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Diskussion


Dieter Dowe

Vielen Dank, Peter Lösche, für diese kritische Bestandsaufnahme, die verbunden war mit Anregungen für die künftige Entwicklung. Bonn und Berlin sind nicht Weimar, Weimar war und ist in mancherlei Hinsicht doch sehr lebendig. Der Parteienstaat ist notwendig für die parlamentarische Demokratie. Parteien sind notwendige, wenn auch in mancher Beziehung unvollkommene Mittler zwischen Staat und Gesellschaft. Haben sie ihre Kompetenzen überdehnt? Geht es dabei nicht irgendwie um die Quadratur des Kreises? Je mehr Aufgaben die Parteien an sich ziehen, desto schneller geraten sie in eine Legitimationskrise. Oder liegt die Weisheit hier in der Mitte? Werden Parteien der Zukunft Medienparteien, Fraktionsparteien, Dienstleistungszentren statt Solidargemeinschaften sein? Das ist eine ganze Reihe von Punkten, über die zu diskutieren sich lohnt.

Otto Schlepper

Ich bin Jahrgang 1911, habe also einiges im Laufe meines Lebens von Parteien erlebt. Ich habe die Frage an Sie, ob Sie glauben, daß Parteienverdrossenheit unter Umständen durch bestimmte Regelungen gefördert oder auch verhindert werden kann. Darf ich dafür zwei Beispiele nennen, eins aus der ersten Zeit nach 1945. Damals haben die Engländer das sogenannte duale System in den Kommunen eingeführt. Sie haben eins vergessen, was ich Professor Schumacher, dem politischen Berater der britischen Militärregierung, damals in einer heftigen Diskussion gesagt habe, daß nämlich die hauptberuflichen Chefs der Verwaltung in England nicht einer Partei angehören und sich auch nicht parteipolitisch betätigen dürfen. Bei uns ist das genau umgekehrt gelaufen, daß diese alle parteipolitisch gewählt wurden, was mit Sicherheit zur Parteienverdrossenheit erheblich beigetragen hat, weshalb ich es verstehe, daß heute dieses duale System abgeschafft ist. Das zweite Beispiel, das ich bringen möchte, ist aus der Gegenwart: Glauben Sie nicht auch, daß unter Umständen die Vielzahl der Wahlen, die wir in diesem Jahr haben, mit zur Parteiverdrossenheit beiträgt? Warum können wir nicht von den Amerikanern lernen, daß alle Wahlen an einem Tag - so wie in den USA am berühmten ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November - stattfin-

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den? Ich glaube, daß das erheblich beitragen würde, daß die Parteienverdrossenheit verschwinden würde.

Peter Lösche

Zur ersten Frage. Das ist eine schöne Illustration dafür, wie ein kommunales System auf ein anderes aufgepfropft wird, ohne daß zureichend nach Traditionen gefragt wird. Dieses duale System wird ja zunehmend zugunsten eines Oberbürgermeisters/Oberstadtdirektors in einer Person aufgehoben, der aber gewählt wird, und zwar in der Regel mit Hilfe von Parteien. Wir haben seit 1945 in der Bundesrepublik eine ganz starke Geschichte des Parteienstaates, so daß ich darauf vertraue, daß die Parteienverdrossenheit dadurch nicht gesteigert wird. Sie würde vielmehr gesteigert werden, wenn wir non partisan elections hätten, wenn nämlich bei kommunalen Wahlen angeblich nicht zu einer Partei gehörende Kandidaten in Wirklichkeit doch Vertreter einer Partei sind. Zu Ihrer anderen Frage: Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten finden bei uns kaum Wahlen statt. Dort finden ja nicht nur an jenem berühmten ersten Dienstag nach dem ersten Montag im November die Präsidenten- und Kongreßwahlen statt, sondern auf der lokalen Ebene finden Wahlen an ganz verschiedenen Tagen statt. Hinzu kommen aber vor allen Dingen die Vorwahlen, die wie öffentliche Wahlen stattfinden. Die Parteien bestimmen dort zum Beispiel den Präsidentschafts- oder den Kongreßkandidaten, den Senatskandidaten oder einen Kandidaten für das Amt des Hundefängers. Das heißt, alle Wahlen werden gedoppelt durch die Vorwahlen. In den USA gibt es keine Parteienverdrossenheit in der Stärke wie bei uns, weil es in den USA keine Parteien in unserem Sinne gibt. Das heißt, in den USA wendet sich das, was sich bei uns als Antiparteienressentiment zeigt, gegen die da oben in Washington und gegen die Politiker, gegen den Kongreß oder gegen den Präsidenten, nie gegen den Kongreßrepräsentanten aus dem eigenen Wahlkreis, nebenbei bemerkt. Wir haben es dort eben mit einer anderen politischen Kultur, einem anderen politischen System zu tun. Man kann das nicht übertragen. Ich würde davor warnen, in der Bundesrepublik alle Wahlen an einem Tag stattfinden zu lassen. Dann hätten wir nämlich alle zwei Jahre wirklich einen Superwahltag, bei dem die Hälfte der Landtagswahlen und eine Bundestagswahl stattfänden, und zwei Jahre später alle übrigen Landtags- und die Kommunalwahlen. Das würde noch störender wirken.

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N.N.

Ist es eigentlich ganz sicher, daß die Parteien notwendig sind und auch gute Arbeit leisten? Es muß ein Mittler da sein zwischen den Bürgern und dem Staat und auch den Entscheidungsgremien auf den verschiedenen Ebenen. Aber wenn man jetzt die Frage stellt, ob die Parteien in einer Krise seien, dann sage ich: „Sie sind ganz bestimmt in einer Krise, vielleicht sogar schon im Abgrund." Das kann man natürlich nicht in drei Sätzen in einer Diskussionsrunde formulieren, aber man kann es an einem Beispiel ganz deutlich machen, an der Steuerreform in der letzten Legislaturperiode. Da wurde ein „Elefantengipfel" angestrebt. Was geschah da? Da verabredeten die Parteispitzen, die demokratisch nicht legitimiert sind, eine Lösung, die sie den vom ganzen Volk gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags vorlegten, und diese durften nur noch abnicken. Dabei soll die Staatsgewalt vom Volke ausgehen, aber die gewählten Organe kamen hier nur nicht zum Zuge. Ein weiteres Beispiel: die Parteienfinanzierung. Wo kann sich ein Arbeitnehmer selber seinen Lohn bestimmen, seine Arbeitsregeln, nach denen er als Gesetzgeber arbeitet? Sie, Herr Lösche, haben selber die starke Stellung der Fraktionen erwähnt, die sich die Gesetze selber machen können. Wo gibt es solches denn sonst noch? Wenn man an die Sache empirisch herangeht, dann sind die Parteien auf dem Wege - oder sie sind schon da - ein Großunternehmen zu werden, dessen - man kann sagen - einziges Unternehmensziel es ist, mit möglichst viel Stimmen möglichst viel Macht und Geld zu erlangen. Das ist natürlich eine ganz böse Definition, aber immerhin eine Schablone, die man auflegen kann, bei der vieles stimmt.

Peter Lösche

Sie haben völlig Recht. Das ist eine Schablone. Und genau das geht an der Realität vorbei. Die Parteien streben nach Macht, das ist völlig normal. Sie sind dazu da, nach Macht zu streben, das ist ihre Aufgabe. Allerdings gibt es auch andere Institutionen, die Opposition, die Presse, das Bundesverfassungsgericht, die Verbände, die zu kontrollieren haben. Sie kontrollieren tatsächlich, die kontrollieren heute so stark, daß kaum noch Bewegungsspielraum für die Parteien da ist. Daß informelle Absprachen getroffen werden, ist eine Banalität. Schauen Sie sich die Geschichte der Grünen an, die alles in Mitgliederversammlungen lösen wollten. Es ist ganz klar, daß man vorher telefoniert und

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sich abspricht. Das ist doch das Einmaleins, das Sie in jeder Organisation vom Fußballverein bis in den Bundestag hinein haben. Die Parteien sind keine Großunternehmen. Die SPD und die CDU haben auf Bundesebene so viele Angestellte wie der FC Bayern München. Das ist kein Großunternehmen, sondern ein kleines mittelständisches Unternehmen. In dem Streben nach Macht und in der Wahrnehmung dieser Funktion haben sie eine besondere Aufgabe - ganz klar. Aber es hat doch keinen Sinn, so zu tun, als gebe es keine Macht, die dann auch anzueignen und zu kontrollieren ist. Sie werfen den Parteien vor, daß sie selbst über ihre Finanzierung mitentscheiden. Wer sollte denn sonst darüber entscheiden als das Parlament, in dem als Fraktionen die Parteien sitzen? Etwa ein Ständeparlament oder sieben Professoren? Ich bin Professor und kann nur davor warnen.

Gerhard Beier

Ich fand das Referat sehr optimistisch, sehr positiv und sehr politologisch. Man kann das nun als Kompliment nehmen, man kann das aber auch als Kritik nehmen. Mir fehlt eigentlich nur die Bemerkung, die 5%-Klausel habe sich bewährt. Man könnte die ganze Frage noch einmal neu aufrollen anhand der Frage nach dem Wahlrecht und dem Zusammenhang zwischen Wahlrecht und Entwicklung des Parteien-systems. Ich will das nicht machen, weil ich diese politologische Schiene eigentlich nicht weiterfahren möchte. Für mich ist in den letzten Monaten und Wochen eine ganz andere Frage wichtig: Was ist eigentlich mit dem spezifisch sozialdemokratischen Parteiverständnis? Als Historiker muß ich sagen: Die Sozialdemokratie ist ursprünglich eine Bewegungspartei, sie ist eine Programmpartei, und sie ist eine internationalistische Partei. Ich idealisiere etwas, natürlich war das mit dem Ideal nicht immer so, aber ich habe den Eindruck, daß die Sozialdemokratie sich vom Internationalismus verabschiedet hat. Es ist zwar von Globalisierung die Rede, aber den Internationalismus nimmt niemand in den Mund. Daß die Sozialistische Internationale in diesem Jahr 110 Jahre alt geworden ist - ich meine die größte, die zweite Internationale von 1889, die u.a. durch Wilhelm Liebknecht in Paris gegründet wurde -, davon habe ich wenig gehört. Und daß nun nicht das Büro der Sozialistischen Internationale, sondern das Duo Schröder/Blair sich in den Vordergrund drängt, das mag eine Bestätigung dafür sein, daß wir es mit Medienparteien zu tun haben. Aber damit ist natürlich die Vorstellung einer Sozialistischen

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Internationale doch irgendwie konterkariert und in Frage gestellt oder einfach beiseite geschoben. Das Dritte ist für mich die Programmpartei. Ich habe mir das Schröder-Blair-Papier aus dem Internet besorgt, und zwar die englische und die deutsche Fassung. Die englische Fassung halte ich für besser, weil die Engländer ja ohnehin eine kommerziellere Sprache haben als wir. Die deutsche Fassung finde ich katastrophal, aber für mich ist das eigentliche Problem, ob wir damit am Ende unserer Programmgeschichte angelangt sind? Wir haben uns ja irgendwann daran gewöhnt - das fand ich sehr gut -, zwischen Grundsatzprogramm, Aktionsprogramm und Regierungsprogramm zu unterscheiden. Ich habe den Eindruck, das ist jetzt so vermischt worden, daß wir mit dem Papier nur noch ein Statement haben, das ein bißchen zu der Vorstellung von Partei als Unternehmen zur Gewinnmaximierung paßt, die hier karikiert wurde, aber eben auch zu Überlegungen Anlaß gibt. Also die Frage: Wäre es nicht ehrlicher, wir sagten: Die Sozialdemokratie gibt es nicht mehr?

Peter Lösche

Ja, Du hast völlig Recht, daß ich ganz bewußt sehr positiv interpretiert habe, und das habe ich gleich am Anfang gesagt. Ich kann das Gejammere einiger meiner Kollegen, unter anderen Herrn von Arnims, über das Elend der deutschen Parteien und daß man sie abschaffen müsse, nicht mehr hören. Das ist das eine. Das andere und viel gefährlichere ist aber, daß damit der Parteienstaat, die Parteien allmählich unterminiert werden, gleich ob die Leute Weizsäcker oder sonstwie heißen. Die sind noch in der Paulskirche und haben kein Verständnis davon, wie das parlamentarische Regierungssystem, wie Politik funktioniert. Weizsäcker ist in den Reihen der CDU aufgestiegen und schimpft dann über die bösen Parteien, anstatt zu sagen: Es gehört zu den Parteien, daß sie informelle Konsensbildungswege haben, die dann legitimiert werden durch Parteitage oder durch Parlamente. Es ist doch nichts Schlimmes, wenn gemauschelt wird. Nur wenn man den Begriff „mauscheln" benutzt, dann klingt es so schlecht. Man hat telefoniert, ist doch ganz klar, man verständigt sich doch vorher. Man sucht doch Koalitionen zu schmieden, eine Mehrheit zu haben. Warum soll man das nicht so nennen. Zu den beiden anderen Fragen: Über das Wahlrecht können wir lange diskutieren. Ich halte das bundesrepublikanische Wahlrecht wirklich insgesamt für sehr erfolgreich, aber ich warne davor, die Bedeutung des Wahlrechts

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zu überschätzen. Es sind die sozialen Entwicklungen in der Bundesrepublik, die zu einem stabilen Parteiensystem, Parteienstaat geführt haben, es ist nicht das Wahlrecht. Das ist, je mehr ich mich damit beschäftige - ich habe gerade einen großen Vergleich von britischem, amerikanischem, russischem und deutschem Wahlrecht gemacht -, das ist für mich zunehmend irrelevant. Es kommt wirklich auf andere Faktoren an. Parteiengesetz und Parteienfinanzierung sind mindesten so wichtig wie das Wahlrecht. Zu den anderen Fragen; zunächst zum Abschied vom Internationalismus. Ich glaube, daß die SPE, die Sozialistische Partei Europas, eine zunehmend große Rolle spielt und gerade im Europäischen Parlament in der Fraktion Macht zunehmend kumuliert wird und informell in den Parteiführertreffen wichtige Abstimmungen stattfinden. Es ist dabei sehr schwer, einen Konsens herzustellen, weil die nationalen Interessen nach wie vor weit auseinandergehen und weil der Sozialstaat sich in jedem sozial abgefederten Kapitalismus nationaler Prägung etwas anderes darstellt. Aber wir bewegen uns dennoch hin zu den Grundzügen eines europäischen Sozialmodells, und da spielen die Sozialistische Partei Europas und auch diese informelle Runde der Parteiführer eine zunehmend große Rolle. Ich gehöre zu denen, die Programme nie überschätzt haben, sondern im Gegenteil gegenüber der Relevanz von Programmen sehr skeptisch sind. Sie dienen der innerparteilichen Integration und der Selbstbindung einer Partei und bieten einer Partei die Chance, nach außen hin ein bestimmtes Profil zu zeigen. Ich habe noch nie jemanden gefunden, der nach der Lektüre eines Parteiprogramms gesagt hat: Es hat mich so überzeugt, daß ich diese Partei wähle.

[Zwischenruf]

Das war in Godesberg (1959) anders.

Peter Lösche

Godesberg ist dadurch im nachhinein zu einem so großen Einschnitt geworden, daß nach Godesberg eine ganz Serie von Fachkonferenzen der SPD stattgefunden hat, in der die Partei nachgewiesen hat, daß sie in vielen Politikfeldern Träger der Modernisierung ist. Dadurch ist Godesberg in eine Kontinuität gekommen, die zu 1969 und 1972 führt. Godesberg für sich, das Programm an sich mit dem schönen Vorspruch von Carlo Schmid, ist gar nicht so bedeutungsvoll.

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Dieter Dowe

Die nächsten vier Wortmeldungen schließen sehr gut an dem letzten Satz an. Sie kommen nämlich von vier Persönlichkeiten, die selbst wesentliche Regierungs- und Parlamentsverantwortung in Bund und Ländern getragen haben: Annemarie Renger, Helmut Rohde, Katharina Focke und Holger Börner.

Annemarie Renger

Meine Damen und Herren, ich habe die ganze Zeit überlegt, gegen wen ich eigentlich polemisieren soll. Zunächst gegen den vortragenden Herrn Prof. Lösche, der aber am Schluß gar nicht so uneinig mit mir war. Ganz sicher polemisiere ich gegen meinen Vorredner Beier, gegen dessen Auftritt vorgestern im Fernsehen ich schon erhebliche Vorbehalte hatte. Ich überlege die ganze Zeit, in welcher Funktion ich mich beinahe 40 Jahre im Deutschen Bundestag eigentlich bewegt habe. Wurde ich geschoben? Haben andere mich bestimmt? Habe ich überhaupt nichts zu sagen gehabt? Bin ich eigentlich durch meine eigene Person in den Bundestag hineingekommen? Weiß Gott nicht, vielmehr soll ich nur durch eine Partei hineingekommen sein. War dazu ein Programm notwendig? Auch nicht, denn die Bürger haben die Programme angeblich ja gar nicht gelesen. Dennoch sind sie für die innere Parteibindung ganz besonders wichtig. Aber wann bildet man denn eine Partei? Es ist gesagt worden, Godesberg habe gar keinen sensationellen Schnitt bedeutet. Aber Godesberg hat doch eine ganz bestimmte Richtung angegeben, die richtig war. Als wir 1945 angefangen haben, hat natürlich jeder gefragt, wie wir uns definieren, wie wir uns in einem Parteiprogramm festlegen sollen. Als Sozialistische Partei? Aber der Sozialismusbegriff war inzwischen so absolut denaturiert und auch mißbraucht worden, daß wir Probleme damit hatten. Natürlich haben wir als Sozialdemokraten den demokratischen Sozialismus geprägt - ein Doppelbegriff, der eigentlich überflüssig ist. Denn ohne Demokratie gibt es keinen Sozialismus. Aber warum formuliert man eigentlich ein Programm in einer Zeit, in der alles im Fluß ist? Deswegen komme ich darauf. 1945 bis 1949 konnte man die folgende Entwicklung ja gar nicht im einzelnen voraussehen. Man hat auf dem Alten aufgebaut, was noch möglich war, und konnte so für die breite Schicht der damaligen abgrenzbaren Arbeiterschaft ein Ziel setzen. Das haben wir einigermaßen geschafft. Zu dieser Zeit gab es eigentlich immer nur Aktionsprogramme, die genau das boten, was

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die Leute brauchten, was in der nahen Gegenwart möglich war und in die Zukunft hineinreichte. Nun wird hier von dem fabelhaften Blair-Papier gesprochen. Mir scheint es auch widersprüchlich zu sein, aber den Versuch zu unternehmen, unsere Zeit in den Griff zu bekommen und von dort aus zu planen, dieses Vorgehen kann ja nicht ganz verkehrt sein. Ob es klug ist vor lauter Landtags- und Kommunalwahlen, gerade mit einem solchen Papier zu kommen, ist eine ganz andere Frage, eine Frage des politischen Geschicks. Aber was ist denn nun falsch? Öffentlich zu diskutieren, wie es im Augenblick in der SPD geschieht, nicht immer zu meiner und zu anderer Leute Freude? Es ist aber wichtig, daß die Bevölkerung sich an der Diskussion beteiligen und auch sagen kann: „Sind die denn verrückt geworden" oder „Das ist genau, weshalb ich diese Partei wähle." Dies geht nur, wenn die Parteien den Anstoß zu einer solchen Diskussion geben. Ich wünsche mir auch eine geschlossene SPD, die weiß: Gerhard Schröder ist der Kanzler und die anderen sollen mal einen Moment schweigen. Das geht aber nicht. Es wäre einfach, aber das geht eben nicht. Wie Peter Lösche gesagt hat, geht es eigentlich um die Mitbeteiligung, die Vermittlung der Partei in die Bevölkerung hinein. Ich sehe gar keinen anderen Weg, eine öffentliche Diskussion in Gang zu bringen, als daß Parteien die Argumente, die Thesen formulieren, über die man sprechen kann. Dann muß man sich darüber einigen und Macht ausüben. Aber es ist wichtig, daß die Diskussion von unten nach oben führt. Das haben wir in der SPD immer gemacht, auch wenn es so aussieht, als wäre oben einer, der es vielleicht auch alleine könnte. Nochmals: Der richtige Weg ist, von unten nach oben zu diskutieren. Danach muß man allerdings geschlossen handeln; denn sonst weiß ja kein Mensch, was er eigentlich machen soll. Die Diskussion muß zu Handlungsfähigkeit führen, die man über die Fraktionen in Regierungsfähigkeit umsetzt.

Helmut Rohde

Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was es bedeutet, daß sich Politik und Parteien in einer Periode des Umbruchs befinden, eines Umbruchs, der zunehmend Krisen in der Gesellschaft auslöst. Dies ist nicht mit einigen Hinweisen, Herr Beier, zu beantworten. Es ist ja nicht nur ein deutsches Thema, es existiert international. Das Blair/
Schröder-Papier ist Ausdruck dieser Entwicklung, die sich in vielen Ländern abzeichnet. Auf die aufgeworfenen Fragen gibt es keine

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leichten Antworten. So entwickelt sich ein Internationalismus neuer Art, der nicht vergleichbar ist mit dem Internationalismus am Beginn der Arbeiterbewegung, als die sozialistische Internationale faktisch ein Zusammenschluß von sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien in Europa war. Heute sitzen sie im Europäischen Parlament mit staatlich und international festgelegten Formen, sich darzustellen. So entwickelt sich eine neue Façon des Internationalismus. Ob wir auch schon eine neue Form haben, ihn zu begreifen, lasse ich dahingestellt. Wir hatten in Deutschland, darum habe ich mich eigentlich gemeldet, nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal eine Periode des Umbruchs. Damals waren wir kein Staat, sondern Besatzungszonen. Es gab gleichsam eine Art Gas-Wasser-Licht-Verwaltung in den Kommunen. Die Entscheidungshoheit lag bei den Besatzungsmächten. Wirklich existent war die deutsche Gesellschaft, in der sich die Prozesse abspielten, die auf den künftigen Staat Einfluß gewinnen sollten. Ich nenne einen Bereich, der heute oft diskutiert wird, die Sozialpolitik. Aus der Begegnung zwischen sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik (beispielsweise die Professoren Auerbach, Schellenberg, Preller) und katholischer Soziallehre (u.a. Pater Nell-Breuning) entwickelte sich damals eine wesentliche gesellschaftliche Strömung, die von der Einheitsgewerkschaft bis zum Sozialstaat unsere Entwicklung beeinflußt hat. Der Sozialstaat wurde gleichsam den Vätern des Grundgesetzes durch die gesellschaftliche Entwicklung vorgegeben. In jener Periode des Umbruchs nach 1945 war die Sozialdemokratie eine gesellschaftlich verwurzelte und politisch orientierte soziale Bewegung. Die Solidarität, wir haben sie nie so oft zitiert in Monaten wie heute an einem Tage, die Solidarität entsprach den Bindungen, die Menschen untereinander hatten. Sie waren Lebensbindungen. Wenn es richtig ist, daß der Sozialstaat ein gesellschaftliches Ergebnis sein soll, dann muß er auch gesellschaftlich verwurzelt sein. Nun zu meiner zweiten Bemerkung: Herr Beier hat nach einem Programm gerufen. Das ist mir vertraut aus den letzten Jahren. Nach dem Irseer Entwurf haben wir Sozialdemokraten eine Serie von Programmen erarbeitet. Es gibt keinen Programm-Mangel; eher eine große Sammlung von Versatzstücken aus allen Programmen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an den Auftritt Kurt Schumachers auf dem ersten Parteitag der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg 1946 in Hannover. Ich fragte mich, wie dieser Mann, der durch alle Höllen des Nazismus gegangen war, seine Rede über „Aufgaben und Ziele der Deutschen Sozialdemokratie" beginnen werde. Sinngemäß

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sagte er damals: Wir leben in einer Periode des Umbruchs, in dem sich noch nicht die Tatbestände, die für die Zukunft Bedeutung haben werden, abzeichnen, geschweige denn realisiert haben. Es wäre Unfug, in einer solchen Periode ein Programm zu schreiben. Die Lehren müßten aus dem Leben, den neuen sozialen Wirklichkeiten, gezogen werden. Damit wandte sich Schumacher gegen Fixierungen durch traditionelle Programmschreiber. Zwar wußten diese damals nicht, wie der Staat künftig beschaffen sein werde, wie das Land aufgebaut und der Hunger überwunden werde, aber ein Programm wollten sie schreiben. Schumacher wollte die SPD aber nicht als Wiedergründung, sondern nach 1945 als eine Neugründung, die Konsequenzen aus der jüngste Geschichte zieht. Damals hat er sich mit seiner politischen Strategie durchgesetzt. Durch konkretes Handeln sei das politische Bewußtsein für die Anforderungen einer künftigen Gesellschaft zu schärfen. Das heißt: Aus dem Aufbau nach dem Kriege in der Periode des Umbruches Lehren zu ziehen. So wurden wir gleichsam fähig, später das Godesberger Programm der SPD zu schaffen. Was bedeutet das für heute? Es reicht nicht, wortgewaltig und mit Schärfe die Fehlerhaftigkeit der Gegenwart zu beschreiben und dann anschließend farbig neue Horizonte zu schildern, gleichzeitig aber den Weg des konkreten politischen Handelns zu vernachlässigen. Angesichts des sich heute verändernden Charakters der Industriegesellschaft brauchen wir wiederum eine politische Strategie, die sich auf unser Handeln in der Periode der Veränderungen und des Umbruchs konzentriert. Sozialdemokratische Politik für ein neues Jahrhundert ist zu definieren. Nun noch ein Wort zum Konsens. Es ist sicher so, daß aus gesellschaftlichen Strömungen, die unseren Staat in der Periode des Umbruchs einst definiert haben, ein gesellschaftspolitischer Konsens in den 70er Jahren wurde, Modell, das über unsere Grenzen hinweg Aufmerksamkeit gefunden hat. Heute fragen wir uns aber: War das nicht auch ein Konsens, der geschaffen wurde aus dem wachsenden Reichtum der industriellen Gesellschaft, an dem die einzelnen Gruppen teilhaben sollten? Was ist jetzt mit dem Konsens? Wenn wir vor völlig neuen Sachverhalten stehen? Nicht nur in der Massen-arbeitslosigkeit, sondern auch an anderer Stelle? Wandeln sich dann, lieber Kollege Lösche, nicht auch die Interessenverbände in der Art ihrer Politik, ihres Auftretens? Um die eigene Position zu vertreten, ist der Konsens nicht selten zur Besitzstandsverhärtung gekommen, wo Wandel in dieser Gesellschaft angebracht wäre. Dazu einige Beispiele: Als ich als Abgeordneter das Arbeitsförderungsgesetz Ende

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der 60er Jahre mitgestaltet habe, glaubten wir alle, Karl Schiller eingeschlossen, dies sei eine Gesellschaft stabiler Vollbeschäftigung. Wenn die Konjunktur übersprudele, träten wir auf die Bremse, gehe es schlecht, gäben wir Gas. Die arbeitsfördernden Maßnahmen waren zumeist individuell orientierte Dienstleistungen. Nun frage ich Sie, ob man mit individuell zugeschnittenen Dienstleistungen Massenarbeitslosigkeiten steuern kann. So stehen wir vor der Frage, ob unsere programmatischen Vorstellungen hinlänglich sind, um mit dem Problem des nächsten Jahrhunderts fertig zu werden. Ähnliches gilt für den Bildungsbereich, das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch der Strukturen. Und wie entwickelt sich künftig die soziale Sicherung? Wie ist das Verhalten von Generationen? Es gibt eine Reihe schwerwiegender Fragen, denen wir uns in dieser Phase zuwenden müssen. Das sind nicht nur „konjunkturelle Dellen", wie nicht wenige jahrelang geglaubt haben, sondern Strukturwandlungen, die den Charakter der Industriegesellschaft verändern. Wer bei jedem Diskussionsbeitrag gleich, Kollege Beier, nach jeder kritischen Bemerkung die Frage stellt: Werden damit nicht „Grundsätze verraten", dem kann ich nur sagen: Um Himmels Willen! Die Sozialdemokratie hat nach ihren Grundsätzen stets Zukunft gestaltet und nicht die Vergangenheit verwaltet, und ich hoffe, daß es so bleibt.

Peter Lösche

Annemarie Renger wie Helmut Rohde haben von der Umbruchperiode gesprochen. Diese zeigt sich ja nicht zuletzt auch darin, daß dann Programmdiskussionen stattfinden, die in der Regel innerparteilich orientiert sind. Das Godesberger Programm stand ja dafür, daß auf der Ebene der Programme eine bestimmte Phase verabschiedet wurde, nämlich das, was man sehr verkürzt eine vulgärmarxistische Phase nennen kann. Es begann programmatisch eine Phase des Pluralismus in der konzeptionell so etwas entwickelt worden ist wie ein sozial abgefederter Kapitalismus in einem Staat, sprich Keynesianismus. Wir sind heute an einem Punkt angekommen, an dem der Keynesianismus allein nicht mehr funktioniert. Insofern sind wir an einer Stelle, an der programmatisch in die Zukunft gedacht werden muß. Doch wie ist der sozial abgefederte Sozialstaat in einer Nation anzupassen an die internationalisierten Arbeitsmärkte, an die globalisierten Finanzmärkte? Das bedeutet Umbau, Veränderung des Sozialstaates. Ich glaube, daß diejenigen, die das offen zum Wahlkampfthema machen,

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eine gute Chance haben, gewählt oder wiedergewählt zu werden, daß diejenigen, die die SPD heute links zu überholen versuchen, ihre Rolle in der Opposition noch nicht richtig gefunden haben. Was irritierend ist, ist natürlich, daß wachsender Reichtum und Konsens über Godesberg und Keynesianismus zusammengingen, heute stehen aber auf der Tagesordnung Umbau und Reduktion des Sozialstaates, Sparen und Entnationalisierung. Wir haben als Bundesrepublik heute immer weniger auch in der Sozialpolitik, in der Wirtschaftspolitik sowieso, zu sagen. Bei diesen Prozessen verändern sich natürlich nicht nur die Parteien, sondern auch die Verbände. Das ist doch ein ganz aktuelles Problem. Es sind ja nicht nur die Gewerkschaften, die nicht zuletzt wegen der Arbeitslosigkeit, aber auch aus anderen Gründen, Mitglieder verlieren. Das Problem ist doch, daß der Gegenpart der Gewerkschaften, die Arbeitgeberverbände, auseinanderfallen. Der Partner für Tarifverhandlungen schwindet allmählich wegen der Unternehmerflucht aus den Arbeitgeberverbänden, was in Ostdeutschland ganz deutlich ist. Wie sieht dann die künftige Tarifpolitik eigentlich aus? Was sich da verändert, geht nicht nur uns allen an die Nieren, sondern verändert alle anderen Organisationen, die bisher politisch als Akteure tätig waren, nicht nur die Parteien, auch die Verbände. Da gebe ich Helmut Rohde völlig Recht.

Katharina Focke

Herr Prof. Lösche, für mich ist das Ergebnis Ihres Vortrags doch, daß das Fragezeichen bei unserem heutigen Thema „Parteienstaat in der Krise?" wegfällt. Sie haben sich sehr stark mit dem Begriff der Parteienverdrossenheit beschäftigt. Sie haben am Schluß sehr deutlich gesagt, daß hier eine ziemlich weitgehende Reform stattfinden muß, um einen unguten Zustand zu überwinden. Diesen Zustand kann man genausogut auch Krise, die überwunden werden muß, benennen. Ich finde, der Streit um das Wort Krise oder Verdrossenheit sollte uns heute nicht so sehr beschäftigen. Was mich beschäftigt, ist folgendes. Sie haben Recht: Daß wir laut jammern und schimpfen, hat keinerlei Sinn. Aber die Dinge müssen doch sehr deutlich beim Namen genannt werden, damit Einsicht stattfindet und sich etwas verändert. Ich würde gerne dazu noch ein oder zwei Bemerkungen machen. Ich glaube, die Frage wäre noch deutlicher auch im Hinblick auf Ihren Vortrag geworden, wenn Sie zwei Probleme noch etwas näher erläutert hätten, nämlich die Aufgabe der Parteien als Mittler zwischen Gesellschaft

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und Staat und die Handlungsfähigkeit, also Kompetenz zur Problemlösung. Diese beiden Dinge liegen für mich ganz besonders im argen. Ich finde nicht, daß Parteien heute - es ist mir egal, von welcher wir sprechen - wirklich noch Mittler sind. Sie reden an vielen Menschen einfach vorbei. Das fängt bei der Sprache an, die benutzt wird, das hat etwas damit zu tun, daß so furchtbar vieles in geschlossenen Räumen vor sich geht. Für mich zum Beispiel ist die Frage, ob wieder ein Programm entwickelt werden soll oder nicht, zweitrangig im Vergleich zu der Frage, wer es eigentlich diskutiert. Und wie sehr würde und sollte sich zum Beispiel die sozialdemokratische Partei bei einer solchen Diskussion öffnen, um in einer workshop-artigen Form mit Wissenschaftlern, mit Vertretern von Verbänden und so weiter und so fort, mit Personen aus dem Ausland nach Problemlösungen zu suchen? Denn dies ist natürlich das andere Problem, vor dem wir stehen: Die Menschen glauben nicht mehr, daß wir es können. „To govern", haben Sie gesagt, eine Dienstleistung zu bringen, ja genau, die Dienstleistung zum Beispiel, Arbeit für die Mehrzahl der Menschen zu schaffen. Es funktioniert nicht. Warum nicht? Weil immer wieder der Rhythmus von Wahlen zur Machterhaltung dazwischenfunkt und den Versuch verhindert, sich intensiver hinzusetzen, über ein Problem zu diskutieren, bis man die Lösung hat, und dann dabei zu bleiben, statt auf Meinungsumfragen und angebliche Wahlchancen für die nächste Wahl zu starren. Der ganze Rhythmus unseres Parteienstaates, der sich Wahlen stellen muß, steht im Widerspruch zu einer Forderung, die an die Politiker gestellt werden muß, nämlich vorausschauend Politik zu machen und zu planen. Statt dessen finden wir immer wieder alle vier Jahre grosso modo das gleiche Spiel: Im ersten Jahr muß man sich erst eingewöhnen, im letzten ist schon wieder Wahlkampf. Man versucht also vielleicht zwei Jahre, von der Hand in den Mund lebend, irgendwie über die Runden zu kommen. Hier liegen die Dinge im Argen. Und wenn wir das nicht sehr deutlich ansprechen und von den Parteien verlangen, daß sie neue Formen, mit diesen Problemen umzugehen, finden, dann reden wir an den Problemen fürchterlich vorbei.

Holger Börner

Ich stimme mit Ihnen überein, daß die Geschichte der Bundesrepublik und ihres politischen Systems eine Erfolgsgeschichte ist. Wir stimmen auch darin überein, daß Parteien im Grunde das Spiegelbild der Ge-

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sellschaft sind, in der sie wirken. Ich glaube aber, daß in Ihrer Erläuterung eins etwas zu kurz gekommen ist, nämlich daß wir heute in einer Mediengesellschaft leben, in einer Informationsflut und in einer Gefahr der Manipulation der Staatsbürger, wie es sie nie in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat. Ich will Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen, das ich aus meiner eigenen Abgeordnetentätigkeit kenne. Ende der 50er Jahre war es noch möglich, beim politischen Frühschoppen im Wahlkreis Neuigkeiten aus Bonn zu erzählen; denn die Leute waren entweder über ihre Lokalzeitung oder über den Hörfunk kurz informiert und wollten mehr wissen. Mit dem Auftauchen des Fernsehens, der Mediengesellschaft, hat sich das verändert. Am Ende meiner parlamentarischen Tätigkeit mußte ich konstatieren, daß ich als Abgeordneter immer gegen eine vorgefaßte, durch das Fernsehen geprägte Meinung anzukämpfen hatte und mindestens eine halbe Stunde brauchte, um das richtigzustellen, was das Fernsehen nun weit an Leitbildern geschaffen hatte, die schwer wegzukriegen waren aus den Gehirnen der Leute. Das heißt, die Verbände haben, wenn man an das Privatfernsehen denkt, die Möglichkeit, den Menschen mit den Abendnachrichten ihre Meinung, die Meinung von Verbänden einzuträufeln. Da ist also etwas geschehen, das über die Kompetenz der Parteien und besonders der Parlamentarier - Sie haben ja zu Recht auf die Fraktionen gestützt - hinausgeht. Ich will auch ein Beispiel aus der Gegenwart anführen: In der ganzen Diskussion um die Ärztehonorare hat bisher niemand, auch nicht die SPD, klar darauf hingewiesen, daß wir heute dreimal so viele Ärzte haben wie vor zwanzig Jahren. Es geht hier um unser Geld als Beitragszahler und nicht um die Sicherung von Existenzen, die mit Einser-Abitur zum Arzt ausgebildet worden sind und nun meinen, das entsprechende Einkommen über 200.000,- DM im Jahr sei ihnen garantiert. Das ist ein typisches Beispiel, wie heute über das Fernsehen Meinung gemacht wird und ein Parlament oder eine Regierung Mühe hat, diesen falschen Eindruck wegzubekommen. Was ich heute vermisse, im Parlament und bei allen Parteien, ist ein Stück Mut zur Unpopularität, ist Glaubwürdigkeit des einzelnen, ist vor allen Dingen eine Sprache, die einfache Wähler verstehen. Das, was diese Generation an politischen Affären macht, erfordert schon das Studium der Politologie, und das haben die wenigsten hinter sich.

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Peter Lösche

Es wird jetzt ganz deutlich, welches Problem entsteht, wenn die Parteien mehr und mehr nicht nur über Medien kommunizieren, sondern über die Medien indirekt Entscheidungen treffen. Wenn man zurückblickt auf das Wahljahr 1997/98, dann ist ja die Entscheidung über die Nominierung des Kanzlerkandidaten der SPD auch über die Medien gefallen, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß an einem bestimmten Punkt des Vorwahlkampfes zwischen Lafontaine und Schröder, der ja besonders in Nordrhein-Westfalen stattfand, eine Spiegel-Umfrage unter SPD-Mitgliedern veröffentlicht worden ist, aus der hervorging, daß die berühmt-berüchtigte Basis, die angeblich hinter Oskar Lafontaine stand, in Wirklichkeit zu 70% Gerhard Schröder haben wollte. Da war die Vorentscheidung gefallen, und der Konsens zwischen Lafontaine und Schröder bis zum 1. März war hergestellt, daß Schröder Kanzlerkandidat werde, wenn er die Landtagswahlen klar gewinne. Die Weichenstellung kam durch die Medien und durch eine Umfrage. Da ist genau das Problem: Wie können Parteien heute zwischen Gesellschaft und politischem System vermitteln? Das geht natürlich ganz stark über die Medien. Es kommt immer wieder darauf an, was man in die Medien hineingibt. Es ist ja nicht nur so, daß die Medien manipulieren, sondern man kann ja auch etwas über die Medien transportieren. Bei Medien sollten wir übrigens nicht nur aufs Fernsehen gucken. Ich habe vorhin bewußt in einem Schlenker von einer Ortsteilzeitung gesprochen. Die Mediengesellschaft hält ja auch in Ortsteilen kommunalpolitisch Einzug, wo ja auch politische Willensbildung stattfindet. Unter Umständen entscheidet aber nicht mehr die Mitgliederversammlung einer Partei, sondern das, was schon in den Mitteilungsblättchen und in der Stadtteilzeitung stand. Dennoch kann man Parteien nutzen als Mittler von Inhalten, von politischen Botschaften. Ich glaube schon - ich habe das vorhin angedeu-
tet -, daß man mit Mut zur Wahrheit heute durchaus erfolgreich Politik betreiben kann. Das kann nachgerade, darin liegt auch wieder eine Gefahr, ein populistisches Konzept für einen Wahlkampf werden, nämlich mit offener Brust zu sagen: Mit Schweiß und Tränen müssen wir in den nächsten Jahren sparen, den Gürtel enger schnallen. Ich brauche es jetzt nicht weiter auszuführen, aber es ist ein Ansatz, der zu meiner Überraschung in der Politik bisher nicht benutzt worden ist, der durchaus Wahrheit mit einer populistischen Strategie verbindet, die zum Wahlsieg führen kann. Allerdings sollten wir die Medien auch nicht zum Alleskönner, zum Fetisch machen. So sehr Medien

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versuchen mögen zu manipulieren oder auch Werbeagenturen versuchen, bestimmte Inhalte oder Personen zu verkaufen, wird doch immer wieder in der Öffentlichkeit gefragt: Was ist die Realität, die sich dahinter verbirgt? Heute würde die Partei die Bundestagswahlen glänzend gewinnen und hätte Helmut Kohl die Bundestagswahlen im September 1998 glänzend gewonnen, wenn er die Kompetenz und die Fähigkeit gehabt hätte, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahre 2000 zu halbieren. Diese Kompetenzzuschreibung spielt eine ungeheuer große Rolle, hat etwas mit Image zu tun. Dahinter steckt aber die Fähigkeit oder Unfähigkeit, bestimmte Dinge zu tun. Und dies hat wieder etwas mit innenpolitischen Spielräumen zu tun. Wenn jemand wirklich die Wahrheit sagen und darauf hinweisen würde, daß die Spielräume so eng seien, daß er sich als Kanzler kaum bewegen könne, zwischen allen Institutioneninteressen vermitteln müsse und dann noch durchzukommen versuchen müsse mit einer bestimmten Politik, dann würde das ungeheuer schwierig. Ich glaube, daß wir die Medien nicht zu allmächtigen Institutionen machen dürfen, sondern sehen müssen, daß es immer einen Realitätsbezug gibt, daß zum Beispiel nach wie vor die alles entscheidende Frage die Arbeitslosigkeit ist. Es ist gleich, welches Programm welche Partei hat. Auch das Toni Blair/Gerhard Schröder-Papier interessiert, ich hätte fast gesagt, niemanden, außer viele Journalisten. Den einfachen Wähler interessiert es gar nicht besonders. Wenn die Arbeitslosigkeit deutlich zurückginge, könnten die Politiker sonstwas für Papiere schreiben. Sie würden gewählt.

Zwischenruf Helmut Rohde

Muß eine Partei nicht mehr sein als eine professionelle Werbeagentur? Müßte sie nicht Wert darauf legen, sich zu organisieren, und beispielsweise Zentren haben, die ihrerseits Vorarbeit leisten für Regierungsentscheidungen? Ich will ein Beispiel geben. In den 60er Jahren unter Willy Brandt ist die neue Ostpolitik im Außenpolitischen Ausschuß der Partei vorbereitet worden, der zweite Parteiführer Fritz Erler hat die Verteidigungspolitik entwickelt, Alex Möller die mittelfristige Finanzplanung, Karl Schiller das, was wir die aufgeklärte Marktwirtschaft nennen. Ich weiß nicht, ob auch Sie den Eindruck hatten, daß wir am Ende des vergangenen Jahres sicherlich mediengerechter gehandelt haben als in den 60er Jahren, aber ob wir 1998 so vorbereitet waren wie vor 1969, ist die offene Frage.

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Peter Lösche

Es ist natürlich völlig richtig, was Sie sagen, es illustriert genau, wie die SPD und die CDU sich in gleicher Weise verändert haben, daß sie eben nicht Erlers die Alex Möllers und die anderen hervorgebracht haben, die Konzepte entwickelt haben ...

Zwischenruf Helmut Rohde

Es wird aber eine sich neu entwickelnde Generation geben und eine neue Beziehung gegenüber den Medien ...

Peter Lösche

Ich glaube nicht, daß so etwas heute möglich ist. Es ist vielmehr die Frage, inwieweit es politikberatende Institute gibt oder sie zu schaffen wären, die beim Wechsel eines Ministerpräsidenten ins Kanzleramt alternative Konzepte vorlegen, die er bei der Koalitionsverhandlung benutzen kann, und damit meine ich direkt auch die Friedrich-Ebert-Stiftung. Allerdings müssen Politiker beratungswillig sein.

Zwischenruf

Aber wichtig ist, was sie selber im Kopf haben.

N.N.

Noch ein Wort zur Parteienverdrossenheit. Sicher spielt hier eine Rolle, sie deuteten es kurz an, daß die Korruption im mittleren Bereich der Parteien, bei den kommunalen Mandatsträgern etc. stärker geworden ist. Dabei spielt natürlich eine Rolle, daß in der Wirtschaft ungeheuer viel Geld verdient wird und diese Politiker, die mit der Wirtschaft zusammenarbeiten, sich fragen, weshalb sie nicht auch etwas daran partizipieren sollen. Grundsätzlich würde ich aber sagen, daß Parteienverdrossenheit nicht so sehr eine Sache der Parteien, sondern der Wähler ist, insofern die Wähler, etwa im Gegensatz zur Weimarer Republik, in den letzten 20 Jahren viel aufgeklärter, viel emanzipierter geworden sind. Die Emanzipation reicht natürlich nur zur Kritik; denn mitzumachen, das ist zu umständlich, zu anstrengend; man fühlt sich nicht berufen usw. Noch eine Frage schließt sich an: Wer ist denn die Basis der Partei? Ich würde sagen, bei einem Orts-

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verein von 400 Mitgliedern besteht die Basis nur aus 20 engagierten Personen.

Peter Lösche

Ich glaube, wir sitzen hier einem Irrtum auf. In der Weimarer Republik war der Reichstagspräsident Paul Löbe aus Breslau nach Berlin gekommen. Er ist etwa zweimal im Jahr nach Breslau gefahren. Schauen Sie sich einmal an, was der Bundestagspräsident, die Bundestagspräsidentin heute an Wahlkreisarbeit machen. Es gibt eine ungeheure Basisverbundenheit der Parlamentarier. Diese Pflege und Hege der Wahlkreise ist fast nicht erträglich für den einzelnen Bundestagsabgeordneten. Zu jedem Schützenfest, zu jedem Jubiläum eines Männergesangvereins oder einer Freiwilligen Feuerwehr muß der Bundestagsabgeordnete kommen. Übrigens auf der lokalen und regionalen Ebene findet die Vermittlungsfunktion der Parteien nicht zuletzt über die Bundestagsfraktion statt, und gerade die kommunalen Fraktionen spielen dabei eine ungeheuer große Rolle. Ich möchte davor warnen, das Kind mit dem Bade auszukippen. Da muß man genauer hinsehen. Heute haben wir eine viel stärkere Basisverbundenheit als etwa in der Weimarer Republik oder als in den 50er und 60er Jahren. Willy Brandt hat es doch kaum geschafft, in der SPD 1982/83 jüngere FDP-Politiker, die in die SPD hinübergewechselt waren, irgendwo eine Kandidatur zu verschaffen. Die Basis hat doch dagegen rebelliert. Wer auch immer die Basis ist, es gibt eine „Grasverwurzelung" in den einzelnen Wahlkreisen. Im übrigen glaube ich schon, daß es im Vergleich zu Weimar nicht eine Frage der Emanzipation der Wähler ist, daß es Parteienverdrossenheit und Parteienkritik gibt, sondern die Parteien selbst, die Gesellschaft selbst, deren Produkt die Parteien sind, haben sich so enorm verändert, daß es schon schwerfällt, Partei und Partei in der Weimarer Republik und heute zu vergleichen. Ich bin hineingeboren worden ins sozialdemokratische Milieu. Ich habe mir das nicht aussuchen können. Aus meiner Sicht sind diese geschlossenen Weltanschauungsburgen heute nicht mehr existent. Da hat sich zum Positiven hin vieles verändert.

N.N.

Ich möchte noch einmal ganz kurz auf diesen Fall der Gipfeltreffen zurückkommen, weil das vielleicht etwas zu kurz gesagt worden ist.

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In unserem Staat geht die Willensbildung vom Bürger aus. Die Parteien sind die Mittler zu den gewählten Entscheidungsträgern im Staat, also den Bundestagsabgeordneten. Da sitzen 660 Abgeordnete, die von Verfassungs wegen die Pflicht haben, für das ganze Volk zu arbeiten. Bei uns kommen Entscheidungen dadurch zustande, daß von einer Seite ein Gesetzentwurf eingebracht wird, der von diesen Abgeordneten, von Ausschüssen, sogar vorher noch von den Fraktionsausschüssen, genau beraten wird. Drei Lesungen, Anhörung, es kommt was Vernünftiges dabei heraus. Manchmal, wenn es schnell geht, in ein paar Tagen, manchmal dauert ein Gesetz ein Jahr und mehr. Dieses ganze von Verfassungs wegen klug und für uns alle bindend festgelegte System wird unterlaufen von den Parteien durch ihre informellen Gipfelvereinbarungen. Da sitzen an der Spitze Leute zusammen am Tisch, die keine verfassungsrechtliche, keine demokratische Legitimation haben, und verabreden etwas, das dann in den Bundestag, nachher auch in den Bundesrat gegeben wird. Gelingt das Gipfeltreffen nicht, wie bei der Steuerreform im letzten Jahr, dann kommt dieser Gesetzesentwurf schon mit einer Schieflage ins Parlament und wird wahrscheinlich auch scheitern. Dieses Vorgehen der Parteien ist im Grunde ein ganz klarer Verstoß gegen die Verfassung. Es ist eine Entwicklung zu einem Staat im Staate. Ich glaube daher, daß nicht die Krise mit einem Fragezeichen zu versehen ist, sondern daß wir schon nah am Abgrund sind. Eine Änderung muß von den Bürgern kommen. Die Selbstreinigungskraft der Parteien ist meiner Ansicht nach unterentwickelt. Sie schaffen das von innen heraus nicht.

Manfred Wüstemeyer

Ich würde gerne noch ein amerikanisches Beispiel anführen, das uns wirklich weiterhelfen könnte. Wir haben nach der letzten Bundestagswahl gesehen, daß wichtigste Entscheidungen im Wahlkampf gar nicht vorgestellt, gar nicht diskutiert worden sind. Das ist eines der Probleme, die die Öffentlichkeit mit dem politischen System und den Parteien hat. Ich möchte eine Anregung geben, die aus Amerika stammt, mit Bezug auf die Aufstellung der Kandidaten. Die deutschen Parteien stellen ihre Kandidaten immer noch im Eigenmilieu, in der eigenen Organisation auf und haben ein Monopol auf die Aufstellung der Kandidaten. Wenn das geöffnet würde, wenn für Quereinsteiger Platz geschaffen würde, für Leute, die sich vielleicht nicht für ewig an eine Partei binden, aber doch für eine bestimmte Aufgabe und für

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einen bestimmten Zeitraum bereit sind mitzuarbeiten, dann würde sich das Legitimationsdefizit verringern. Die besten Leute heute, junge, gute Leute wirken heute in der Regel nicht mehr in den Parteien, sondern engagieren sich punktuell vor Ort oder in einer Aufgabe, in einer Firma, wo sie kurzfristig Problemlösungskompetenz suchen und dann wieder etwas anderes tun. Ich denke also, daß Parteien sich ganz leicht bei der Kandidatenaufstellung für Leute öffnen könnten, die sich nicht auf ewig an eine Partei ideologisch binden wollen. Sie können im Wahlkampf Nordrhein-Westfalens, gerade jetzt im Kommunalwahlkampf und bei der Vorbereitung des Landtagswahl sehen, daß die interessantesten Kandidaten Personen sind, die von außen gekommen sind. Auch die großen Parteien nehmen solche Leute auf. In Duisburg ist z.B. ein Hochschullehrer, der sich vorher an der Spitze einer Hochschule bekannt gemacht hat, der interessanteste Kandidat in der Region. Insgesamt würde auch ich sagen: Die neuen Probleme suchen sich ihre Lösungen nicht mehr nur bei den Parteien, sondern sie suchen sie sich dort, wo sie sie finden können, bei Verbänden, bei Wirtschaftsinstitutionen, bei Kirchen oder anderswo. Ich wohne an einem Kernbereich des Ruhrgebiets. Wer kümmert sich dort um Arbeitslose, um Frauen mit Minirenten oder ohne Unterhalt? Das sind Kirchen, spontan gebildete Initiativen, nicht die Gewerkschaften, nicht die SPD, obwohl die SPD dort die absolute Mehrheit hat. Und dort ist die SPD noch in Ordnung. Dort sind die Gewerkschaften noch in Ordnung. Die Probleme suchen sich inzwischen ihre eigenen Lösungen, und die gehen immer häufiger an den Parteien vorbei, weil sie sich zu wenig öffnen.

Roland Klapprodt

Ich bin beim SPD-Parteivorstand zuständig für den Bereich Partei-organisation. Von daher liegt mir die Frage der Mitgliederpartei sehr am Herzen. Peter Lösche hat in seinem interessanten und lehrreichen Referat die Entwicklung der Parteien und damit auch der Sozialdemokratie zu einer Medien- und Fraktionspartei geschildert. Er hat dies als quasi Automatismus geschildert, einen Automatismus, der aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung Platz greift. Ich möchte diesem Teil in Peter Lösches Ausführungen widersprechen: Die Sozialdemokratie hat nur dann eine Chance, die Gesellschaft zu gestalten und - auch im Sinne unserer Grundwerte - zu verändern, wenn sie sowohl professionell in einer Mediengesellschaft agiert, als auch auf

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ihre rund 800.000 Mitglieder als Multiplikatoren setzt. Wir erleben es ja gerade, was passiert, wenn aufgrund von Interessenkonflikten die Medien sich abwenden oder beschließen, die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung „herunterzuschreiben", weil man mit den Beschlüssen zu den 630 DM-Jobs nicht einverstanden ist. Ohne eigene Kraft, ohne Massen- und Mitgliederpartei zu sein, wäre man hier ausgeliefert und abhängig von Beschlüssen, die Verleger fällen, ohne diese beeinflussen zu können. Ich bin der festen Überzeugung, daß sich das Prinzip Mitgliederpartei und der Anspruch, Bewegung zu sein, nicht überlebt haben. Im Gegenteil: Die Aufklärung, die politische und gesellschaftliche Bildung und die Vermittlung von Werten werden eine neue Bedeutung bekommen. Wir wissen aus repräsentativen Mitgliederbefragungen, was Menschen bewegt, sich in der SPD zu organisieren. Sie wollen Gesellschaft mitgestalten und wollen Teilhabe an Entscheidungsprozessen haben. Sie wollen bessere und tiefergehende Informationen haben. Und dies korrespondiert auch mit anderen gesellschaftlichen Organisationen. Es sollen auch Werte und Grundüberzeugungen vermittelt werden. Dieses Bedürfnis stellt auch neue Anforderungen an unsere Bildungsarbeit. Eine Sozialdemokratie, die sich als Selbstorganisation und als Schutzmacht der „Kleinen Leute" sieht, aber auch als Ort, wo kreativ und phantasievoll gearbeitet und gestaltet wird, hat Zukunft. Deshalb kann ich den Abgesang auf die Mitgliederpartei nicht teilen. Ich sehe sehr wohl die von Peter Lösche geschilderten Tendenzen, zur Fraktions- und Medienpartei werden zu können. Aber ich sehe dies als Gefahr, der es zu begegnen gilt. Einen Automatismus zu dieser Entwicklung, dem man quasi schutzlos ausgeliefert ist, sehe ich nicht.

Peter Lösche

Sie haben es gemerkt, Frau Focke hat es angesprochen: Ich gehe sehr vorsichtig mit dem Krisenbegriff um. Wir sind nämlich in der Gefahr, alle Veränderungen als Krise zu bezeichnen. Aus diesem Grunde ist meine These die gewesen, daß es keine Krise des Parteienstaates gibt, daß hingegen die Parteien, das Parteiensystem und der Parteienstaat sich im Moment rapide verändern, aber nicht krisenhaft. Das zeigt sich nicht zuletzt in dem, was gerade angesprochen worden ist, nämlich in einem neuen Organisationsverhalten der Jüngeren. Dies kann man daran beobachten, daß sie nicht mehr in Parteien gehen, wie etwa in den 70er Jahren, in denen sie damals den Marsch durch die Institu-

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tionen antraten, sondern sich heute ad hoc engagieren in einer Bürgerinitiative oder noch informeller, und wenn ein Problem gelöst ist, gehen sie wieder auseinander. Das ist für uns sehr schwer verständlich; Sie haben das genau angesprochen, Herr Wüstemeyer, mit Bezug auf das heutige Organisationsverhalten etwa im Ruhrgebiet, das nicht nur die jüngere Generation betrifft. Darauf müssen Parteien reagieren. Ich halte es für falsch, darauf so zu reagieren, daß Vorwahlen nach amerikanischem Muster eingeführt werden. Dann ginge nämlich genau das verloren, was Herr Klapproth behalten möchte und wo ich ihm eine ganzes Stück des Weges folge, nämlich Mitglieder- und vor allem noch Funktionärsparteien zu haben, Parteien von Parteiaktivisten, die sich verantwortlich fühlen für bestimmte Politikinhalte, die lokal, regional oder auch bundesweit durchgesetzt werden sollen. Wenn wir unsere Parteien für Vorwahlen öffnen, dann findet wirklich im schlechten Sinne eine Amerikanisierung statt, dann sind nämlich die Parteien nicht mehr verantwortlich für die Kandidaten, die unter ihrem Etikett nominiert werden, das heißt: Die Parteien zerfallen in viele kleinere Parteien. Und ein Kandidat, der unterlegen ist in einer innerparteilichen Vorwahl, wird natürlich seine Wahlkampforganisation beieinander halten, um beim nächsten Mal anzutreten, und er braucht Geld für den innerparteilichen Vorwahlkampf, und das kriegt er von den Verbänden. Damit ist das, was wir an Parteienstaat heute haben, wirklich gefährdet. Insofern würde ich Herrn Klapproth weit folgen, wenn wir entgegen bestimmten Tendenzen, die es gibt, eine Partei von Parteiaktivisten bei den großen Parteien am Leben erhalten können. Ich sehe da nicht irgendein Schicksal, das abläuft, ohne daß wir darauf Einfluß hätten. Aber die Tendenzen sind klar. Es ist eine Realität, daß in den beiden großen Parteien etwa 10 bis 15% der Mitglieder - nicht mehr - am Parteileben teilnehmen. Darüber kann man klagen, aber das ändert an dem Sachverhalt nichts. Es ist Teil dieses Sachverhalts, daß die Fraktionen mit ihren Mitarbeitern und mit den Mitarbeitern der Abgeordneten zur auch organisatorischen Säule der Parteien geworden sind, auch finanziell. Das mag man wieder beklagen, aber es beschreibt zunächst einmal schlicht und einfach eine Realität. Mir kam es nicht so sehr darauf an, hier etwa die Fraktionspartei, die Medienpartei, die professionalisierte Partei zu propagieren, Ihnen nahezulegen, dieses Konzept zu verfolgen. Ich sehe vielmehr in der Gesellschaft angelegte Tendenzen, die in diese Richtung gehen. Mein Vortrag sollte der Versuch einer Analyse sein, nicht der Versuch, Ihnen irgendein Modell zu verkaufen. Das Problem ist zunächst

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einmal sehr realistisch, distanziert zu analysieren: Wie ist denn der Sachverhalt, welche Chancen liegen unter Umständen darin, wenn es ein neues Organisationsverhalten gibt, Jüngere ad hoc an bestimmte Parteiinitiativen zu binden bzw. sie dafür zu gewinnen. Was die informellen Verabredungen anbetrifft, so finden diese ja nicht nur an den Parteispitzen statt, sondern sie finden statt innerhalb der Arbeitskreise, der Arbeitsgruppen, der Fraktionen, zwischen den Arbeitsgruppen der Fraktion, zwischen einzelnen Personen, die sich mit einem bestimmten Haushaltstitel befassen, die sich mit einem bestimmten Gesetzentwurf befassen, die versuchen, aus der Ministerialbürokratie Gesetzentwürfe zu bekommen, damit sie beraten werden. (Die Gesetzesinitiative liegt de facto ja gar nicht beim Parlament als vielmehr bei der Regierungsmehrheit und daher bei der Ministerialbürokratie.) Daß dann informelle Absprachen getroffen werden, hebt doch alles, was verfassungsrechtlich vorgegeben ist, gar nicht auf, denn erstens muß alles, was informell abgesprochen ist, formell legitimiert und beschlossen werden. Und zweitens machen die Fraktionen oder macht der Bundestag oder der Ortsrat nicht mit, wenn ein bestimmter kritischer Punkt erreicht ist. Ich glaube, es gehört zu den großen Verdiensten des Bundestages, den Versuch, ein Parteienfinanzierungsamnestiegesetz durchzubringen, das informell abgesprochen war, torpediert zu haben Wenn man weiter zurückgehen will, so ist der Sturz von Ludwig Erhard natürlich durch seine Partei und der von Helmut Schmidt natürlich ebenfalls durch seine Partei erfolgt. Es gibt also immer noch die offiziellen Gremien, die Einspruch einlegen können. Es wird nicht alles informell ausgehandelt, und wenn informell ausgehandelt wird, dann eben nicht nur an der Spitze, sondern auf allen Ebenen des politischen Systems. Wenn Sie in einem Gemeinderat mitmachen würden, würden Sie, das kann ich Ihnen garantieren, telefonieren und informelle Absprachen treffen. Zusammenfassend: Ich halte den Parteienstaat nach wie vor für lebendig, und wenn man zurückblickt auf die Geschichte der Bundesrepublik, dann ist dies insgesamt eine Erfolgsgeschichte. Wir sollten uns nicht so sehr irritieren lassen von dem Lamentieren einiger Politikwissenschaftler, Staatsrechtler und vieler Journalisten. Ich glaube, wir können stolz sein auf die Geschichte des Parteienstaates: 50 Jahre, die sind nicht schlecht gewesen.

[Seite der Druckausg.: 40]

Dieter Dowe

Meine Damen und Herren, wir sind an das Ende einer, so glaube ich, sehr interessanten Diskussionsveranstaltung gekommen. Dabei sind wir weit über die systematische Fragestellung hinaus auf inhaltliche Fragen eingegangen, die Wirken und Identität der SPD nach 1945 betreffen. (Über die anderen Parteien haben wir hier so gut wie nicht gesprochen.) Es hat im Grundsätzlichen eine ganze Reihe sehr, sehr kritischer Stimmen zur Gesamteinschätzung des Referenten gegeben, allerdings leider ohne konkret zu artikulieren, wohin denn insgesamt die Reise in unserem politischen System anders gehen könnte. Die Mehrheit der Diskutanten, so scheint mir, pflichtet doch eher Peter Lösches Ansicht generell bei: Parteien und Parteienstaat sind in einer schwierigen Übergangsphase, in der sich Formen und Inhalte politischer Artikulation und Organisation verändern werden. Es gibt für das parlamentarische System aber keine grundsätzliche Alternative zu Parteien als Mittlern zwischen Staat und Gesellschaft - sie müssen es jedoch wirklich sein.

[Seite der Druckausg.: 46 - 48]

    [ Auf den Seiten 46 bis 48 der Druckausgabe
    wird ein Überblick über die bisher in der
    Reihe "Gesprächskreis Geschichte"
    erschienen Titel gegeben]


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