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TEILDOKUMENT:



[Seite der Druckausg.: 151 ]

PODIUMSDISKUSSION

Kurt Schumacher - Mensch und Staatsmann
Peter Brandt
Susanne Miller
William E. Paterson
Hans-Peter Schwarz

Moderation: Bernd Faulenbach

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Bernd Faulenbach

Meine Damen und Herren!

Unsere Abschlußdiskussion soll die Fragen unseres Kolloquiums noch einmal bündeln:

Wie hat Schumacher die Erfahrungen von Weimar und NS-Zeit verarbeitet, und welche Rolle spielten diese Erfahrungen für seine Politik in der Nachkriegszeit? Ich will es einmal überspitzt sagen: Hat er vielleicht die historische Konstellation der Nachkriegszeit nicht richtig wahrgenommen, weil er so sehr in der Analogie von Weimar gedacht hat? Oder eine andere Frage: War Schumacher auf dem Hintergrund der sozialdemokratischen Tradition eher ein Reformer oder ein Traditionalist? Steht er für Neubeginn oder für Kontinuität? Diese Frage hat uns intensiv beschäftigt. Oder: Hätte eine andere sozialdemokratische Politik im Westen den Prozeß der Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der SBZ verhindert oder auch nur hinauszögern können? Oder noch wichtiger: Wie weit vertrat Schumacher in den verschiedenen Phasen der Nachkriegsentwicklung eine zu der sich durchsetzenden Linie grundsätzlich oder partiell alternative Politik? Und: Wie ist das Verhältnis Schumachers zum Westen im allgemeinen, zu England, den USA, Frankreich im besonderen, zu beschreiben? Ist es berechtigt, und wenn ja, für welche Phasen, ihn in die Nähe neutralistischer Positionen zu rücken, oder ist dies gänzlich abwegig? Und zuletzt vielleicht: In welchem Verhältnis standen für Schumacher Nation und Europa? Ist er als Nationalist zu bezeichnen, oder kann gar sein Begriff von demokratischem Patriotismus heute als Leitbild gelten?

Susanne Miller

Ich möchte zu der Frage Stellung nehmen, ob Schumacher Traditionalist oder Neuerer war, und möchte die nicht sehr originelle Antwort geben: Er war beides. Er war Traditionalist im sozialdemokratischen Sinne und nicht nur auf Deutschland bezogen, sondern generell, in seiner Hochschätzung des Gemeineigentums, in seiner Einschätzung der Rolle des Staates. Er war auch Traditionalist, nicht nur auf die deutsche Sozialdemokratie bezogen, sondern generell in seinem Bemühen, Patriotismus und Internationalismus miteinander zu vereinigen. Ebenso in seiner Einschätzung der Kommunisten stand er durchaus in sozialdemokratischer Tradition. Spezifisch auf die deutsche Sozialdemokratie bezogen waren seine Einschätzung und sein Beharren auf Parteidisziplin und seine in der Politik generelle Sicht auf den

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Zentralismus, sowohl was die Beschlüsse der Partei, als auch was die Staatsverfassung anging.

Er war Neuerer, und das ist mir, muß ich sagen, erst in der letzten Zeit so ganz bewußt geworden, als ich mich mit dieser Frage beschäftigt habe, er war Neuerer in seiner Ablehnung einer Theorie für seine Partei, in seiner Akzeptanz des Pluralismus der Motive, weswegen man Sozialdemokrat sein kann. Er war darin ein Weichensteller für das Godesberger Programm, obwohl - das ist auch eine der Paradoxien, die es in der Geschichte und auch bei großen Männern gibt - er selber nicht dafür war, daß man um diese Zeit ein Grundsatzprogramm machte. Aber zweifellos hat er Stellungnahmen bezogen, die dann in Godesberg ihren präzisen Ausdruck fanden. Er war auch Neuerer in seiner Zuwendung zu den Ideen der bürgerlichen Revolution. Diese Zuwendung gab es in der Sozialdemokratie immer, aber Schumacher hat es artikuliert, er hat es programmatisch formuliert, daß die Arbeiterschaft über den Forderungen der Menschenrechte keine eigenen Klassenforderungen zu stellen habe. Er war also auch darin ein Neuerer, daß er die Sozialdemokratie nicht als eine Vertretung einer Klasse verstand, sondern eine Öffnung der Partei für andere Schichten, für andere Berufe, für andere Weltanschauungen forderte. Er bahnte auch den Weg dafür, daß sich das Verhältnis zu den Kirchen änderte. Vielleicht war das eine der bedeutendsten Neuerungen der Sozialdemokratie, daß sie einen Zustrom von Mitgliedern und führenden Frauen und Männern aus den Kirchen bekam, die bis heute in der Sozialdemokratie wirken. In diesen Dingen hat Kurt Schumacher die Partei modernisiert und den Weg geöffnet für das Godesberger Programm.

Peter Brandt

Ich möchte versuchen, den Kern des politischen Konzepts Schu-machers noch einmal knapp darzustellen. Es ist unvermeidlich, daß dabei das eine oder andere noch einmal zur Sprache kommt. Ich hoffe aber, daß ich dennoch ein paar neue Akzente setze.

Den Ausgangspunkt bildete die Stilisierung der Sozialdemokratie als des eigentlichen Gegenpols des Nationalsozialismus. Daraus ergab sich der Führungsanspruch der SPD. Im deutlichen Gegensatz zur Blockkonzeption in der sowjetischen Besatzungszone, aber auch zu den All- und Mehrparteienregierungen, wie sie dann auf Landesebene in den Westzonen dominierten, war für Schumacher gerade der Parteienkampf das entscheidende Element politischen Fortschritts und politischer Aufklärung. Demokratie war für ihn nur denkbar als

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parlamentarischer Mehrparteienstaat. Das war in dieser Zeit und in dieser Deutlichkeit überhaupt nicht selbstverständlich, Schumacher unterschied sich darin nicht nur von der allgemeinen Stimmung, die doch sehr stark harmonisierend, volksgemeinschaftlich, parteiübergreifend orientiert war, sondern auch von bis weit in die Sozialdemokratie gehenden Tendenzen einer autoritären Demokratie, die teilweise kombiniert war mit basisdemokratischen Überlegungen, also Ansätzen, die man zumindest nicht ohne weiteres mit der parlamentarischen Demokratie gleichsetzen kann. Diese Einstellung zur parlamentarischen Demokratie macht es auch verständlich, warum Schumacher im Ost-West-Konflikt von Anfang an grundsätzlich auf der Seite des Westens stand. Dieser Konflikt war für ihn eben keiner zwischen Kapitalismus und Sozialismus, auch nicht zwischen Kapitalismus und deformiertem Sozialismus. Er war für ihn ein Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur.

Dabei ging es für ihn um die Abwehr eines totalitären, staatskapitalistischen, großrussischen Imperialismus seitens dessen, was von ihm Weltdemokratie genannt wurde. Diesen Kampf ordnete er gleichsam der innergesellschaftlichen Klassenauseinandersetzung über, was nicht heißt, daß diese Klassenauseinandersetzung für ihn keine Rolle spielte. Er war allerdings überzeugt, daß nur eine sozialprogressive Entwicklung in den Ländern des Westens und, konkret, in den Westzonen Deutschlands den Westen dazu befähigen werde, die kommunistische Herausforderung zu bestehen. Deshalb muß Schumachers Westorientierung, die Herr Schwarz schon vor 30 Jahren meines Erachtens klar herausgearbeitet hat, spezifiziert werden. Sie galt uneingeschränkt, sofern es um die politische Ordnung ging - Stichwort parlamentarische Demokratie -, sie galt nur sehr bedingt, sofern es um die Position der SPD zur sicherheitspolitischen, militärischen Blockbildung des Westens, genauer zur Mitwirkung Westdeutschlands daran, ging, sie galt gar nicht in bezug auf die Wirtschafts- und die Gesellschaftspolitik.

Schumacher war und blieb Sozialist, wie immer man das bewertet, und zwar nicht nur im Sinne des Godesberger Programms, also als allgemeine Wertorientierung, sondern durchaus in einem antikapitalistischen Sinn, wobei einzuräumen ist, daß die Revision der Neuordnungsprogrammatik schon zu seinen Lebzeiten begann. Die sozialistische Umgestaltung hatte für Schumacher bekanntlich zwei Begründungen. In erster Linie ging es um die Sicherung der Demokratie durch Brechung der ökonomischen Macht des Großbesitzes, den er verantwortlich machte für den Nazismus - und so argumentierte er ja

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auch gegenüber den Besatzungsmächten. Außerdem war er der Meinung, daß die ökonomische Lage Deutschland nicht länger den Luxus kapitalistischer Profitwirtschaft erlaube, sondern den Übergang zur sozialistischen Planung notwendig mache. Nun kann man heute leicht sagen, daß Schumacher hier dem selben Trugschluß unterlag wie andere Funktionäre der Arbeiterbewegung und auch viele Basisaktivisten in Betrieben und Gewerkschaften, die aus der Diskreditierung vieler Großkapitalisten, aus der zeitweiligen Suspendierung von Verfügungsrechten der Eigentümer auch im Westen und auch aus der bedeutenden Rolle der Betriebsräte in der Übergangsphase bei der Ingangsetzung der Produktion usw. Schritte zur Aufhebung des Kapital Verhältnisses sahen. Wenn man dazu noch die zudem überschätzten materiellen Zerstörungen nimmt, dann konnte man sich schlicht nicht vorstellen, wie ein sozialerträglicher Aufbau im Rahmen des Marktkapitalismus möglich sein sollte. In diesem Punkt, so muß man sagen, entsprach Schumacher durchaus einer Stimmung und einer Denkweise in breiten Schichten der Arbeiterbewegung, was in anderen Elementen seiner Position weniger eindeutig ist.

Jetzt nur noch ganz kurz zu der Frage, ob Schumacher ein Nationalist war. Wenn diese Bezeichnung im Sinne der Verabsolutierung des Nationalen gemeint ist, war er es mit Sicherheit nicht, aber für ihn hatte die Verteidigung der materiellen und nationalen Interessen des deutschen Volkes, gerade seitens der SPD und insbesondere seiner Person und mit seinem persönlichen Hintergrund, einen zentralen Stellenwert. Dadurch geriet er nun zwangsläufig immer wieder in Kollision auch mit den Westmächten, am stärksten mit Frankreich, gegen das er selber auch die größten Vorbehalte hatte. Die Weststaatsgründung, die sich spätestens 1948 abzeichnete, enthielt für die SPD - das sollte man unterstreichen - und für ihren Vorsitzenden ein unlösbares Dilemma. Einerseits war man ängstlich bemüht, den fragmentarischen und provisorischen Charakter des zu schaffenden Gebildes zu betonen, andererseits bot ja allein die Effektivierung des Staatsfragments eine Aussicht, wieder echte politische Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten, und zwar sowohl im Hinblick auf das Ziel gesellschaftlichen Neubaus, als auch im Hinblick auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Die deutsche Einheit war gerade in der Sicht Schumachers unabdingbar, um den sozialdemokratischen Führungsanspruch tatsächlich zum Tragen zu bringen. Er behauptete, sicherlich rhetorisch etwas überspitzt, daß mindestens drei Viertel der Ostdeutschen verhinderte Sozialdemokraten seien, aber auch bei nüchterner Abwägung ging er davon aus, daß zumindest die deutliche

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relative, wenn nicht sogar die absolute Mehrheit der Stimmen bei gesamtdeutschen freien Wahlen zustande kämen. Er sprach schon 1947 von der Wiederherstellung, nicht der Erhaltung der deutschen Einheit, denn schon zu diesem Zeitpunkt unterstellte er, daß Deutschland durch einseitige Aktionen der Sowjetunion in Teilung begriffen sei, wenn auch noch nicht definitiv geteilt sei. Wie aber sollte einerseits die Viermächteverantwortung für Deutschland festgehalten werden, wo doch andererseits offenkundig keiner der Siegerstaaten an der Wiederherstellung der deutschen Einheit interessiert war, zumindest nicht bei Gefahr eigener Machteinbußen oder Machtzuwächse des weltpolitischen Kontrahenten oder mit der Aussicht auf einen unabhängigen deutschen Nationalstaat im Zentrum Europas? Da scheint mir eine wichtige Frage angelegt zu sein, die die innere Logik des Konzepts betrifft.

Hans-Peter Schwarz

Der Historiker muß immer bemüht sein, eine Persönlichkeit aus den Bedingungen ihrer Zeit zu verstehen; damit verbindet sich das Bestreben, die Persönlichkeit zu bewerten, einzuordnen. Ich selber glaube, daß gestern und heute viel unternommen worden ist, um Schumacher aus den Bedingungen seiner Zeit zu verstehen. Doch will ich gerne für die Bewertung ein paar Anregungen beisteuern, wobei ich mich an das Thema halte: Mensch und Staatsmann.

Der Mensch - nach meinem Dafürhalten war Schumacher ein ganz außerordentlicher Mensch der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der außerordentlichste Parteiführer der deutschen Sozialdemokratie nach Bebel, ganz außerordentlich und bemerkenswert auch, wenn man ihn beispielsweise mit den damaligen sozialistischen oder sozialdemokratischen Spitzenpolitikern in England, in Frankreich oder in Italien vergleicht - also ein Unikat. Was macht diese Einzigartigkeit aus? Ich nenne nur drei Punkte:

1. Zweifellos besaß Schumacher Charisma. Weshalb Charisma? Margaret Thatcher hat viel später einmal formuliert, sie sei eine Überzeugungspolitikerin - nicht eine bloße Pragmatikerin. In diesem Sinn war auch Kurt Schumacher ein Überzeugungspolitiker. Er war ein Mann mit einer Vision, ein Mann, der nach Meinung vieler, weit über die Kreise der Sozialdemokratie hinaus, ein Schicksal hatte und geradezu inkorporierte, das Schicksal der Generation, die vom Nationalsozialismus verfolgt, im Widerstand gepeinigt worden war.

2. Er gehört zu den Politikern, die uns als solche sehr fremd sind, die überhaupt keine Bedenken haben, sich als politische Führer zu

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verstehen, Führer im Sinne von Max Weber. Uns ist heute sehr fremd weniger die Bereitschaft zu führen, als die Bereitschaft, sich als Führer einer Partei, wenn nicht gar einer Gesellschaft, zu verstehen.

3. Man muß ihn auch in seiner Kantigkeit verstehen, in seiner autoritären Haltung auf dem Hintergrund der deutschen Sozialgeschichte. Wenn man sich die Landräte, die Journalisten, die Ordinarien, die Gewerkschaftsführer, einen Teil der Politiker jener Jahre ansieht - das sind alles sehr viel kantigere, weniger abgeschliffene, weniger taktisch angepaßte Figuren als die heutigen. Deshalb ist es falsch, ihn immer nur so herauszugreifen und zu sagen, er passe überhaupt nicht in die Zeit. Er paßte sehr wohl in die Zeit, weil es auch eine ganze Reihe anderer gab, die vom Persönlichkeitsbild ähnlich strukturiert waren. Auch deshalb ist er uns in manchem heute etwas fremd.

Soviel zum Menschen. Nun zum Staatsmann. Da würde ich sagen, der Begriff Staatsmann paßt eigentlich nicht auf ihn. Warum? Er war ein verhinderter Staatsmann oder, wenn Sie so wollen, ein halb gescheiterter Politiker, der durch die Umstände, durch sich selbst, wie immer, gehindert wurde, auf eine Ebene zu gelangen, die Adenauer in den Jahren 1949 bis 1952/53 so langsam erklomm. Während der ersten Legislaturperiode fing Schumacher als Parteipolitiker an, blieb zeitlebens ein Parteipolitiker, konnte nicht Staatsmann werden, weil zum Staatsmann eben gehört, daß man ein Regierungsamt hat. Man muß international in der Repräsentation, im Geben und Nehmen, in den Kompromissen, die man schließt, die man dann nach innen zu vertreten hat, zeigen, daß man nicht nur in der Theorie, wie eben völlig zu Recht gesagt wurde, für den Internationalismus und zugleich für die nationalen Interessen eintritt, sondern daß man auch in der Praxis die Kraft aufbringt, dies einerseits an den Verhandlungstischen durchzusetzen, andererseits aber auch innenpolitisch und innerparteilich. Willy Brandt konnte ein Staatsmann werden, Schumacher war es nicht beschieden, ein Staatsmann zu sein. Worin sehe ich nun einige Punkte für die große Bedeutung dieses Parteiführers?

Erstens: Von Herrn Potthoff ist ganz deutlich herausgearbeitet worden - ich kann das nur unterstreichen - Schumachers eindeutige Abgrenzung zum totalitären Kommunismus. Dies war von größter Bedeutung für die Entwicklung in Westdeutschland und darüber hinaus auch in Westeuropa; denn die italienischen Sozialisten etwa grenzten sich ja durchaus nicht von den Kommunisten ab, die französischen Sozialisten begannen damit mit erheblicher Entschiedenheit erst unter Paul Ramadier im Jahre 1947. In Deutschland geschah dies

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sehr viel früher, mit sehr starken, weitreichenden Auswirkungen. Man wird lange darüber diskutieren können, wie die Zwangsvereinigung einzuschätzen ist, als auch die zum Zusammengehen mit der KPD tendierenden Strömungen in der SPD der Westzonen. Es kann aber gar kein Zweifel daran bestehen, daß Schumacher an der dann bald erfolgenden antikommunistischen Orientierung der SPD einen sehr, sehr maßgebenden Anteil hatte, mit Auswirkungen weit über den Bereich der Sozialdemokratie hinaus.

Zweiter Punkt: Schumacher restaurierte die SPD als eine tragende politische Kraft. Auch da kann man wieder streiten, was an ihm nun reformerisch, was traditionalistisch war. Tatsache aber ist, daß er nicht nur diese Partei zu einer unverzichtbaren großen Kraft in der späteren Bundesrepublik machte, sondern daß er dieser Partei in den Anfängen sogar das Gefühl gab: Wir können es schaffen, mehrheitsfähig zu werden. Als die SPD damit scheiterte, war das die große Enttäuschung der Jahre 1949/50 und folgende.

Dritte Bedeutung Schumachers: Sie haben mich gebeten, ihn mit Adenauer zu vergleichen. In einem waren die beiden einig: Eine Demokratie braucht eine starke Regierung und eine starke Opposition. Schumachers große Tragödie war es, daß er mit dazu beitrug - Sie erinnern sich an die Kompromisse im April 1949 -, der Bundesregierung relativ weitgehende Zuständigkeit den Ländern gegenüber zu sichern, damit also seinem Konkurrenten die Möglichkeiten zur Gestaltung zu geben, während er in der Opposition bleiben mußte. Wenn man das aber aus weiterer Perspektive betrachtet, über 20, 30 Jahre hinweg, so zählt dies zu den dauerhaften politischen Leistungen Schumachers: Die Deutschen haben sich daran gewöhnt - die CDU mußte das ja auch mal lernen -, daß eine starke Regierung eine starke Opposition braucht und daß beides nötig ist. Das hat Schumacher in einer Deutlichkeit betont, die die Ministerpräsidenten der SPD, wie vielfach auch der CDU, geärgert hat, die aber, glaube ich, langfristig außerordentlich wichtig war.

In welchen Punkten ist Schumacher nun gescheitert, ich würde sagen: im großen und ganzen tragisch gescheitert? Der erste Punkt:

Pluralismus, ein Stichwort, das Frau Miller gebraucht hat. Schumacher war einerseits ein Demokrat und Pluralist, hat andererseits aber, wie Herr Brandt eben noch einmal betont hat, den Alleinvertretungsanspruch der SPD als einen moralischen Führungsanspruch erhoben. Beides geht aber nicht. Pluralistische Demokratie ist weder vereinbar mit dem moralischen noch mit einem faktischen Alleinver

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tretungsanspruch einer Partei. Selbst wenn man es versucht, muß man Mehrheiten dafür finden.

Nach meinem Dafürhalten ist bei Schumacher vom Jahre 1945 bis zum Jahre 1952 eine Evolution zu erkennen. Für mein Gefühl achtet man überhaupt in der Schumacher-Forschung viel zu wenig darauf, daß auch dieser Mann sich in diesen sieben Jahren - Sie haben es ja auch angedeutet, Herr Brandt -, in Auseinandersetzung mit der Realität entwickelt hat. Das gilt für die Wirtschaftspolitik, das gilt auch in dieser Frage.

Ein zweiter Punkt: Schumacher hat die SPD koalitionspolitisch isoliert, nicht zuletzt durch seinen Kampf gegen den politischen Katholizismus. Ich erinnere an seinen Ausspruch: die katholische Kirche als "fünfte Besatzungsmacht" und den Kampf gegen die Konfessionsschule. Bucerius hat einmal gesagt: Wir Liberalen wußten gar nicht, daß die Frage der Marktwirtschaft im Jahre 1949 wahrscheinlich von denen entschieden wurde, die CDU gewählt haben, weil sie für die Konfessionsschule gewesen sind. Schumacher stand damals im absoluten Gegensatz dazu, wobei ich genauso sehe wie Sie, daß er diesen Fehler später eingesehen und versucht hat, ein besseres Verhältnis zu den Kirchen zu schaffen, wenigstens zur Evangelischen. Dies war also ein schwacher Punkt bei ihm. Der andere schwache Punkt, aber hier war überhaupt kein Kompromiß möglich, war sein Sozialismus. Daß alle bürgerlichen Kräfte damit nicht einverstanden sein konnten, liegt auf der Hand.

Dritter Punkt: Schumacher schätzte die Möglichkeiten des modernen Kapitalismus, wie immer man das nennt, falsch ein. Damit war er aber nicht der einzige. In den Jahren 1945 bis 1949 gab es das auch in der CDU und anderswo. Er hat aber die SPD in einer Zeit, in der er Einfluß nehmen konnte, wahrscheinlich zu lange auf diesem Kurs gehalten.

Vierter, zweitletzter Punkt: Sein taktisches Kalkül in den Jahren 1949 bis 1952 ging nicht auf, obwohl es hätte aufgehen können. Eine Koalition, die heterogen war, eine noch ganz üble Wirtschaftslage, eine schwierige internationale Konstellation - es hätte wirklich möglich sein können, daß Adenauer bis 1952 gescheitert wäre. Der Bürgerblock hätte unter ungünstigen Bedingungen auseinanderfallen können, wenn man annimmt, es wäre im Mai 1952 nicht gelungen, die West-Verträge unter Dach und Fach zu bringen, oder wenn der Korea-Krieg nicht ausgebrochen wäre mit dem Korea-Boom und allem, was damit zusammenhing. Das heißt, das Kalkül war nicht

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ganz irrational, aber es ist nicht aufgegangen, und daran ist Schumacher mit gescheitert.

Fünfter und letzter Punkt. Es ist verschiedentlich herausgearbeitet worden, daß er sich an den westlichen Werten Demokratie, Tradition der Französischen Revolution usw. orientiert hat. Seine Schwierigkeit lag darin, daß das Bekenntnis zu den westlichen Werten natürlich auch die Bereitschaft beinhaltete, sich in die Machtpolitik der Westmächte einzufügen, überhaupt konkret das mitzugestalten, was westliche Wertepolitik anging. Hier war er für mein Gefühl - das gilt für Jakob Kaiser und andere genauso - in seinem Ansatz viel zu germanozentrisch. Er hat viel zu wenig die neuen Bedingungen des internationalen Systems erkannt oder konnte sie viel zu wenig erkennen, wobei ich hinzufügen möchte: Es war natürlich auch seine Tragik, daß er ein schwerkranker Mann war, der schlecht reisen konnte, Schwierigkeiten mit der Kommunikation hatte, dem es sehr viel schwerer fallen mußte als anderen zu sehen, was eigentlich lief, wobei sicherlich die Krankheit auch zu einer gewissen Starrheit und Unfähigkeit der Informationsaufnahme und des Verarbeitens neuer Gegebenheiten führte, die dann insgesamt doch zur Folge hatten, daß er alles in allem in der Erinnerung als eine sehr große Figur erscheint, die aber letztlich in ihrem politischen Willen doch innenpolitisch und außenpolitisch scheitern mußte oder jedenfalls gescheitert ist.

William Paterson

Es ist für mich als Proeuropäer persönlich leichter, an der Feier des 100. Geburtstags von Schumacher teilzunehmen als an dem 70. Geburtstag von Frau Thatcher, der heute auch gefeiert wird.

Ich möchte zwei Punkte berühren. Der erste Punkt ist Schumachers Europapolitik aus der Sicht der Labour Party. Der zweite Punkt betrifft die Frage, warum die Beziehungen zur Labour Party so schlecht waren.

Zuerst zur Europapolitik. Auf den ersten Blick hatten die Labour Party und die SPD während Schumachers Zeit als Parteivorsitzender viel Gemeinsames in der Europapolitik. Beide Parteien lehnten eine offizielle Teilnahme an der Sozialistischen Bewegung für die Vereinigten Staaten Europas (MSEUE) strikt ab, und keine der beiden schickte eine offizielle Delegation zum Haager Kongreß. Trotzdem trat eine Minderheit aus beiden Parteien dem MSEUE bei und nahm auch am Kongreß teil.

Beide Parteien standen sämtlichen Initiativen zur Europäischen Einigung zwischen 1949 und 1952 kritisch gegenüber. Die jeweilige

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Politik der beiden Parteien gegenüber dem relativ unwichtigen Europarat wich jedoch voneinander ab. Die Labour Party befürwortete die Mitgliedschaft Großbritanniens, während die SPD bekanntlich eine assoziierte Mitgliedschaft im Europarat für die Bundesrepublik ablehnte. Die jeweilige Mitgliedschaft ihrer Staaten in der weitaus wichtigeren Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft lehnten wiederum beide Parteien ab, wenn auch im Falle der Europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft nur nach anfänglichem Zögern.

Schumachers grundsätzliche Einwände hatten ihren Ursprung in der Lage der Bundesrepublik. Im Fall der Labour Party beeinflußte der Glaube an Britanniens Sonderstellung als Mittelpunkt dreier Staatengruppen, nämlich der amerikanischen, des Commonwealth und der europäischen, diese Haltung. So befürchtete die Partei, daß der Beitritt zur Kohle- und Stahlgemeinschaft und zur EVG zur Schwächung der Verpflichtungen gegenüber den Vereinigten Staaten und dem Commonwealth führen würde.

Die Tatsache, daß Großbritannien während des Krieges weder besiegt noch besetzt worden war, trug zu einer Haltung gegenüber nationaler Souveränität bei, die nur wenige Parallelen in anderen sozialistischen Parteien auf dem europäischen Festland fand. Dennoch gab es wichtige Gemeinsamkeiten zwischen beiden Parteien: Sie lehnten eine Teilnahme ihrer jeweiligen Staaten an den neuen Einrichtungen ab. Außerdem teilten sie eine Anzahl gemeinsamer Vorbehalte. So bildete die beiderseitige Verpflichtung zur Verstaatlichung der Schwerindustrie einen Teil ihrer Einwände gegen die Kohle- und Stahlgemeinschaft. Weiter begründete sich ihre Kritik am technokratischen Wesen der Hohen Behörde der Kohle- und Stahlgemeinschaft in ihren gemeinsamen Vorstellungen einer repräsentativen Demokratie. Im übrigen sollte nicht vergessen werden, daß die SPD diese Einrichtungen wegen der Abwesenheit der sozialdemokratisch geführten Länder Britanniens und Skandinaviens ablehnte.

Trotz dieser Gemeinsamkeit stieß die Europapolitik der SPD während der Ära Schumacher auf wenig Verständnis, erst recht nicht auf Unterstützung seitens der Labour Party. Die Labour Party empfand die Einwände der SPD als nationalistisch. Man reagierte dementsprechend kritisch. Besonders kritisierte Labour die Opposition der SPD zur assoziierten Mitgliedschaft der Bundesrepublik im Europarat. In einer auffallend scharfen Rede vor dem britischen Unterhaus zog Ernest Bevin eine bittere Parallele zur Erfahrung der Westmacht mit Deutschland und dem Völkerbund. Das war schon

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ziemlich stark. Denis Healey, der Deutsch reden konnte, besonders gute persönliche Beziehungen zur SPD und gewiß Verständnis für die SPD im allgemeinen hatte, verfaßte nach einem Besuch in Bonn einen sehr kritischen Bericht an den Internationalen Unterausschuß der Labour Party über die Opposition der SPD zum Petersberger Abkommen. Ich zitiere daraus: "I pointed out to the SPD when I met them that this was quite desastrous. In our view it was a good agree-ment for both, for Germany and Europe." Die SPD sollte also zustimmen.

Außerdem tauchten während eines Besuchs Percy Knights beim Hamburger Parteitag als Vertreter der Labour Party im Mai 1950 Meinungsverschiedenheiten darüber auf, ob die SPD-Europapolitik klug sei. Diese Unterschiede kamen so deutlich zum Vorschein, daß Schumacher der Abordnung der Labour Party erklärte, daß es von seiner Sicht aus nicht schlimm wäre, wenn Labour die nächste Wahl verlieren würde, da sie danach mehr Zeit hätte, der SPD wirksame Unterstützung zu gewähren. Das fand keine besondere Resonanz im Internationalen Unterausschuß.

Bei einem Treffen europäischer sozialistischer Parteien am 16./17. Juni 1950 war die SPD anläßlich der Formulierung einer Antwort auf den Schuman-Plan isoliert. Angesichts ihrer eigenen Politik - das möchte ich allerdings betonen - war jedoch der Vorwurf der Labour Party, daß die SPD-Europapolitik zu nationalistisch sei, widersprüchlich. Ich zitiere hier Richard Rose, der in seiner Oxforder Doktorarbeit ironisch gesagt hat, als er über die Labour-Wahlparole von 1950 "Put the nation first" schrieb: "that had an unattended double meaning", war also doppeldeutig.

Von beiden Parteien kann mithin gesagt werden, daß sie eine nationalistische Politik verfolgten. Der Unterschied lag lediglich in der Salonfähigkeit des jeweiligen Nationalismus. Die Erfahrungen der Jahre 1939 bis 1945 und der Prestigewert des Wahlsiegs der Labour Party von 1945, den man nicht überschätzen kann, hatten zur Folge, daß der Nationalismus der Labour Party auf äußerst wenig Kritik bei den anderen westeuropäischen Parteien stieß. Obwohl die SPD keine Verantwortung für die deutsche Aggression trug, war jedoch eine nationalistische Argumentation ihrerseits für andere westeuropäische Sozialisten damals einfach untragbar.

Trotzdem fällt es schwer, kein Verständnis für Schumacher und für die SPD-Führung in dieser Zeit aufzubringen. Die Labour Party lehnte Großbritanniens Mitgliedschaft in der EVG zum Beispiel ab, kritisierte aber die SPD im gleichen Zug, daß sie eine Teilnahme

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Deutschlands nicht unterstützte. Es gibt ein britisches Sprichwort, das wir immer von unserer Mutter gehört haben: "Don't do what I do, do what I say." Es ist ein bißchen Wahrheit daran.

Ich möchte jetzt etwas über die Beziehungen zwischen Labour Party und SPD im allgemeinen sagen. Warum waren sie so schlecht? Vieles deutete darauf hin, daß sie nicht gestört sein würden; denn die Startbedingungen waren nicht schlecht. Warum war das Interesse der SPD an der Labour Party - nach 1945 war die Labour Party die bestimmende Partei - wie an anderen westeuropäischen Parteien so gering? Aber auch auf seiten der Labour-Führung war die Haltung gegenüber Deutschland und der SPD negativ. So verhielt sich Ernest Bevin, der Minister mit dem meisten Einfluß auf die Deutschlandpolitik der Partei, ausgesprochen feindlich gegenüber Deutschland und der SPD. Ich zitiere aus dem bekannten zweiten Band von Alan Bullock über Bevin: "It was widely believed in Germany during the occupation that the Labour government" - dies wurde sehr oft von Adenauer gesagt - "favoured and had strong links with the Social Democratic Party. Whatever may have been true of other ministers, this was certainly not true of Bevin. He regarded the Christian Democrats with suspicion as reactionaries,[...] but on the testimony of Morgan Phillips, the Secretary of the Labour Party and Chairman of the Socialist International, as well as of General Robertson, "Bevin was equally critical of the SPD. Towards the Austrian Social Democrats he was friendly and helpful, but he regarded the German Social Democrats as having let him and other of the socialists down in 1914 and after the First World War. This Reproach was strengthened by strongly nationalist line taken by the Socialist leader, Kurt Schumacher, in attacking the Occupying Powers."

Premierminister Clement Attlee hielt sich zwar mit seiner Meinung zurück. Er hielt sich in den meisten Fragen mit seiner Meinung zurück, das war seine Stärke. Aber sämtliche Interviews, die ich durchgeführt habe, deuten darauf hin, daß er im großen und ganzen Bevins Meinung teilte.

Hugh Dalton, ein wichtiges Mitglied des Internationalen Unterausschusses, war der unversöhnlichste und erbittertste Kritiker Deutschlands. Diese feindliche Haltung gegenüber Deutschland war nach Ansicht meiner Gesprächspartner generationsbedingt und viel stärker bei denjenigen, die den Ersten Weltkrieg miterlebt hatten. Das Pech der SPD war, daß viele Schlüsselpositionen in dieser Zeit von Mitgliedern dieser Generation eingenommen wurden. Als dann der

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Generationswechsel stattfand, war Labour nicht mehr an der Macht und Schumacher tot.

Dieser Mangel an Verständnis innerhalb der Labour-Führung für Deutschland und die SPD spiegelte sich jedoch nicht in der gleichen Stärke in der Parlamentsfraktion wider. Am l. April 1946 schrieb die Fraktion dem National Executive Committee (NEC), dem Vorstand, um diesem Gremium zu ermöglichen, innerhalb der Partei das Interesse für die aktuellen Probleme Deutschlands zu fördern. Das NEC antwortete, daß es schon eine Einladung in die Wege geleitet und außerdem Ermutigungs- und Unterstützungsgrüße an die SPD geschickt habe. Zusätzliche Maßnahmen kamen nicht zustande, was die Fraktion offensichtlich nicht störte. Jedenfalls kann man in den Akten weitere Nachfragen nicht finden. Die Fraktion war nicht feindlich eingestellt, aber das Interesse an der SPD fehlte einfach.

Eine letzte Erklärung für die Spannung zwischen der Labour Party und der SPD in dieser Zeit beruht auf Labours Einschätzung der SPD-Führung, im besonderen Schumachers. In den Akten des Internationalen Unterausschusses stand 1948 über die SPD-Führung: "Its", d.h. also der SPD, "present leadership is poor". Nichts mehr. Etwas lapidar.

Eine Erklärung, die nur die Person Schumachers in Betracht zieht, sollte jedoch mit Vorsicht behandelt werden. Natürlich stimmt es, daß Schumachers etwas aggressiver Umgangsstil ein erheblicher Nachteil beim Aufbau der Beziehungen mit anderen Parteien war. Es ist vielleicht gut, daß Attlee ihn nicht persönlich getroffen hat. Außerdem unterschätzte Schumacher völlig das Bedürfnis anderer europäischer Staaten nach Sicherheit. Bevin formulierte einmal: "If we had to define in a single word our aims with regard to Germany, security would be this word." Das hat Schumacher nicht verstanden. In diesem Sinne war er ein Nationalist, möchte ich sagen, daß er die Bedürfnisse anderer Staaten eigentlich nicht begreifen konnte, nicht begreifen wollte. Dennoch stammten die Schwierigkeiten zwischen Labour und der SPD aus der Zeit vor Schumacher.

Richtig ist, daß sich die Beziehungen zwischen den beiden Parteien nach Schumachers Tod verbesserten. Diese Annäherung ist aber auch auf den Machtverlust der Labour Party im Jahre zuvor zurückzuführen. Somit erfüllte sich die etwas taktlose Prophezeiung Schumachers von 1950. Danach hat die Labour Party mehr Zeit für die SPD gehabt, aber sie war nicht glücklich damit, daß ein Machtverlust Labours der Partei mehr Zeit geben würde, sich um ihr Verhältnis zur SPD zu kümmern. Wenn sie nämlich nicht regieren, legen alle sozi-

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aldemokratischen Parteien zwangsläufig mehr Wert auf zwischenparteiliche Beziehungen. Gerade das könnten wir vielleicht erleben, wenn Tony Blair, wie allgemein erwartet, vor allem auf der konservativen Seite, in absehbarer Zeit Premierminister wird. Obwohl er der erste Labour-Führer ist, der sich gut mit der Bezeichnung Sozialdemokrat fühlt, und obwohl die Labour Party während des Parteitages zum erstenmal deutsche Fassungen seiner Rede verteilt hat, werden wir erleben, daß er, wenn er Premierminister wird, wohl nicht mehr so viel Zeit für zwischenparteiliche Beziehungen haben wird.

Bernd Faulenbach

Vielen Dank für diesen sehr humorvollen Vortrag, der uns schon gleich bis in die Gegenwart geführt hat. Ich möchte dennoch die Diskussion gern insofern ein klein wenig strukturieren, als wir zunächst einmal Schumacher in seiner Zeit aufsuchen, dort einige Fragen zu klären versuchen und dann erst in einem zweiten Schritt über die Folgen und, wenn man so will, die Gegenwartsbedeutung dessen, was wir hier diskutiert haben, sprechen.

Folgende Punkte könnten wir hier diskutieren: einmal Schumacher auf der internationalen Ebene, die Bedingungen deutschen Handelns; das zweite ist die Deutschlandpolitik. Wo liegt in der Deutschlandpolitik denn genau der Dissens zu Adenauer? Und drittens sollten wir noch einmal die Polarität Mensch und Staatsmann miteinander besprechen.

Susanne Miller

Ich will erst einmal reden über das Verhältnis zur Labour Party. Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Kurt Schumacher, die er in einem privaten Kreis gemacht hat. Ich hörte, wie er sagte: "Die Labour Party ist meine teuerste Liebschaft gewesen." Ich glaube, das hat einen tieferen Sinn. Er hat es etwas flapsig gesagt, wie er das so in seiner Ironie sagen konnte, aber es zeigte doch diese Doppelbödigkeit:

Einerseits fühlte er sich verpflichtet, mit der Labour Party ein gutes Verhältnis zu haben, auf der anderen Seite fiel ihm dies aber sehr schwer.

In den Memoiren von Denis Healey, dem außenpolitischen Sekretär der Labour Party, steht, daß sein Auftrag war, "to keep the SPD on its feet". Dann schreibt er über Schumacher, wobei hervorzuheben ist, daß jede Bemerkung, die er über ihn macht, falsch ist, nicht bösartig, sondern einfach falsch. Er schreibt zum Beispiel, daß Schumacher

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seinen rechten Arm im KZ verloren hat. Er hätte ruhig schreiben können, er hat ihn im Ersten Weltkrieg verloren, wo er Freiwilliger war. So ist jede Bemerkung über Schumacher unpräzise. Ich glaube auch, was Sie gesagt haben, Herr Paterson: Es gab eigentlich bei Labour einen Mangel an Kenntnis, einen Mangel an Interesse für die deutsche Sozialdemokratie.

Ich bin Herrn Schwarz sehr dankbar, daß er zunächst über die Persönlichkeit Schumachers gesprochen hat und wie er dessen Persönlichkeit dargestellt hat; denn ich glaube, zu dem, was er politisch über Schumacher sagt, ist es wichtig, diese Persönlichkeit mit im Auge zu haben. Wenn ich mich frage, was die größte Neuerung war, die Schumacher in die Sozialdemokratie gebracht hat, dann war es seine eigene Persönlichkeit. Mit keiner anderen Persönlichkeit in der Führung der SPD war er vergleichbar, auch nicht mit August Bebel. Er war völlig anders als Bebel, dem Herkommen nach, dem Temperament nach, dem Lebensstil nach.

Herr Schwarz hat gesagt, Schumacher sei gescheitert. Ich glaube, er ist in dem gescheitert, was er selber zu seinen Lebzeiten erreichen wollte. Das ist gar keine Frage, damit ist er gescheitert. Aber es war doch mit sein Werk und vielleicht in erster Linie sein Werk, eine Partei aufgebaut zu haben, die einen ganz großen Beitrag in den folgenden Jahren geleistet hat, daß er fähig war, auch Menschen heranzuziehen, die diese Partei, die die Politik in Deutschland, die Politik in Europa gestaltet haben. Das geht doch auf die Attraktivität Schumachers zurück. Es beruhte auf seiner Konzeption, daß diese Partei einen großen Auftrag in Deutschland und in der Geschichte hat. Insofern möchte ich Schumacher nicht als einen in der Geschichte Gescheiterten sehen, sondern als jemanden, der Grundlagen gelegt hat, die später von Bedeutung waren und eine geschichtliche Leistung darstellten.

Bernd Faulenbach

Mensch und Staatsmann, so heißt die Formulierung des Themas unseres Podiums. Herr Schwarz hat sehr stark die Besonderheit der Persönlichkeit hervorgehoben, aber zugleich auch bestimmte Grenzen dieser Persönlichkeit markiert. Er hat gesagt, der Begriff Staatsmann paßt eigentlich nicht. Das würde ich gerne noch einmal Peter Brandt fragen: Ist Schumacher eher so etwas wie ein Volkstribun als ein Staatsmann gewesen oder, anders formuliert, wenn er tatsächlich Bundeskanzler geworden wäre, wie hätte er sich in diese Rolle gefunden, paßte die Rolle auf die Persönlichkeit Schumachers? Wäre

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er ein Staatsmann geworden und übrigens, wäre die Entwicklung dann ganz, ganz anders verlaufen? Das ist natürlich eine dieser kontrafaktischen Fragen, die eigentlich illegitim sind, aber dennoch intellektuell immer ganz reizvoll.

Peter Brandt

Zunächst muß man unterstreichen, daß Schumacher nicht die Möglichkeit hatte, Staatsmann zu sein. Ich habe selber verschiedentlich den Ausdruck Volkstribun gebraucht, weil mir das naheliegend schien aufgrund der Wirkung, die er ausübte. Auffällig ist, daß Schumacher auf der einen Seite eine ungeheuere Wirkung auf die Menschen ausübte, und zwar nicht nur auf solche, die aus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung kamen, sondern auch auf andere. Er hat tatsächlich verstanden, auf einen gewissen Teil auch der nicht-sozialdemokratischen Bereiche einzuwirken. Auf der anderen Seite ist ganz offensichtlich, was schon mehrfach betont wurde, daß Adenauer und andere nicht nur die Tendenz der Entwicklung in den internationalen Beziehungen, sondern auch die psychologische Situation des deutschen Volkes realistischer eingeschätzt haben. Dieser Unterschied ist deutlich; insofern war Schumacher der Tribun einer, wenn auch großen, Minderheit der Deutschen.

Es ist in der Tat sehr schwierig zu sagen, was gewesen wäre, wenn. Ich vermute aber, daß in Schumacher noch anderes steckte. Wenn man sich ansieht, wie Schumacher seine Rolle als Oppositionspolitiker wahrgenommen hat und wie ernst er sie genommen hat, insbesondere die berühmte Auseinandersetzung mit Adenauer in Reaktion auf dessen Regierungserklärung, so kann man sich durchaus vorstellen, daß im Staatsamt tatsächlich bei ihm die polemischen Volkstribunenseiten zurückgetreten wären. Ich muß allerdings konzedieren, daß es zunächst einmal schwerfällt, sich das vorzustellen, weil wir ihn alle als einen in seinem Auftreten wenig gouvernementalen, vielfach unerbittlich wirkenden, in seinem Wollen undingten Parteiführer kennen und weil seine historische Wirkung ja gerade auf dem Ausfüllen dieser Rolle beruhte. Er hat in der Tat, angefangen von seinem politischen Engagement in der Weimarer Republik, nie ein Staatsamt bekleidet. Er war auch nicht Stadtverordneter, Stadtrat oder irgend so etwas. Er war Parlamentarier, Journalist, Agitator, und darin lagen seine Stärken, so daß er sicherlich viel zu tun gehabt hätte, um in eine staatsmännische Aufgabe hineinzuwachsen. Ich vermute aber, daß, gerade aufgrund seiner großen Disziplin und Selbstdisziplin, bei ihm einiges an Möglichkeiten verborgen war.

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Wenn ich an dieser Stelle noch einmal an sein Verhältnis zum Ausland anknüpfen darf, so würde ich zwei Aspekte hervorheben:

Zum einen hatten die Siegermächte ein Sicherheitsbedürfnis gegenüber Deutschland, waren darüber hinaus aber auch versucht, jedes nationale Interesse - Schumacher hätte gesagt: jedes national-egoistische Interesse - als legitim gegenüber Deutschland anzusehen.

Aber es gab darüber hinaus auch in den kleinen Ländern eine ganz handgreifliche Sorge, was mit Deutschland werde. Schumacher war ja nicht nur in England, er war beispielsweise auch in Nordeuropa. Von dort gibt es Briefe von Leuten, die ganz wohlwollend waren und dennoch den Kopf schüttelten und sagten: Wir sind ja bereit, manches zu konzedieren, aber nicht diese Schroffheit und diesen Mangel an Bereitschaft, der psychologischen Situation in einem kleinen überfallenen Land entgegenzukommen. Das ist dort sehr stark aufgestoßen. Ich habe den Eindruck, daß Schumacher diese zweite Ebene, jedenfalls nach außen, in seinen Überlegungen weitgehend ausgeblendet hat.

Bernd Faulenbach

Hier war Schumacher doch sehr national oder in seinem Blickwinkel und in seinem Agieren sehr auf den binnendeutschen Raum beschränkt. Herr Schwarz, können Sie sich Schumacher als Bundeskanzler vorstellen, und hätte eine Kanzlerschaft Schumachers international zu erheblichen Problemen geführt? Oder nehmen Sie an, daß Schumacher, ebenso wie er die Oppositionsrolle angenommen und sich auch verändert hat, sich auch im Hinblick auf diese andere Rolle möglicherweise gewandelt hätte?

Hans-Peter Schwarz

Es ist ja ein beliebtes Spiel bei Historikern: Was wäre gewesen, wenn. Man kann das vornehm als contrafactual history bezeichnen. Ich lasse mich einmal darauf ein, wobei ich wie Herr Brandt sagen möchte: Im Grunde ist das problematisch. Wie haben sich Adenauer und Schumacher in den Jahren 1947 bis 1949, als man schon etwas genauer sah, wohin der Hase lief, gerade bei den Westmächten, verhalten? Sie waren beide eigentlich sehr kritisch gegenüber den Besatzungsmächten. Es gibt eine ganze Reihe scharfer kritischer Äußerungen über Adenauer, der ja bekanntlich die Frankfurter Entschließung erst abgelehnt hat, bevor ihm Carl Joachim Friedrich und andere klarmachen mußten, daß er sich damit verrannt hatte. Die Engländer hat

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ten geplant, ihn nach London einzuladen, haben das dann wieder abgesagt, weil er sich so ungeschützt geäußert hatte.

Bei Schumacher finden wir eine etwas stärkere Überzogenheit, wobei ich sehr dazu neige, diese doch auf die Krankheit zurückzuführen. Er lag ja teilweise in der entscheidenden Phase 1948 monatelang in Hannover im Krankenhaus. Wenn man krank ist und sich im Grunde nur als Krüppel durch die Welt bewegen kann, dann schafft das eine gewisse Bezogenheit auf sich selbst, auf den unmittelbaren Umkreis. Das muß man, glaube ich, einbeziehen. Ich würde nicht so weit gehen wollen wie Edinger mit seinen psycho-analytischen Überlegungen. Aber daß natürlich die Psychologie, auch was das Ausland betraf, eine Rolle spielte, das ist ganz klar.

Nur, war Adenauer anfänglich sehr viel sensibler? Er war Bundeskanzler. Was machte er? Drei Wochen vor dem Einfall Nord-Koreas nach Süd-Korea - der Korea-Krieg war noch nicht ausgebrochen - lud er der Reihe nach die Hohen Kommissare nach Rhöndorf zu sich ein und sagte: Wir müssen uns verteidigen können. Wollen wir nicht vielleicht eine deutsche Legion auf französischem Boden bilden? Er sprach in einer absolut ungeschützten Art und Weise viel zu früh die Frage der deutschen Wiederbewaffnung an. Ich war selber sehr erstaunt, als ich dies zum erstenmal in dem Tagebuch Herbert Blan-kenhorns fand, das damals noch nicht bekannt war. Hätten die Sozialdemokraten das im August, November oder Dezember 1950 gewußt, wäre Adenauer in der Luft zerrissen worden und hätte als Bundeskanzler zurücktreten müssen. Er hat deutsche Soldaten angeboten schon vor dem Korea-Krieg. Inzwischen wissen wir, wie Harry S. Truman darauf reagierte: Adenauer ist verrückt geworden! Dean Acheson war sehr kritisch, Truman sehr kritisch, ähnlich wie Ernest Bevin und wie Clement Attlee.

Was machte Adenauer im Frühjahr 1950? Er fuhr nach Berlin und ließ im Titania-Palast in Gegenwart der drei Stadtkommandanten, ohne Ankündigung dessen, was er vorhatte, die dritte Strophe des Deutschlandliedes singen. Die meisten konnten nur die erste Strophe. Großer, großer internationaler Skandal.

Nach meinem Dafürhalten hat es auch bei Adenauer eineinhalb Jahre gedauert, bis er im einzelnen sah, was möglich war, was nicht möglich war, was man sagen durfte, was man nicht sagen durfte. Erst ab Frühjahr 1951 war er ja ständig bei den multilateralen westlichen Konferenzen zugegen. Erst dann wußte er einigermaßen, wie das da zugeht. Und nun kann man natürlich sagen, Schumacher hätte wahrscheinlich etwas länger gebraucht als Adenauer, so wie seine

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Persönlichkeitsstruktur geschaffen war. Entweder wäre er innenpolitisch und außenpolitisch völlig gescheitert, oder er hätte gelernt.

Ich will nur auf zwei Beispiele dafür hinweisen, daß Menschen lernen können. Ronald Reagan kam als ein radikaler Anti-Kommunist in die Präsidentschaft. Erinnern Sie sich an die ersten zwei, drei Jahre, und sehen Sie sich dann die Amtszeit von 1984/85 bis 1989 an, da lief dieser Anti-Kommunist in die zweite große Entspannungszeit hinein, bereitete also den Weg für George Bush - ein völlig veränderter Mensch aufgrund von Lernfähigkeit.

Oder nehmen Sie einen Mann wie Menachem Begin! Was hat man uns alles erzählt, was passieren würde in Israel, wenn Begin mit seiner Partei an die Macht kommen würde. Was passierte? Begin schloß schließlich mit den Ägyptern das Abkommen im Camp David. Insofern also würde ich sagen, contrafactual history ist doch manchmal ganz nützlich; denn es zeigt sich, daß Leute lernen können. Aber ich wiederhole noch einmal, ich glaube, Schumacher hätte es aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur, seiner Ideologie, seines ausgeprägten Antikapitalismus sehr viel schwerer gehabt, sich als Bundeskanzler anzupassen, als Adenauer.

Bernd Faulenbach

Herr Paterson, ich habe Sie so verstanden, daß in jedem Fall die Bedingungen praktisch für jeden deutschen Politiker außerordentlich schwierig gewesen wären. Zu berücksichtigen waren das Erbe, die Folgen des Krieges, auch die Tatsache, welche Generation in den verschiedenen Ländern regierte. War es also nicht eigentlich das Fehlverhalten Schumachers, sondern mindestens in gleicher Weise die Tatsache, daß Schumacher keine Partner gefunden hat, mit denen er kooperieren konnte, auch auf europäischer Ebene? Kann man die Schwierigkeiten gleichgewichtig auf beiden Seiten verbuchen?

William Paterson

Sicher hat Schumacher bei Labour nicht den Partner gefunden, den er vielleicht erhofft haben mag. Aber er hat auch selbst dazu beigetragen, darüber kann kein Zweifel sein. Wenn er Bundeskanzler geworden wäre, könnte man, wie Herr Schwarz gesagt hat, unmöglich sicher sein, wie er sich dann entwickelt hätte. Seine größten Schwierigkeiten, glaube ich, hätte er mit den Amerikanern gehabt.

Aber wie hätten die Briten reagiert? Wir hätten uns damit abgefunden. Das ist unsere Art. Wir haben Adenauer gefeuert, aber 1949

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war er der Bundeskanzler, und dann hatten wir die Gemeinsamkeit. Aber Sie haben die Schwierigkeiten und die Erwartungen betont, vor allem auf dem Gebiet der Europapolitik. Aber die Gemeinsamkeiten mit Britannien, vor allem nach 1946, lagen im Antikommunismus. Der machte die Lage eines deutschen Bundeskanzlers leichter. Ich möchte die Schwierigkeiten nicht so überbetonen. Der Antikommunismus, den damals alle geteilt haben, wäre ein gewisser Zement gewesen.

Bernd Faulenbach

Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Schumacher derjenige gewesen ist, der die Magnettheorie entwickelt hat, der auch eine klare Westoption vertreten hat, so fragt man sich doch, was die Momente sind, die zu der scharfen deutschlandpolitischen Entgegensetzung zwischen beiden Parteien - zwischen SPD und CDU - geführt haben. Sind sie zum Teil überdramatisiert worden? Wo liegen, Susanne Miller, die eigentlichen Unterschiede in der Deutschlandpolitik, die am Anfang doch nicht so sehr entwickelt gewesen zu sein scheinen?

Susanne Miller

Ich glaube, sie liegen auch im Persönlichen. Ich habe den Eindruck, Schumacher und Adenauer mochten einander nicht leiden, und das ist auch ein Faktor in der Politik, der sehr wichtig ist. Aber es wäre natürlich viel zu oberflächlich, das nur auf diese persönliche Abneigung, die gegenseitig war, zurückzuführen. Ich glaube, bei Schumacher war es hauptsächlich der Verdacht, daß Adenauer es mit der Vereinigung Deutschlands nicht ernst meinte. Es war ein einflußreiches Gerücht, daß 1918/19 Adenauer ein Separatist gewesen war und das Rheinland hatte abtrennen wollen. Es ist jedoch historisch belegt, daß das nicht stimmt. Aber ich weiß selber - ich habe lange in Köln gelebt -, daß das unter Kölner Sozialdemokraten immer gemunkelt wurde. Und auch ein Gerücht ist eine Tatsache. Ich glaube, bei Schumacher war immer der Verdacht, daß Adenauer ein rheinischer katholischer Politiker war, dem es eigentlich gar nicht am Herzen lag, das preußisch-protestantische Ostdeutschland mit dem Westen zu vereinigen. Das ist auch eine der Ursachen dieser Spannungen. Und wenn man erst einmal ein solches Urteil über einen Menschen hat, der einem auch aus anderen Gründen persönlich nicht sympathisch ist, dann kommen diese Schärfen in die Politik hinein, die das Klima nach 1945 und besonders nach 1949 in Deutschland, in der Bundesrepu

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blik, ziemlich vergiftet haben. Ich habe den Eindruck, daß diese Spannung, die zwischen Adenauer und Schumacher geherrscht hat, die Entwicklung einer politischen Kultur in der Bundesrepublik behindert hat.

Es ist nicht besonders fruchtbar, in diesem Zusammenhang auf Einzelheiten der Unterschiede einzugehen, denn es war die große Linie, die die beiden getrennt hat, für Schumacher die absolute Priorität der Vereinigung, für Adenauer die Wichtigkeit, im westlichen Bündnis mit integriert zu werden als Regierungschef der Bundesrepublik. Da kam es nachher nicht mehr so auf Einzelheiten an.

Natürlich war dann ein fundamentaler Gegensatz - aber vielleicht war er gar nicht so fundamental - die Aufrüstung, das Angebot Adenauers für diese Aufrüstung.

Schumachers Einwände gegen die Aufrüstung waren vor allem nationaler Natur. Zum einen sah er in der Aufrüstung eine Behinderung der Wiedervereinigung, zum anderen, was auch ganz wichtig war, vermißte er die Gleichberechtigung der Bundsrepublik in einem Militärbündnis.

Diese beiden Punkte, die Priorität der Wiedervereinigung und die Forderung der Gleichberechtigung, waren für Schumacher unabdingbar, und da hatte er gegenüber Adenauer berechtigt oder unberechtigt den Verdacht, daß sein Kontrahent diese beiden Gesichtspunkte nicht ernst genug nahm oder vielleicht sogar mehr oder weniger ignorierte.

Bernd Faulenbach

Herr Schwarz, was sagt der Adenauer-Biograph, wo lag der entscheidende Unterschied zwischen Schumacher und Adenauer? Können wir von einem Prozeß sprechen, in dem sich ein Dissens allmählich zu einem Antagonismus - jedenfalls war so der öffentliche Eindruck - entwickelt hat?

Hans Peter Schwarz

Ich sehe es in manchem sehr ähnlich wie Frau Miller. Ich möchte nur analytisch zwischen drei Bereichen unterschieden sehen. Das erste ist das allgemeine Verhältnis zu den Westmächten, da geht es um die Demontagefrage, da geht es um die Frage des Beitritts zum Europarat, die heillose Saar-Frage, es geht um die Montan-Union, die Schumacher für ein großes Kartell hielt und Adenauer für einen wenig schlauen oder gewissenlosen Menschen, der sich darauf einließ. Die große Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung Adenauer

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und Schumacher begann ja 1949/50, da standen noch nicht die innerdeutschen Beziehungen im Vordergrund, sondern es ging erst einmal um die Grundanlage der West-Politik. Und hier kann man natürlich sagen: Psychologie war nicht gerade die Stärke Schumachers, sondern eher Adenauers, d.h. der Bundeskanzler wußte besser, wie man da vorging. Schon hier gab es eine heftige Auseinandersetzung.

Dann kommt die Aufrüstungsfrage. Hier teile ich die Einschätzung von Frau Miller: Schumacher war kein Pazifist, aber ein Mann, der Frieden halten wollte - nebenbei gesagt, Adenauer ja auch. Er wollte auch nicht Krieg führen gegen Osten, sondern fürchtete im Jahre 1950 einen Überfall der Nationalen Volksarmee nach Analogie des Einmarschs der Nordkoreaner. Das läßt sich wirklich nachweisen. Während dann seit Herbst 1950 die deutsche Wiederbewaffnung diplomatisch mit den deutschlandpolitischen Zielvorstellungen verflochten gewesen ist, war bei Adenauer anfänglich die Russenfurcht oder Volkspolizeifurcht das Hauptmotiv. Das läßt sich nachweisen.

Schumacher hat Gespräche - wir wissen das aus den amerikanischen und britischen Akten - mit den Verbindungsoffizieren nicht negativ eingeschätzt. Seine Position war allerdings, die Alliierten müßten eine Vorwärtsverteidigung betreiben, sie müßten stärker sein als die Rote Armee. Wir kennen seine Sprüche, der Krieg müsse an Oder und Weichsel geführt werden. Jedenfalls wollte er, daß die Siebte Armee, die aufgebaut worden ist, sehr rasch in die Bundesrepublik verlegt wurde. Er wollte den Schutz der Amerikaner und der Briten, eventuell eine deutsche Aufrüstung unter der Bedingung, wie Frau Miller sagt, der Gleichberechtigung der Deutschen. Das ist ein Punkt, der in etwa erreicht war im Frühjahr 1951, als sich zeitweilig eine gewisse Übereinstimmung abzeichnete zwischen Adenauer und Schumacher.

Dann schlug im Herbst 1950 die pazifistische Stimmung durch. Das begann nicht mit Schumacher, aber teilweise in der SPD schon, noch stärker in der Evangelischen Kirche. Und hier, würde ich sagen, war Schumacher Taktiker und stellte die Grundsatzfrage zurück. Er war Oppositionspolitiker, also mußte er nicht Entscheidungen treffen, die die Bundesregierung treffen mußte, und sagte: Gut, erst Gleichberechtigung und starke Kräfte der Westmächte hier, und dann sehen wir weiter. Das heißt, er hielt sich taktisch zurück oder griff selber oder durch andere sogar taktisch die Bundesregierung an.

Der dritte Punkt war die Deutschlandpolitik. Das begann schon im Jahre 1951 mit der Entschließung des Deutschen Bundestages über

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ein Wahlgesetz im Herbst 1951, dann mit den Stalin-Noten vom Frühjahr 1952. Und hier sehe ich, wie die Linien der beiden Politiker auseinanderlaufen. An und für sich haben beide, wenn ich das einmal salopp formulieren darf, als "Kommunistenfresser" begonnen, Adenauer wie Schumacher, und sind das in den ganzen Jahren nach 1945 gewesen bis in die frühen 1950er Jahre hinein. Beide hielten nichts von der DDR-Regierung, beide fürchteten den Einfluß der Ostberliner Parteiführung, Adenauer wie Schumacher, auf die Westzonen oder auf die Bundesrepublik, beide betrieben eine innerdeutsche Abgrenzungspolitik gegenüber der SED und der DDR; hier also kein Unterschied.

Aber dann finden wir im Jahre 1952 bei Schumacher, wenige Monate vor seinem Tod - wie er sich weiterentwickelt hätte, weiß man überhaupt nicht -, die Auffassung: Man muß das doch noch einmal ausloten, was Rußland mit den Stalin-Noten vorschlägt, ohne schon irgendwelche endgültigen Optionen vorzunehmen. Aber Ausloten hieß natürlich aus Sicht Adenauers: Damit ist der Weg zu den Westverträgen blockiert, es kann wieder eine unendliche Konferenzserie daraus entstehen, dann sind die Bundestagswahlen, und immer ist noch nichts geschehen. Bei Schumacher herrschte aus seiner Oppositionssicht, aber auch in Abschätzung der internationalen Gegebenheiten, die Meinung: Erstens, wenn Adenauer mit seinen Westverträgen erst einmal auf der Strecke bleibt, ist das ja aus Sicht der Opposition nichts Schlechtes. Zweitens - und hier würde ich sagen, gilt in der Tat, was Sie gesagt haben, Herr Brandt - wollte er dreierlei, er wollte die Freiheit im Westen erhalten, er wollte die Freiheit in der Ostzone wiedererringen, und er wollte die deutsche Einheit, so daß es aus dieser Grundanlage nahelag zu fragen: Warum probieren wir nicht noch einmal eine internationale Konferenz? Hier liefen also in den innerdeutschen Beziehungen trotz Negativität der beiden gegenüber Ost-Berlin die Dinge auseinander. Man weiß aber nicht, wie Schumacher sich in diesen Fragen weiterentwickelt hätte, da er im August 1952 verstarb.

Susanne Miller

Das Entscheidende war, daß Adenauer und Schumacher einfach als Typen so unglaublich gegensätzlich waren. Ich glaube, es war zum 80. Geburtstag von Adenauer, als er gefragt wurde: Wie standen Sie zu Schumacher? Worauf er nur sagte: Was heißt, wie stand ich, er war mein Gegner. Das charakterisiert dieses Verhältnis. Und hinter dieser Kälte und dieser Spannung verschwinden dann die Einzelheiten. Das

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ist jedenfalls mein Eindruck auch von dieser Gegensätzlichkeit in der Deutschlandpolitik.

Bernd Faulenbach

Doch in der operativen Politik kann man 1950, 1951, aber vor allem 1952 eine Entgegensetzung auch der Positionen deutlich erkennen. Ist gleichwohl das Entscheidende, daß die Herkunft und die Weltbilder dieser beiden Politiker so fundamental unterschiedlich waren, daß hinter den operativen Unterschieden letztlich andere, tiefere Gegensätze, wenn man so will, auch andere Deutschlandkonzepte gesteckt haben, irgendwo auch von der Öffentlichkeit gespürt worden sind?

Peter Brandt

Ganz sicher! Herr Schwarz sagt zu Recht, sowohl Adenauer als auch Schumacher sind als entschiedene Gegner des Kommunismus angetreten und es geblieben. Ich weiß nicht, ob ich mich dem Ausdruck "Kommunistenfresser" anschließen würde, aber wichtig ist vor allem, daß dieser Antikommunismus der beiden Politiker einen gesellschaftspolitisch unterschiedlichen Charakter hatte. Ich glaube, man wird Schumacher nicht gerecht, wenn man nicht immer unterstreicht, daß seine Position sowohl gegenüber dem Kommunismus als auch in der nationalen Frage für ihn nicht einfach nur lose verbunden war mit der gesellschaftspolitischen Neuordnungsprogrammatik, sondern daß das für ihn eine konzeptionelle Einheit war. Natürlich kann man das weiter zurückverfolgen, kann sagen: Da ist der Westpreuße auf der einen Seite und der Rheinländer auf der anderen Seite, der Protestant und das katholische Bürgertum, und manches andere.

Es gibt die Geschichte, daß Adenauer und Schumacher zusammen in einem britischen Militärflugzeug nach Berlin saßen und die ganze Reise über kein Wort miteinander redeten, was offenbar die englischen Offiziere völlig fassungslos gemacht hat, weil sie sagten: Bei uns würden selbst Leute aus verschiedenen Parteien, die sich nicht ausstehen können, zumindest so tun, als würden sie etwas miteinander scherzen oder so etwas. Das ist doch sehr auffällig und symptomatisch für die eher verklemmte und weniger elegante Art des Umgangs miteinander in Deutschland.

Die Stalin-Noten brauchen wir hier nicht im Detail zu diskutieren, weil es eine eigene Diskussion wäre, ob darin wirklich so viel "Musik" war oder nicht. Aber das ist einer der wenigen Punkte, bei denen man mit absoluter Sicherheit sagen kann: Da hätte Schumacher

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anders operiert als Adenauer. Schumacher hätte gewiß massiv darauf gedrängt und das auch öffentlich gesagt: Dieses muß ausgelotet werden, und zumindest so lange legen wir die vertragliche Westbindung auf Eis. Der Unterschied wird nirgendwo so deutlich wie bei den Stalin-Noten. Eine ganz andere Frage ist, ob dieses Vorgehen erfolgreich gewesen wäre, auch ob Schumacher von sich aus am Ende so konzessionsbereit gewesen wäre, wie nötig, für den Fall, daß ein ernsthaftes sowjetisches Interesse vorhanden gewesen wäre. Ich vermute ferner, Schumacher hätte auf den Aufstand des 17. Juni anders und deutlicher reagiert als sowohl Adenauer als auch sein Nachfolger Ollenhauer, wenn er noch gelebt hätte.

Zwei Vorbehalte gegen die Adenauersche West- und Deutschlandpolitik spielten für ihn eine Rolle, erstens der gesellschaftspolitische und zweitens der nationalpolitische Vorbehalt und dabei insbesondere der Aspekt der Gleichberechtigung. Darüber haben wir ja gesprochen. Im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung ist völlig zu Recht gesagt worden: Diese Schumachersche Position hatte unter anderem auch ein taktisches Element, denn es war ja wichtig für ihn, eine Kontinuität herzustellen vom Schumacherschen Antikommunismus zur Ohne-mich-Stimmung. In der Partei gab es zwei Elemente des Widerstands gegen die Wiederbewaffnung, den pazifistischen und den gesamtdeutschen Vorbehalt. Auch das mußte ja gebündelt werden, und eine solche maximalistische Position wie die Schumachers war eben in dem Punkt nicht ganz ungeschickt oder unzweckmäßig. Ich will damit nicht sagen, daß das Ganze in erster Linie taktisch motiviert war, aber Taktik spielte dabei zweifellos eine Rolle.

Was die Wiedervereinigung betrifft, glaube ich, hat Kollege Kleßmann das genau auf den Punkt gebracht, indem er sagte: Schumacher wollte nicht die Neutralisierung Deutschlands. Aber im Unterschied zu Adenauer hat er gesagt: Wir schließen es nicht unter allen Umständen aus. Das ist, denke ich, die Differenz.

Bernd Faulenbach

Sagen wir, gesellschaftspolitisch und im Hinblick auf das Verfassungssystem keine Neutralität, aber militärisch eine Nichtintegration in das westliche Bündnis, so würde man vielleicht die Schumachersche Position beschreiben können.

Ich würde gerne noch einmal die Diskussion zur internationalen Perspektive hin öffnen. William Paterson, ist die Position, die Schumacher, aber auch sein Nachfolger Erich Ollenhauer im Hinblick auf

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die Deutschlandpolitik einnahmen - wir haben in der Sozialdemokratie der 50er Jahre ja geradezu eine Priorität der Deutschlandpolitik -, ist diese Position in der Labour Party verstanden worden? Labour war dann ja auch recht national bzw. auf sich selbst zurückgeworfen. Oder haben die beiden Parteien völlig aneinander vorbeiargumentiert, Labour und die deutsche Sozialdemokratie?

William Paterson

Ich möchte zuerst eine andere Bemerkung machen und dann antworten. Meiner Meinung nach wäre Adenauer die Rolle des Oppositionsführers vielleicht schwerer gefallen als Schumacher die des Bundeskanzlers, aber das ist eine andere Frage. Ich möchte nicht über die Stalin-Noten reden, aber ich gehe davon aus, daß der Spielraum für eine deutsche Regierung damals besonders eng war. Aber nehmen wir an, daß Schumacher mehr gemacht haben könnte. Letztlich glaube ich aber, daß die Ziele, die er verfolgte, am Ende unvereinbar waren mit denen der Sowjetunion; denn für ihn hatten Demokratie und Freiheit Vorrang.

Haben die SPD und die Labour Party aneinander vorbeigeredet? Ja! Was Schumacher immer unterschätzt hat, war die Lage der Labour Party. Labour war das erste Mal an der Regierung, spielte als Juniorpartner zusammen mit Amerika eine wichtige Rolle in der Weltpolitik und wollte gleichzeitig Großbritannien transformieren. Das hat fast alle Kraft absorbiert. Schumachers Hoffnungen waren zu hoch geschraubt, es war unrealistisch, was er von Labour als Regierungspartei in der damaligen Lage nach 1945 erwartete, ganz zu schweigen von Ressentiments und so weiter. Es war unrealistisch zu erwarten, daß sie so viel Interesse für eine Partei wie die SPD aufbringen würde. Aber Schumacher hat die Labour Party wenigstens noch gehört, denn Schumacher war immer unüberhörbar. Aber in der Frage der deutschen Politik und der damit verbundenen Frage der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sind nach Schumachers Tod die beiden Parteien weiter auseinandergeklafft. Ich glaube, die SPD-Politik ist Mitte der 1950er Jahre ziemlich diffus geworden. Nicht daß die Beziehungen unfreundlich geworden wären, nein, aber die beiden Parteien haben sich eigentlich nicht verstanden. Es hat sich dann in den späten 50er Jahren wieder gebessert, aber in dieser Zeit 1952/53/54 haben SPD und Labour aneinander vorbeigeredet.

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Bernd Faulenbach

Bevor ich zur Schlußrunde komme, in der wir die Fragen der Gegenwartsbedeutung Kurt Schumachers noch einmal thematisieren wollen, würde ich gerne das Plenum einbeziehen, das sich nun zwei Tage lang mit Schumacher auseinandergesetzt hat.

Willy Albrecht

Ich möchte nur kurz zur Frage der Remilitarisierung sprechen. Schumacher teilte sicher nicht die Angst Adenauers vor einem Einmarsch der Volkspolizei. Er nahm direkt dazu Stellung und sagte: Diese Angst brauchen wir nicht zu haben, denn hier stehen Truppen der Siegermächte.

Er hatte aber eine andere Angst, und zwar die, daß während der Aufrüstung Deutschlands die Sowjetunion einmarschieren würde. Und deswegen forderte er immer wieder, daß die Siegermächte - er sprach von der Weltdemokratie - genügend Truppen dort an der Grenze stationierten. Seine Forderungen waren illusionär, er forderte z.B. von den USA, sie könnten ihre Rekrutenausbildung in der Lüneburger Heide machen.

Nun zu einer anderen Frage, die Schumacher dem Verdacht ausgesetzt hat, er wolle einen Revanchekrieg mit einer Entscheidung östlich der Oder und Weichsel. Das hat ihm auch bei Sozialisten des westlichen Auslandes schlimme Kommentare eingebracht. Dazu sagte er dann - da stand er wiederum Adenauer sehr nahe: Nein, gerade wenn die Sowjetunion das fürchten muß, wird sie nicht angreifen und wir natürlich erst recht nicht.

Tilman Fichter

Susi Miller hat darauf aufmerksam gemacht, daß Schumacher wahrscheinlich gedacht hat, daß Adenauer letztlich ein Separatist ist. Ich glaube, das war falsch. Aber es gibt für mich auch nach der Lektüre der Adenauer-Briefe ein noch ungeklärtes Kapitel, und da würde ich gerne nach dem Saar-Statut fragen - der Widerspruch zwischen Deutschland und Frankreich war ja nicht antagonistisch wie der zwischen der Sowjetunion und den Weststaaten. Deshalb ist es mir völlig unverständlich, warum Adenauer, auch teilweise gegen massiven Protest in der Union, bereit gewesen ist, gegenüber Frankreich einen Teil Deutschlands quasi aufzugeben und in einen Nirgendwo-Status zu schicken? Bestätigt nicht doch die Saar-Frage nachträglich Schu

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macher zumindest, sagen wir mal, atmosphärisch, wenigstens partiell in seinem Vorbehalt gegen Adenauer?

Eberhard Kolb

Ich habe einige Bemerkungen: Einmal will ich noch auf den Begriff "Staatsmann" kommen und zum Semantischen bemerken, daß der Begriff "Staatsmann" im 19. Jahrhundert nahezu ein Synonym für Diplomaten und Minister ist. Er war also ganz niedrig angesiedelt. Im Englischen ist es weitgehend, glaube ich, heute noch so geblieben, und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff dann geadelt worden, und Staatsmann war eben nur jemand, der bedeutend war.

Aber es bleibt die Voraussetzung, und Herr Schwarz hat in seiner ersten Intervention das klar und formal bestimmt: Man muß ein Staatsamt haben, um Staatsmann sein oder werden zu können. Das ist die Minimalvoraussetzung. Nicht jeder, der ein Staatsamt hat, wird Staatsmann, aber niemand kann Staatsmann werden, der kein Staatsamt hat. Und insofern stellt sich bei Schumacher die Frage nach dem Staatsmann nicht als eine reale Frage, sondern bestenfalls als eine spekulative. Embryonal können viele Staatsmänner werden, real werden es wenige.

Was Kurt Schumacher angeht, so kann man zu dem Kontra-faktischen, Herr Schwarz, vieles sagen. Viele haben, wenn sie erst in die Verantwortung genommen wurden, sich ganz anders entwickelt. Da kann man das eine und auch das Gegenteil gut begründen.

Ein Problem habe ich aber bei Schumacher im Hinblick auf seinen Lebensentwurf. Er hat kandidiert für das Amt des Bundespräsidenten, und er hat nicht nur das Grundgesetz gelesen, sondern er hat die Verhandlungen, die gerade ein paar Monate zurücklagen, intensiv mitgemacht und wußte, wie die Verfassungsgeber dieses Amt definiert haben wollten, nämlich als ein repräsentatives. Das war klar. Es war sehr deutlich auch der Gegensatz zur Weimarer Verfassung. Das Amt des Präsidenten sollte anders gestaltet werden.

Schumacher kandidierte, und vielleicht sollte es nur eine Symbolhandlung sein. Ich weiß es nicht. Das wissen vielleicht einige der Anwesenden besser. Er kandidierte, und drei Tage später, so etwas hat es ja seither nicht wieder gegeben, drei Tage später kandidierte er für das Amt des Bundeskanzlers, das nun ganz anders angelegt ist und das des gestaltenden Politikers ist, im Gegensatz zu dem repräsentativen Amt des Bundespräsidenten. Hier sehe ich, was den Lebensent-

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wurf Schumachers angeht, ein Problem. Irgend etwas ist doch daran merkwürdig

[Zwischenruf Heinz Westphal ...]

Ja, ja, aber die Verhältnisse waren flüssig, wir wissen, daß es bei Adenauer an einem Härchen gehangen hat, ob er die Stimmen, jedenfalls zunächst, kriegte. Ich sage, vielleicht war es als eine Symbolhandlung gedacht, aber man muß ja auch Symbolhandlungen auf eine klare Zwecksetzung hin abstellen. Ich werfe die Frage nur auf.

Die letzte Bemerkung geht an Herrn Paterson. Was meinen Sie, haben die Labour-Leute in Schumacher mehr den sozialistischen Genossen gesehen oder den Deutschen? Denn so sehr sein stark moralischer Anspruch in Deutschland vielleicht durchaus überzeugen konnte - durch diese Schumachersche Linie war allerdings auch nur ein Teil der Deutschen ansprechbar -, aber insbesondere dem Ausland gegenüber war es doch höchst problematisch, mit diesem Anspruch aufzutreten; denn immerhin hatte man jahrelang erbittert Krieg geführt, und nun kam jemand und dozierte: Jetzt sage ich euch, wie es richtig ist. Ich vermute also, daß die britischen Sozialisten in Schumacher doch primär den Deutschen und nicht den Sozialdemokraten gesehen haben.

Heinrich Potthoff

Schumachers Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten hat wirklich mit seinem Lebensentwurf nichts zu tun, sondern war eine rein taktische Entscheidung, um zu vermeiden, daß Carlo Schmid benannt und mit ihm unter Umständen ein Sozialdemokrat gewählt würde. Auch die andere Kandidatur für das Amt des Bundeskanzlers hat wenig mit Schumachers Lebensentwurf zu tun, sondern mit dem Bestreben, klare Verhältnisse zwischen der Regierung und einer verfassungstreuen Opposition zu schaffen. Das ist das Dominante, das damals signalisiert werden sollte.

Heinz Westphal

Eine Frage bewegt mich ständig bei dieser Diskussion und dem Nebeneinander der Debatte über die deutsche Einheit und die Wiederaufrüstungsfrage, die hier nebeneinander gestellt werden, aber für unsereins eine Einheit des Problems gewesen ist: Gibt es, Herr Schwarz, irgendeine Überlegung oder einen Beleg dafür, daß ein

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Mann wie Adenauer es für möglich gehalten hat, daß dieses Deutschland wiedervereinigt werden könne, wenn die westdeutsche Wiederaufrüstung geschehen sei? Das ging doch nicht. Das war doch völlig klar, daß das die Verhinderung der deutschen Einheit auf Dauer bedeuten würde. Und diese Konsequenz kommt in all den Vorträgen nicht vor. Das erstaunt mich. Aber für uns war es eine Lebensfrage.

Bernd Faulenbach

Gut, wir haben vier Fragen. Zunächst die Frage nach dem Saar-Statut und seiner Bedeutung. Gibt Adenauers Agieren im Hinblick auf das Saar-Statut, die Saar-Frage, nicht im Grunde genommen Schumacher Recht, Herr Schwarz?

Hans-Peter Schwarz

Wenn man sich die Äußerungen Schumachers und Adenauers im Jahre 1947 und 1948 ansieht, als die französische Saar-Politik sich abzuzeichnen begann, so waren sie fast deckungsgleich: absolute Ablehnung mit den bekannten Argumenten völkerrechtlicher Art, Selbstbestimmungsrecht usw. usw., deutscher Friedensvertrag.

Das lief noch ähnlich im Jahre 1949 bis Anfang 1950. Dann erfuhr Adenauer, daß die amerikanische und die britische Diplomatie schon im Jahre 1947 den Franzosen in Aussicht gestellt hatten: Wenn ihr einverstanden seid mit der Schaffung der Bizone, eventuell Trizone, erhält Frankreich erhebliche Kohlenlieferungen aus den Westzonen, und in der Saar-Frage werden wir uns bei Friedensvertragsverhandlungen verständnisvoll zeigen für die französischen Wünsche, unter anderem deshalb, weil ja auch wieder die Saarkohle mit im Spiele war. Das war also eine Grundgegebenheit, wie sie Adenauer bekannt wurde.

Dann kamen die Schwierigkeiten der Jahre 1950, 1951 und 1952 mit Paris in der Frage der Westverträge, der Wiederbewaffnung, des Generalvertrages und auf anderen Feldern mehr. Mir stellt es sich so dar, als ob Adenauer in den Jahren 1951-1954 die Saar-Frage als zweitrangiges Problem betrachtet hat, verglichen mit dem umfassenden Ziel, zu einem Gesamtarrangement mit dem Westen, auch mit Frankreich, zu kommen. Es folgten dann - das läßt sich ja überall nachlesen - die Bemühungen, hier irgendwelche Kompromisse zu schließen, bis hin zu den letzten Verhandlungen mit Pierre Mendès-France im Winter 1955, die dazu führten, daß Adenauer sagte: Na gut, die Sache soll bis zum Friedensvertrag aufgeschoben werden, aber die

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Saarländer müssen frei entscheiden können. Dabei hielt er es innerlich eigentlich schon für wahrscheinlich - genau weiß man das nie - oder für möglich, daß es vielleicht zu dieser Regelung komme, daß zugleich aber auch eine verständnisvollere Saar-Regierung als die Regierung Hoffmann gewählt werde, und dann mochte man weitersehen.

Daß das dann anders zustande kam, daß Adenauer sich in der letzten Phase der Abstimmung sogar gegen die Heimatbund-Parteien wandte, das ist alles bekannt. Es lassen sich verschiedene Zeugnisse für beide Positionen beibringen. Dem einen sagt er: Ja, ich rechne damit, daß es abgelehnt wird. Zu anderen sagt er, teils intern, teils in der Öffentlichkeit: Nein, ich halte es für besser, wenn das Statut angenommen wird. So unklar ist die Sache jedenfalls aus meiner Sicht.

Ich würde sagen, man kann aber aus diesem Verhalten in der Saar-Frage noch keine Schlußfolgerungen ziehen für die Anlage der Politik gegenüber der Ostzone/DDR, denn Adenauer hielt ja auch in der Saar-Frage daran fest, daß eine endgültige Regelung nur möglich sei in einem Friedensvertrag. Das blieb auch so.

Nun zur zweiten Frage, die von Ihnen gestellt worden ist, Herr Westphal, nach Adenauers Wiedervereinigungsvorstellungen. Machte es eigentlich Sinn, daß er sagte, er wolle die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit, und sich gleichzeitig für die Wiederbewaffnung einsetzte? Auch ich glaube, daß er in der Wiedervereinigung zumeist nur ein Fernziel gesehen hat. Verschiedene Äußerungen schon aus den Jahren 1951 und 1952 beweisen das. Des öfteren wurde er von alliierten Diplomaten oder Journalisten gefragt:

Herr Bundeskanzler, wie stellen Sie sich denn nun tatsächlich die Wiedervereinigung vor? In solchen Gesprächen nannte er eine Reihe von Gesichtspunkten, die er in den öffentlichen Diskussionen wenig ansprach, etwa: Ist wirklich damit zu rechnen, daß die Sowjetunion einer Deutschland-Regelung zustimmt und daß sie dann erwarten kann, daß Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn weiter kommunistisch bleiben? Ein neutralisiertes Deutschland strahlt doch aus. Und daher Adenauers Meinung, eine Regelung sei wohl nur möglich als Globalregelung für den ganzen mittel- und ostmitteleuropäischen Bereich.

Dann fragte er: Wie soll eine solche Globalregelung aussehen? Da sagte er - der Begriff wurde bei ihm schon 1951/52 verwandt: Das kann nur in einer Phase ostwestlicher Entspannung erfolgen, wenn die nicht mehr voreinander Angst haben. Wann haben sie nicht mehr

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voreinander Angst? - Das alles findet sich in den Teegesprächen, die wir schon veröffentlicht haben. - Wann haben sie nicht mehr voreinander Angst? Wenn die Sowjets erkennen: Sie können diplomatisch nicht weiter vorstoßen, sie sind zu schwach, diese Völker unter Kontrolle zu halten usw. usw., und bis dort ist die Schaffung einer starken Position im Westen nötig.

Ich würde also mit Ihnen sagen, Herr Brandt, der Unterschied besteht in der Tat darin, daß Adenauer in den Jahren 1951/52 folgende strikt dagegen war, sich auf Verhandlungen einzulassen, die irgendwie zu einer Neutralisierung eines wiedervereinigten Deutschland führen könnten, weil er fürchtete, so wie die Gegebenheiten waren, Amerika würde sich möglicherweise zurückziehen, die Stärke Rußlands hielte aber dieses wiedervereinigte Deutschland nicht aus, dieses rutschte also in den östlichen Einflußbereich. Das ist ganz eindeutig. Und hier ist in der Tat ein Gegensatz, glaube ich, zu Schumacher, der sagte: Man soll das einmal versuchen, es könnte doch klappen. Also ich würde den Akzent eigentlich sehr ähnlich legen. Aber die Wiederbewaffnung selber, das war Adenauer völlig klar, würde genausowenig wie die Westverträge und die Westintegration in den ersten Jahren danach eine erfolgreiche Wiedervereinigungspolitik erlauben.

Ein dritter Punkt ganz kurz. Warum hat Theodor Heuss kandidiert? Die Wahl des Bundespräsidenten lag vor der Wahl des Bundeskanzlers. Es war auch Schumacher schon bekannt, nach allem, was ich jedenfalls zu wissen glaube, daß Adenauer ein Paket geschnürt hatte: Der FDP-Vorsitzende wird Bundespräsident, und die CDU bekommt den Bundeskanzler.

Wenn man dieses Kalkül der Gegenseite durchkreuzen wollte, dann wäre es klug gewesen, von Schumachers Seite aus die Kandidatur Carlo Schmids zuzulassen oder die Jakob Kaisers, jedenfalls nicht die künftige Koalition zusammenzuzwingen durch eine Kampfkandidatur Schumachers, die überhaupt keine Mehrheit erhalten konnte. Wenn es eine rationale Entscheidung war, dann kann man daraus eigentlich nur den Schluß ziehen, daß Schumacher sich schon darauf eingestellt hatte, eine starke Opposition im Bund zu machen, daß er auch die Bemühungen der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Lüdemann und Stock durchkreuzen wollte, eventuell doch eine große Koalition in Bonn zu schmieden. Wenn das wirklich ein rationales Kalkül gewesen ist, was man eigentlich bei einem erfahrenen Politiker, wie er es gewesen ist, unterstellen darf. Insofern macht das ganze von der Grundanlage her sowohl von der Taktik her wie

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von der Überlegung Sinn: Wir zwingen diese heterogene Koalition erst einmal in die Regierung, in der Regierung nutzt sie sich innerhalb eines oder zweier Jahre international, wirtschaftspolitisch und sonstwie ab, und dann übernehmen wir die Regierung in einer neuen Koalition oder nach Wahlen. Das ist nicht ganz unsinnig, es macht jedenfalls nach meinem Dafürhalten Sinn.

Peter Brandt

Ich knüpfe an das an, was Heinz Westphal sagte, man habe doch in der sozialdemokratischen Bewegung die Probleme Wiedervereinigung und Wiederbewaffnung als ein einziges großes Problem gesehen. Das ist sicher richtig, aber wenn man Äußerungen Schumachers ganz präzise verfolgt, stand, als er anfing, gegen die Europäische Verteidigungsgemeinschaft zu argumentieren, im Zentrum seiner Argumentation zunächst noch nicht die Wiedervereinigungsfrage. Wenn man diesen Gedankenfaden weiter spinnt, dann muß man so weit gehen zu sagen, daß es auch für ihn nicht völlig undenkbar war, selbst unter den Bedingungen der Teilung, irgendeine Form von Wiederbewaffnung und westlichem Bündnis zustande zu bringen, sicher mit viel mehr Vorbehalten als bei Adenauer. Aber man kann nicht sagen, daß das von vornherein von ihm abgelehnt wurde mit dem Argument der Auswirkungen auf die deutsche Teilung. Es gab nach meinem Eindruck auch für Schumacher eine Phase, die man etwa 1950/51 ansetzen kann, wo es durchaus - das ist ja auch in der Literatur so besprochen worden - eine Schumachersche Variante des Zurückdrängens der Sowjetunion gab, sei es eben mit der Sozialdemokratie als dem linken Flügel dessen, was er als Weltdemokratie bezeichnete.

Susanne Miller

Eine Voraussetzung bei der ganzen Politik oder bei den Entscheidungen, über die jetzt gesprochen wurde, war die Vorstellung, daß die SPD in der Opposition sehr an Zulauf gewinnen und so an die Regierung kommen werde. Das war der fundamentale Irrtum nicht nur von Schumacher, sondern diesen Irrtum haben fast alle Sozialdemokraten damals geteilt. Für mich war entscheidende Beschluß, daß die Sozialdemokratie sich im Frankfurter Wirtschaftsrat entschlossen hat, in die Opposition zu gehen. Das Ergebnis war, daß der wirtschaftliche Aufschwung dann der CDU zugute geschrieben wurde. Hier, meine ich, wäre es nicht richtig zu sagen, daß das nur Schumachers Irrtum war. Ich habe den Eindruck, um dies nochmals zu betonen: Diesen

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Irrtum hat der größte Teil der SPD geteilt, und er hing damit zusammen, daß sie meinten, daß die Liberalisierung der Wirtschaft, die Ludwig Erhard eingeleitet hat, zu sozial schlimmen Folgen führen werde und daß diese dann die Einsicht bringen würden, daß die Sozialdemokratie die richtigen Lösungen habe. Diese Oppositionsrolle ist der SPD nicht bekommen, das möchte ich hier nur im nachhinein feststellen.

Bernd Faulenbach

Herr Paterson, sah Labour in Schumacher in erster Linie den Deutschen oder den Sozialisten?

William Paterson

Darauf, glaube ich, kommt es nicht so sehr an. Für die Labour Party war Britannien wichtig. Sozialismus im eigenen Lande, 1945 das erste Mal mit einer richtigen Mehrheit, darauf kam es an. Um Britannien zu verändern, brauchte Labour die Unterstützung der Amerikaner; denn Britannien war mehr oder weniger pleite. Diese Unterstützung war nicht immer leicht zu bekommen, und wegen ihrer eigenen Ziele hatte die Labour Party an anderen sozialistischen Parteien kein großes Interesse. Es gab einen Kontrast zwischen der alten Rhetorik der Labour Party und ihrem Verhalten, und wenn ich Schumacher gewesen wäre, hätte ich da eine bestimmte Heuchelei herausgespürt. Gerade bei Labour spielt die britische Lage immer die überwiegende Rolle.

Ich möchte auch kurz zu der Frage Stellung nehmen, wie Schumacher heute in Britannien gewertet wird. Da kommen wir wieder zu unseren Überlegungen zum Staatsmann. Wenn jemand nur Parteiführer gewesen ist, dann kann man nicht erwarten, daß außerhalb des Landes über ihn nachgedacht wird. Ich denke vor allem an Neil Kinnock. Ich glaube, ohne Kinnock wäre Tony Blair nicht möglich gewesen. Aber man kann nicht erwarten, daß Leute in Deutschland sehr viel über Neil Kinnock nachdenken oder zum Beispiel über einen persönlichen Freund von mir, der auch früh gestorben ist, John Smith. Das war für mich ein sehr schwerer Schock und für uns eine Tragödie, aber wir können nicht erwarten, daß in anderen Ländern Leute über John Smith nachdenken. Das britische Bild von der SPD - das allgemeine Bild wie auch innerhalb der Labour Party - wird nur von Brandt und Schmidt bestimmt. Das kommt der SPD, glaube ich, zugute. Wir haben in Deutschland 1986 eine Tagung über Schu

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macher gehabt und jetzt wieder heute. Aber im Ausland wäre es, da Schumacher nie Bundeskanzler war, hoffnungslos zu erwarten, daß außerhalb eines sehr kleinen Kreises von Spezialisten über ihn diskutiert wird.

Noch eine Bemerkung zum Schluß: Als Schumacher lebte, war für ihn und für viele in der deutschen Sozialdemokratie die Labour Party die bestimmende Partei, und daher dann die Enttäuschung. Aber wenn man heute in Britannien an die Europafrage denkt, ist Deutschland das bestimmende Land. Wenn man jemand in Britannien fragt, was er über Deutschland denkt, dann weiß man hundertprozentig, was er zu Europa sagen wird. Das wird von niemandem bezweifelt. Deutschland ist das definierende Land. Das ist ein großer Wandel in diesen letzten Jahren.

Bernd Faulenbach

Gerade wurde die Frage der Gegenwartsbedeutung Schumachers noch angesprochen. Ich möchte ganz knapp die übrigen Podiumsteilnehmer fragen: Gilt es heute in der veränderten Situation Schumacher neu zu entdecken, oder gibt es sogar etwas im Leben und Tun Schumachers, das in der Gegenwart verstärkt wieder eine Rolle spielen sollte?

Susanne Miller

Ja, vor allem seine Persönlichkeit, seine Biographie, seine moralische Integrität und auch seine absolute Ergebenheit politischen Zielen gegenüber unter Zurückstellung seiner eigenen persönlichen Sicherheit, seines Lebensglücks. Ich finde, als eine moralische Persönlichkeit sollte er schon immer wieder in Erinnerung gerufen werden in einer Zeit, in der eine allgemeine Skepsis bis zum Zynismus hin gegenüber Politikern besteht. Man kann zwar sagen: Vielleicht ist nur ein toter Politiker ein guter Politiker und wird akzeptiert. Aber ich glaube, als Vorbild eines Politikers, auch mit all seinen Schwächen, seinen Fehlschlägen und seinen Fehlkalkulationen, als ein Vorbild eines Politikers verdient es Schumacher, gewürdigt und ins Gedächtnis gerufen zu werden.

Hans-Peter Schwarz

Es gibt in der europäischen Geschichte eine Linie von tapferen Männern, die gegen die Tyrannis gekämpft haben. Das beginnt in Italien mit Giacomo Matteotti, da ist der Widerstand gegen die Deutschen während der deutschen Besetzung, da ist der deutsche Widerstand im

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Dritten Reich, vor allem auch im Zweiten Weltkrieg, da ist Kurt Schumacher, da sind in den 70er Jahren Alexander Solschenizyn und Andrej Sacharow und ebenfalls in den 70er und frühen 80er Jahren Vaclav Havel, in den 80er Jahren Solidarnosc. Das ist eine ganze Kette. Europa darf solche großen Kämpfer gegen die Tyrannen nicht vergessen, und in dieser Hinsicht ist Kurt Schumacher von den deutschen Politikern des 20. Jahrhunderts, ja ich möchte sagen: eine der eindrucksvollsten, verehrenswürdigsten Gestalten. So sehe ich ihn jedenfalls.

Peter Brandt

Ich kann mich dem Gesagten weitestgehend anschließen und möchte gerne noch zwei Dinge hinzufügen. Das eine, denke ich, was wichtig ist: Schumacher hat bei allem, was er tatsächlich oder möglicherweise verkehrt gemacht hat, doch einen Gesichtspunkt herausgestellt, der heute manchmal etwas fehlt. Man übt nicht in jedem Fall die größten Wirkungen dadurch aus, daß man an den Dingen unmittelbar beteiligt ist, an Regierungen beteiligt ist. Er hat das immer sehr deutlich ausgesprochen. Es gibt geradezu klassische Zitate, etwa: Wer nicht die Kraft hat, in bestimmten Situationen Nein zu sagen, dessen Ja ist völlig wertlos. Und auch das ist etwas, was wir heute beherzigen müssen.

Eine zweite Bemerkung: Wir haben hier natürlich in erster Linie die Dinge kritisch reflektiert. Das ist bei einer solchen Tagung zwangsläufig der Fall. Doch wenn ich mich gelegentlich einmal frage als Sozialdemokrat, warum ich in dieser Partei bin, dann ist ein Dokument, das ich mir vornehme, die Rede Kurt Schumachers gegen den Nationalsozialismus im Reichstag 1932, und dann ist es mir wieder klar.

Bernd Faulenbach

Lassen Sie mich knapp einige abschließende Bemerkungen anfügen:

1. Im Leben Schumachers fehlt es nicht an tragischen Aspekten -die Kriegsbeschädigung im Ersten Weltkrieg, die lange Haft in Konzentrationslagern, die Enttäuschung, nicht zum Zuge zu gekommen als Staatsmann in der Nachkriegszeit. Sein Leben und Schicksal spiegelten etwas von der Geschichte der Sozialdemokratie im 20. Jahrhundert.

2. Die Frage, wie die Entwicklung verlaufen wäre, wenn Schumacher erster Bundeskanzler geworden wäre, läßt sich nicht beantworten. Vieles spricht dafür, daß starke Tendenzen in die Richtung

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drängten, die dann vollzogen wurde. Wir tun aber gut daran, den einmal vollzogenen Prozeß nicht gar zu sehr zu überhöhen und auch nach in der Zeit angelegten Alternativen zu fragen.

3. Die Distanz zu Schumacher und den Konstellationen, in denen er wirkte, ist beträchtlich. Auf diesem Hintergrund verbietet sich eine kurzschlüssige politische Aktualisierung. Doch sollte die Erinnerung an ihn - wie mir scheint - nicht nur im sozialdemokratischen Ge-schichtsbewußtsein, sondern in unserer politischen Kultur überhaupt wachgehalten werden - die Erinnerung an den bedeutenden Parteiführer, den Kämpfer gegen jede Diktatur, den leidenschaftlichen Demokraten, den Politiker, dem es um die "Sache" ging ...


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