariat näher gebracht als die Hemmungslosigkeit der gegnerischen Angriffe. So hat sich die Arbeiterklasse in ihrer großen Mehrheit für die Verfassung viel stärker erwärmt, als man anfangs zu hoffen wagte. Jetzt ist es geradezu so, daß die Stärke der Republikaner im Positiven liegt: sie sind für die Verfassung. Es ist umgekehrt die Schwäche der Gegner, daß sie gegen die Grundideen der Verfassung sind, aber nicht wissen, wofür sie eigentlich sind. Der Faschismus tut zwar so, als ob die Demokratie das politische Mittel des vorigen Jahrhunderts, er selbst jedoch die Staatslehre der Moderne sei, die allein die neuen sozialen, kulturellen und seelischen Situationen von heute meistern könne.

Wenn man all den krausen und wirren Gedankengängen des Faschismus in seinen vielen internationalen Erscheinungen nachgeht, dann kommt man zu dem kritischen Resultat eines der bedeutendsten Faschisten: „Der Faschismus ist klar in seinem ganzen negativen Programm, hingegen ist durchaus nicht klar, was sein Programm der positiven Neuerungen ist." All die Normen und Imperative des Faschismus sind verschwommen, unbestimmt, mit jedem beliebigen Inhalt zu füllen. Letzten Endes weiß der Faschismus noch nicht, ob er ein ins Anarchistische gesteigerter extremer Individualismus, oder eine Religion von der Allmacht des Staates, ob er die Skepsis eines von allen bisherigen politischen Erscheinungen und Idealen völlig Desillusionierten, oder der naive Drang unerfahrener junger Menschen zum Heroischen ist. Im tiefsten Grunde daher rührt die Sehnsucht nach dem starken Mann, die Flucht von allem Begrifflichen in das Mythische, von dem Kampf der Ideen in eine krankhaft brutale Immer-feste-druff-Stimmung. Es ist der Bankrott des Faschismus, wenn man führende Faschisten Italiens sprechen hört: Es gibt ja keinen Faschismus, es gibt nur einen Mussolinismus. Dieser Mussolinismus aber war schon vor dem Kriege da, bloß damals in revolutionär syndikalistisch-sozialistischem Gewande. Nach dem Kriege aber hat sich derselbe Mussolini dem Nationalismus zugewandt und hat in allen großen sozialen, staatsrechtlichen und gesellschaftlichen Fragen in den letzten sieben Jahren mindestens ein halbes Dutzend Mal seinen Standpunkt grundlegend geändert.

Stärker als das naive Gestammel der sog. Programme wirkt die Suggerierung mit primitiven Mitteln. Man braucht keine konstruktiven Ideen, man läßt sich Militärmärsche in Ohren und Blut gehen. Mit solchen Leuten kann der „cäsarische Mensch" alles machen. Nur das Volk hat nichts davon als Elend und Unterdrückung. Nicht der Faschismus als Idee ist gefährlich, trotzdem man das andersgeartete Lebensgefühl und das andere Temperament eines Teils der jüngeren Generation, die ihn nährt, nicht einfach übergehen kann, sondern die Hintermänner des Faschismus sind die große Gefahr, die seine organisatorischen Formen als Machtmittel zu klassenpolitischen Auseinandersetzungen mit der Arbeiterklasse gebrauchen wollen.

Die schwache Stelle der demokratischen Arbeiterschaft ist die Existenz der Kommunisten. Die können zwar die Massen für ihre Politik nicht begeistern, aber machen für die sozialen Unzulänglichkeiten der Jetztzeit die Verfassung und ihre demokratische Grundidee verantwortlich. Jede Schwächung der Demokratie aber ist eine Verstärkung des Faschismus. Dabei übersehen die Bolschewisten aller Länder gern, daß auch sie die Demokratie als das ethisch Höhere und die Diktatur der Sowjets nur als einen vorübergehenden Zustand ansehen. In den industriell und kulturell höchstentwickelten Ländern Europas scheitert zudem die Diktatur an den Tatsachen, den Machtverhältnissen auf allen Gebieten. Der Faschismus ist in Europa eher möglich als die Diktatur des Proletariats, denn die wirtschaftliche und gesellschaftliche Grundstruktur ist noch überwiegend kapitalistisch. In Deutschland soll man sich vor der Illusion hüten, daß der Faschismus ein für allemal erledigt ist, nur weil man sich seine Herrschaft schwer vorstellen kann.

II.

So bleibt bis auf weiteres die Frage offen, wer den Staat für sich erobert. Nur lautet die Fragestellung nicht, ob Diktatur des Proletariats oder kapitalistische Demokratie, sondern lautet letzten Endes, ob Faschismus oder Demokratie. Selbstverständlich sind zwischen diesen beiden letzten Möglichkeiten eine ganze Reihe von Zwischenlösungen möglich, die entweder nach der einen oder anderen Seite gravitieren.

In der Arbeiterschaft, die den Glauben an den Sozialismus in der Form eines stärksten inneren Verhältnisses zu seinen Idealen nicht verloren hat, weiß man genau, daß heute noch nicht um sozialistische Endziele gerungen wird, weil der moderne Hochkapitalismus noch nicht das letzte Wort seiner Entwicklung gesprochen hat. Aber um die Richtunggebung der Entwicklung wird gekämpft. Und dieser Kampf ist der Kampf um die Demokratie. Es besteht nämlich nicht nur eine Diskrepanz zwischen dem sozialen Ethos und den tatsächlichen sozialen Verhältnissen, sondern auch eine gewaltige Spannung zwischen den demokratischen Grundideen der Verfassung und der politischen Tatsachenwelt. Was innerhalb der Arbeiterklasse zu stärkster Kritik Anreiz gibt, ist nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Demokratie, was meist auch nicht auf die Schuld der Verfassung zu schieben ist.

Trotz des stolzen Wortes von der freiesten Verfassung der Welt hat sich die Demokratie in Deutschland noch nicht so durchgesetzt wie in anderen Ländern mit weniger freien Verfassungen. Dem größten Teil des deutschen Bürgertums fehlt der innere Respekt vor der Demokratie und den politischen Willensäußerungen des Volkes. Die Art, wie durch die Vielheit der Parteien das parlamentarische Prinzip von seiner demokratischen Grundidee in ein Virtuosentum der Zahlenkünste umgebogen wird, mag solchem Vernunftrepublikanismus entsprechen, dem Willen der Arbeiter zur Demokratie entspricht das nicht. In Württemberg haben wir das beschämende Beispiel dafür in der Art, wie sich die geschlagene Regierung nach den Maiwahlen 1928 an der Macht erhält und wie sich der Staatspräsident Bolz erdreistete, Kritik an dem Wählerwillen zu üben. So etwas ist in den Ländern der alten Demokratie einfach unvorstellbar. Die lächerliche Haltung in der Flaggenfrage, das sinnlose Rumstänkern, das unwürdige Jonglieren vieler Beamtungen sind einige Beispiele für diese Praxis.

Man wagt zwar nicht mehr laut „Nein" zu der Verfassung zu sagen, wie man es in den Jahren der Inflation noch oft genug riskierte. Man sagt aber auch nicht von innen heraus ein kräftiges „Ja", wie es notwendig wäre. Man sagt halt gar nichts, macht eine „freibleibende" Politik. Große bürgerliche Parteien haben für alle Fälle Außenseiter, denen sie je nach Bedarf die Zügel locker lassen. Mit den Methoden des Kunjunkturrittertums aber kann man keinen Staat beherrschen. Diese Art von bürgerlicher Freundschaft zur Republik löst in der Arbeiterschaft nur das Gefühl aus, daß hier eine Republik der andern, eine möglichst ungleiche, entdemokratisierte Klassenrepublik des Besitzes errichtet werden soll. Darüber hilft alle Legitimität und alle Leisetreterei dieser bürgerlichen Kreise nicht hinweg: die unwahrhaftigen Vorstöße gegen die angebliche Allmacht des Reichstages und das Geschrei nach dem Zweikammersystem wirken zersetzend auf demokratische Volksmassen, die doch sehen müssen, daß die Demokratie der Verfassung nach nicht volle Wirklichkeit ist.

Das Legitime, oder was sich als legitim gebärdet in der Sabotage der Republik, erbittert am meisten. Wogegen sich im heutigen Staats- und Verfassungsleben die Stimmung der Arbeiter mit Recht wendet, das ist die aus vielen Gründen erklärliche, aber allmählich um so gefährlichere Stimmung der Kampfmüdigkeit und des Herumgehens um Entscheidungen. Tatsächlich sind ja auch in den vergangenen Jahren viele Bestimmungen der Weimarer Verfassung einfach suspendiert gewesen und sind heute noch nicht in voller Kraft. Der Katalog der ungesühnt gebliebenen Verfassungsverletzungen ist kein kleiner. Seine Vergrößerung würde eine weitere Auflockerung des Verhältnisses der arbeitenden Massen zur Verfassung bedeuten. Toleranz und Weitherzigkeit in der Anwendung der Verfassung, um vielleicht über irgendeine Tagesschwierigkeit hinwegzukommen, unterbindet das Gedeihen des Glaubens an das System und seine Funktionsfähigkeit.

So ist es z.B. in dem Verhältnis des Reiches zu den Ländern. Was hat das Reich alles an Verfassungsverletzungen von Bayern entgegennehmen müssen, trotzdem vor allem die Arbeiterschaft durchaus für die Durchsetzung des Reichswillens war. Um so schmerzlicher wurde empfunden, daß die Staatsmaschine bei dem geringsten Übergriff von Arbeitern gar so tadellos funktionierte, nicht nur von solchen, die der Republik feindlich waren, sondern auch solchen, die ihr mit Leib und Leben zu helfen geneigt waren.

Noch kritischer ist die Stimmung bezüglich des Verhältnisses von Parlament zur Bürokratie. Das Parlament ist in der repräsentativen Demokratie der Ausdruck des Volkswillens. Mit Recht verlangen die Wähler, daß sich das Parlament gegenüber jedem Widerstand als letzter und höchster Faktor rücksichtslos durchsetzt. Aber die Bürokratie bleibt in ihren Ämtern, wenn die Minister wechseln und mit der Demokratisierung der Verwaltung sind erst bescheidene Anfänge gemacht, um so mehr als es an einem aufrichtigen republikanischen und sozialistischen Nachwuchs für diese Posten weitgehend fehlt. Das Machtbewußtsein der Bürokratie hat sich unerträglich gesteigert, und selbst ihre schlimmsten Exzesse können zum Teil aus koalitionspolitischen Erwägungen und Bindungen heraus nicht mit der notwendigen Schärfe kritisiert oder rückgängig gemacht werden. Man denke an das 700-Millionen-Geschenk an die Ruhrindustriellen, an den Subventionsschwindel, an die ganz schwerwiegenden Verletzungen des Etatsrechts usw. Fast noch erdrückender als das Verhältnis zur Exekutive wirkt das zur Justiz, die allmählich die Prätentionen eines Richterkönigtums ausgebildet hat und über alles und jedes, auch über das Parlament und seine Taten zu Gericht sitzen will. Am schärfsten äußert sich das im Verhältnis des Parlaments zum Militär. Die Reichswehr ist heute noch nicht restlos in das verfassungsmäßige Leben des Staatsganzen hineingezogen worden, hat ihre untergeordnete Stellung weder erkannt, noch ist sie dazu gezwungen worden.

Die großen und geheimnisvollen Unbekannten sind und bleiben für die Massen der Proletarier die großen Wirtschaftsmächte. Die sind gesättigt und desillusioniert, haben keinen Respekt vor Staat und Verfassung, sind des eigenen Machtbewußtseins voll. Dank der Gefügigkeit der bürgerlichen Parteien und dank der anderen Tatsache, daß sie die öffentliche Meinung zu fast Neunzehntel beherrschen, ist das große Kapital geneigt, den Staat und seine Macht als eine Art verlängerten Arm zur Durchführung ihrer privaten Interessen zu betrachten, denselben Staat, den sie schlecht machen und verhöhnen, dessen wütendste Hasser sie finanzieren und der ihnen doch immer wieder zu Willen ist. Zum Beispiel ist das Verhalten der Schacht [Hjalmar Schacht (1877-1970). 1918-26 DDP. 1924-30, März 1933-Januar 1939 Reichsbankpräsident.] und Vögler auf der Pariser Konferenz, das so ganz anders war als das der wirtschaftlichen Sachverständigen aller anderen Länder, eine Niederlage für die Staatsideen der Republik.

Man wird auf die Dauer die Arbeiter innerlich nur beim Staate und die stärksten Stützen nur bei der Verfassung halten können, wenn die Grundideen dieser Verfassung stärker durchgesetzt werden und man für ihre Durchsetzung auch ins Gefecht geht. Andernfalls sind die Worte vom „Willen zur Macht" und die Parole „Ran an den Staat" nur Selbsttäuschungen, die an der Erkenntnis vorbeigehen, wo die Macht ist und wo die lebendigen Quellen demokratischer Staatsgesinnung fließen. Staatsgesinnung erzeugt man nicht durch Reden vom Staat, so wenig wie die Worte vom Klassenkampf diesen erzeugt oder auch nur gefördert haben.

Trotz aller literarischen Kritik weiß heute die Gesamtheit der Sozialdemokratischen Partei, daß die Arbeiterschaft nicht außerhalb des Staates lebt und leben kann. Darum ist z.B. die Frage nach der jeweiligen Regierungsbeteiligung jetzt ebensowenig mit den grundsätzlichen Staats- und Verfassungsproblemen zu beschweren, wie früher mit dem ganzen Gewicht einer absoluten Klassenkampftheorie. Es gibt keine Situation, weder in der Regierung noch in der Opposition, in der sich die Partei der Arbeiterklasse ihrer Verantwortung gegenüber dem Staats- und Verfassungsleben entziehen könnte. Die Verfassung hat vieles bewußt labil gelassen. Jetzt rühren sich die großen Klassenkräfte hüben und drüben, um das Labile nach der einen oder anderen Richtung in Bewegung zu setzen. Nach unserem Willen soll die Demokratie der Weimarer Verfassung auch eine Demokratie der Tatsachen werden.

Noch kennt die Welt keine Versuche mit der Demokratie in der Hand großer, mächtiger und wirklich mit der Aussicht auf Mehrheit und ausschlaggebender Kraft begabter Arbeiterparteien. Nur in England und in Deutschland zeigen sich Ansätze dazu. Und da ist es Pflicht der Arbeiterschaft, am Verfassungstage den Wert der Demokratie für sich zu erkennen. Die Zeiten sind lange vorüber, in denen die syndikalistischen geistigen Väter der Mussolini und Lenin von der Demokratie im Kapitalismus als von einer plutokratischen Demagogie sprachen. Das sind veraltete Denkformen, die in den Ländern mit großen, nach Macht strebenden Arbeiterparteien keine Geltung mehr haben. Solche antiquierten Ladenhüter sind auch die Worte von der „mechanischen" oder der „formalen" Demokratie. Es ist ein Ergebnis des Klassenkampfes, daß die Arbeiter den Gedanken der Demokratie in die Wirtschaft hineingetragen und in allen modernen Lebensformen eine „kollektive Demokratie" erringen wollen. Unerläßliche Voraussetzung dazu ist die politische Demokratie. Das hat der Klassengegner klar erkannt.

Die Bourgeoisie überläßt nicht aus Großmut der Arbeiterschaft öffentlichen Einfluß oder Regierungsmacht, sondern aus ihrer relativen Schwäche, welche die Demokratie für sie bringt. Der Faschismus ist letzten Endes der schroffste Ausdruck ihres Willens, allein die Macht zu haben, und die gesamte Politik der mehr oder weniger legitimen Entdemokratisierung, wie sie z.B. die bürgerliche Mitte in Deutschland verfolgt, ist ein vorsichtigeres Sichbewegen zu demselben, nur etwas abgeblaßteren Ziele mit schwächeren und geräuschloseren Mitteln. Jede andere Herrschaftsform wird so vorteilhafter für die Großbourgeoisie als die Demokratie. So ist die Demokratie als politisches Prinzip schon längst von dieser Bourgeoisie auf das Proletariat übergegangen. Hieraus erklärt sich in erster Linie die merkwürdige Wehrlosigkeit des Bürgertums gegenüber den brutalsten Exzessen des Nationalismus, wenn es dabei auch, wie in der Beurteilung des ganzen Komplexes überhaupt, mannigfache Schattierungen gibt. Es gibt also in Ländern wie Deutschland und England keine plutokratische Demokratie. Der Plutos, d.h. der Reichtum, der große Besitz, ist der Feind der Demokratie, benutzt alle der Demokratie entgegengesetzten politischen Erscheinungen als Waffen gegen die Arbeiterschaft. Es gibt heute in Deutschland keine andere Demokratie als eine soziale Demokratie.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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