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TEILDOKUMENT:

Peter-Christian Witt
Friedrich Ebert und die parlamentarische Demokratie in Deutschland


Über Friedrich Ebert und die parlamentarische Demokratie in Deutschland zu sprechen heißt im Prinzip das gesamte politische Wirken des ersten deutschen Reichspräsidenten in den Blick zu nehmen. Von den tastenden Anfängen in Bremen bis in die Jahre als Reichspräsident hat Ebert an der Zielvorstellung "Demokratie" festgehalten und dabei - wie viele seiner Parteifreunde - mit dem Problem gerungen, wie sich "Demokratie" und das andere große Ziel vereinbaren ließen, nämlich eine gerechtere Wirtschafts- und Sozialordnung zu errichten, in der sich das Proletariat als Klasse frei entfalten könne. "Sozialismus" und "Demokratie" bestimmten Eberts politisches Denken und Handeln, um ihre Vereinbarkeit und um ihre Durchsetzungschancen ging es - und dabei entwickelte sich bei ihm allmählich eine klare Prioritätensetzung: "Demokratie" hatte Vorrang vor dem "Sozialismus", nur so viel an "Sozialismus" konnte und durfte verwirklicht werden, wie sich im Rahmen eines demokratisch strukturierten Gemeinwesens durchsetzen ließ. Daß Ebert - sich dabei in nichts von anderen sozialdemokratischen Politikern unterscheidend - lange Zeit an die prinzipielle Vereinbarkeit beider Postulate glaubte und für ihre gemeinsame Verwirklichung kämpfte, ist ebenso offensichtlich wie die allmähliche Verdrängung dieser Hoffnung zugunsten des Demokratieprinzips. Diese Wende vollzog sich während des Weltkriegs, und über Eberts Haltung in Weltkrieg und Revolution ist daher bei einer Erörterung seiner Haltung zur parlamentarischen Demokratie in erster Linie zu reden.

"Demokratie" und "Parlamentarismus" oder gar ein demokratisch strukturiertes parlamentarisches Regierungssystem, das waren nicht gerade Zielsetzungen, denen sich im Deutschen Kaiserreich vor 1914 außerhalb der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften viele Menschen gewidmet haben. Die politischen Parteien von den Konservativen bis hin zu den Linksliberalen dachten gar nicht daran, eine solche Änderung des Bismarckschen Verfassungssystems auch nur in Erwägung zu ziehen. Denn, ob in Reich, Bundesstaaten oder Kommunen, Nutznießer dieses Systems war jede der bürgerlichen Parteien. Mochten z.B. die Liberalen aller Schattierungen durchaus für eine Stärkung der Rechte des Reichstags plädieren, auch die sie ebenfalls in ihrer Entfaltung behindernden einzelstaatlichen Klassenwahlrechte bekämpfen, dort, wo sie selber aufgrund der am wenigsten demokratischen Wahlrechtsbestimmungen uneingeschränkte Herrschaft auszuüben imstande waren, nämlich in zahlreichen kleinen und großen Städten, hielten sie nicht weniger starr als etwa die Konservativen in der Frage des preußischen Dreiklassenwahlrechts an ihren Machtpositionen fest und blockierten jede Reform. Daß Kaiser, regierende Bürokratie und auch im Frieden mitregierende Generalität sich freiwillig aus ihren Machtpositionen verabschieden könnten, war genausowenig vorstellbar wie etwa die Propagierung und Durchsetzung eines sozialverträglich gestalteten kapitalistischen Wirtschaftssystems durch den Centralverband deutscher Industrieller.

Man wird zunächst also in aller Nüchternheit konstatieren müssen, daß vor 1914 die Masse der in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf allen Ebenen agierenden Menschen wenig Neigung verspürte, das politische, wirtschaftliche und soziale System das Kaiserreichs infrage zu stellen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich: Mehr Demokratie - sich etwa in der Einführung gleicher, direkter und geheimer Wahlrechtssysteme in allen Bundesstaaten und Kommunen ausdrückend - hätte sich ja nur in einer Machtsteigerung der Sozialdemokratie und wohl auch des Zentrums niedergeschlagen. Mehr Parlamentarismus etwa auf Reichsebene durch Einführung der zwangsweisen Vertrauensabstimmung über den vom Kaiser ernannten Reichskanzler oder gar durch die Aufhebung des Inkompatibilitätsgebots von Mitgliedschaft in Reichstag und Bundesrat hätte vielleicht den Liberalen aller Schattierungen gefallen, aber weder Monarch noch regierende Bürokratie und die mit diesen verbündeten Konservativen hatten hieran das geringste Interesse. Wieso sollten sie auch?

Das vorhandene politische System funktionierte zwar längst nicht mehr reibungslos, ja durch das in diesem Sinne unglückselige, von Bismarck als Kampfmittel gegen die Liberalen gedachte gleiche, direkte und geheime Reichstagswahlrecht wurde es geradezu blockiert. In gewisser Hinsicht bot es aber eine Gewähr: Die besitzlosen Massen wurden mit ihm im Schach gehalten, blieben - welch stolze Mitglieder- oder Wählerzahlen auch immer von der Arbeiterbewegung mobilisierbar waren - von einer gestaltenden politischen Partizipation ausgeschlossen. Da zugleich aber die inneren Friktionen, Macht- und Positionskämpfe der bevorrechteten sozialen Schichten eher intensiver geworden waren, sich Liberale und Konservative, Liberale und Zentrum, Zentrum und Konservative, Konservative und rcchtsextremistische Gruppierungen wie etwa der - auch als Partei agierende - Bund der Landwirte zum Teil erbitterte Kämpfe in Öffentlichkeit und Parlamenten lieferten und dadurch eine Erosion der gemeinsamen Front gegen die "Habenichtse" drohte, haben deutsche Regierungen seit Bismarck die bewußte Spaltung der Nation betrieben und einen gnadenlosen Klassenkampf von oben geführt. Darin wurden die Nutznießer des politischen Systems zu den "Guten", den "National"-gesinnten, den Rechtschaffenen stilisiert, die Kämpfer für mehr Freiheit und Gleichheit in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft als "vaterlandslose Gesellen" denunziert.

Daß sich die Bevorrechteten nicht freiwillig von ihren Privilegien trennen wollten, daß sie sich angesichts der unverkennbaren inneren Spannungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, nämlich nicht nur Kampf gegen die, sondern soziale Ausgrenzung und bewußte Diffamierung der Sozialdemokratie, verständigten, hat ebenso wie die Gegenwehr der Sozialdemokratie zu einer Einübung des an Klassengrenzen entwickelten Freund-Feind-Denkens in der deutschen Politik schon lange vor dem Ersten Weltkrieg und zu einem immer stärkeren Auseinanderklaffen zwischen politischen, sozialen und ökonomischen Ordnungssystemen und den Erfordernissen einer modernen Industriegesellschaft geführt. Nun war es natürlich dem biederen Handwerksmeister, der irgendwo als Stadtverordneter vor die Wahl gestellt war, z.B. lieber 90 bis 120 Volksschüler durch eine Lehrkraft unterrichten zu lassen, als die kommunalen Einkommensteuern für einen weiteren Lehrer zu erhöhen, nicht zu verdenken, wenn er, auf seinen Geldbeutel schauend, die erstere Lösung für angemessen hielt und die Forderungen von irgendwelchen sozialdemokratischen Agitatoren als Geschrei Gesellen abtat. Viel weniger einsichtig ist es aber, daß auch die meinungsbildenden Schichten, insbesondere die Professoren, nichts anderes zu tun hatten, als immer neue und immer absonderlichere Begründungen dafür zu finden, wieso das vorhandene politische System des Kaiserreichs das einzige angemessene, der "deutschen Art" entsprechende System sein sollte. Wenn etwa Otto Hintze 1911 davon fabulierte, daß Deutschland seine "Großmachtstellung", seine "blühende Volkswirtschaft" und seine "hochausgebildete Geisteskultur" "durch die Einführung einer parlamentarischen Regierung wenn nicht geradezu verlieren, so doch mindestens in Frage stellen und den gefährlichsten Erschütterungen aussetzen" würde, so war dies noch eine eher gemäßigte Stimme. "Deutscher" Art, so könnte man die gerade durch den großen Wahlsieg der SPD bei den Reichstagswahlen 1912 neu entflammende Diskussion über das politische System des Kaiserreichs zusammenfassen, "deutscher Art" entsprach ein parlamentarisches Regierungssystem nicht.

Die einzige politische Gruppierung, deren führende Repräsentanten vor 1914 voll auf den "Parlamentarismus" setzten, war die Sozialdemokratie. Sie hatte nach langen und zermürbenden inneren Auseinandersetzungen über die Frage, wie die programmatische Doppelzielsetzung "Sozialismus" und "Demokratie" in der politischen Praxis des Kaiserreichs verwirklicht werden könnte, ungeachtet fortbestehender anderslautender theoretischer Konzeptionen oder auch nur naiver Glaubenshoffnungen auf den "notwendigerweise" erfolgenden großen "Kladderadatsch" des kapitalistischen Systems den parlamentarischen Weg als einzig erfolgversprechende Lösung akzeptiert. Sie hatte ihn in einer solchen Weise verinnerlicht, daß ihre führenden Repräsentanten (auch Friedrich Ebert) immer häufiger die Begriffe "Demokratie" und "Parlamentarismus" synonym verwandten und verstanden. Die Durchsetzung dieser Konzeption innerhalb der Sozialdemokratie ist nun aber eng verbunden mit der Entstehung der "Massen"partei und damit aber auch mit dem Mann, der nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, daß aus einem bloßen "Mythos" soziale Realität wurde, nämlich mit Friedrich Ebert.

Als Ebert im Dezember 1905 in den Parteivorstand der SPD einrückte, hatte die Partei höchstens 350 000 Mitglieder, und nur in 35 der 397 Reichstagswahlkreise waren mehr als 1500 Mitglieder zu verzeichnen. Am Vorabend des 1. Weltkrieges - also in nur knapp 9 Jahren - hatte sich die Zahl der Mitglieder auf über 1 Mill. verdreifacht, wiesen immerhin schon 148 Wahlkreisorganisationen mehr als 1500 Mitglieder auf, hatten sich die Zahl und Mitgliedschaft in den zahlreichen, alle Lebensbereiche erfassenden sozialdemokratischen Nebenorganisationen vervielfacht, war das Netz sozialdemokratischer Zeitungen enger geknüpft, konnte von der "großen", "starken" Partei, deren Einigkeit und Schlagkraft es zu bewahren galt, wirklich gesprochen werden. Der "Mythos" war endlich Realität - und der "Mythos", das war der 1913 gestorbene August Bebel, die Realität aber war geprägt von Männern wie Friedrich Ebert, dem - eine andere Interpretation lassen seine Wahlergebnisse auf den Parteitagen und insbesondere die problemlos erfolgende Wahl zum Parteivorsitzenden 1913 nicht zu - auch die Repräsentanten dieser Massenpartei den Kredit für diese Entwicklung gaben.

Der organisatorische Ausbau der Partei seit der Jahrhundertwende, insbesondere aber seit Friedrich Eberts Einzug in den Parteivorstand, spiegelte einerseits ein unverkennbares Dilemma: In einer ja nicht nur subjektiv so empfundenen, sondern auch objektiv sich so verhaltenden gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Ordnung, in der der Arbeiterschaft als Klasse die Gleichberechtigung verweigert und gegen sie Klassenkampf von oben betrieben wurde, mußte die Partei sehr viel mehr leisten als andere politische Parteien. Sie mußte "Lebens"gemeinschaft werden, um wenigstens teilweise materiell wie immateriell das zur Verfügung zu stellen, was Staat und Gesellschaft der Arbeiterschaft verwehrten - und indirekt verstärkte dies die Ausgrenzung der Sozialdemokraten. Anders ausgedrückt: die Partei, die die Lebenswelt der Arbeiter in vielen Bereichen mitgestaltete, entwickelte gerade um der Partei willen ihrerseits Abgrenzungsstrategien gegenüber dem "bürgerlichen Lager". Das war selbstverständlich schon deswegen ein Dilemma, weil der organisatorische Ausbau der Partei im Prinzip ja einem anderen Zweck hatte dienen sollen: der Eroberung der politischen Macht über den Wahlzettel.

Ebert und seine Mitstreiter in den Führungsgremien der Partei hätten sich nämlich die Mühe sparen können, die es erforderte, aus dem Mythos von der einigen, starken Partei soziale Realität werden zu lassen, wenn ihnen nur an propagandistischen Erfolgen gelegen hätte. Das aber war ja nicht der Fall: Ebert und seine Mitstreiter (und ich betone dies mit den Mitstreitern immer wieder, weil nichts in der Sozialdemokratie etwa die Entscheidung oder der Wille eines Einzelnen, sondern immer der einer kollektiven Führung gewesen ist) benötigten den gut ausgebauten organisatorischen Apparat der Partei, um in erster Linie im Reichstag, wo das Wahlrecht die günstigsten Voraussetzungen bot, dann aber auch in den einzelstaatlichen Landtagen und in den Kommunen, wo die Voraussetzungen wegen des Wahlrechts in der Regel viel ungünstiger waren, möglichst eine so starke Vertretung zu erhalten, daß - wenn auch nicht in grundsätzlichen Fragen der Verfassungsordnung, so doch wenigstens in den einzelnen Sachfragen - eine Mehrheitsbildung gegen oder - besser -ohne die Sozialdemokratie nicht mehr möglich war. D.h. Ebert setzte, dafür gibt es schon aus seiner Tätigkeit in der Bremer Bürgerschaft 1899 bis 1905 zahlreiche Hinweise, zunehmend auf eine Klassengrenzen überschreitende Kompromißpolitik in den Parlamenten, um über so errungene praktische Erfolge wiederum verstärkte Zustimmung für seine Partei bei Wahlen zu gewinnen und so allmählich die Lebensverhältnisse der Angehörigen seiner eigenen Klasse zu verbessern.

Diese Politik war innerhalb der eigenen Partei übrigens viel weniger umstritten, als es die wortgewaltigen Anhänger eines "revolutionären" Wegs zur Macht sich selbst und dann auch ganzen Historikergenerationen eingeredet haben, die sich ja auch lieber mit "Theoretikern" und deren häufig höchst absonderlichen Ideen beschäftigen als mit der nur aus den "kleinen" Akten erschließbaren Realität das Parteilebens und der Parteiorganisation. Insofern kann man die schon eingangs geäußerte These, daß im politischen Spektrum des deutschen Kaiserreichs vor dem Ersten Weltkrieg nur die Sozialdemokratie Anhängerin des parlamentarischen Regierungssystems war, nur erneut unterstreichen und hinzufügen: Friedrich Ebert war schon vor 1914 einer der entschiedensten und innerhalb der Partei wohl auch geachtetsten Vertreter dieser Konzeption. Und eine rein spekulative Vermutung, für die es keine direkten Zeugnisse Eberts, sondern nur aus seinen Handlungen indirekt erschließbare Hinweise gibt, sollte ich noch hinzufügen: Mir scheint, daß Ebert gerade aus seinen Erfahrungen mit der Parteiorganisation eine klare Präferenz für eine repräsentative Demokratie und eine ebenso deutliche Abneigung gegen eine direkte oder plebiszitäre Demokratie entwickelt hat, ja, daß Demokratie ohne nach klaren, feststehenden Regeln gebildete Repräsentativkörperschaften, d.h. Parlamente, etwa auf Basis von Entscheidungen amorpher, leicht manipulierbarer "Massen" für ihn ausgeschlossen war.

Der Erste Weltkrieg erschütterte auch die Selbstzufriedenheit, mit der weite Teile der politischen Klasse Deutschlands bisher den "deutschen Konstitutionalismus" als allein mögliche Form das Regierens gepriesen hatten. Dabei geht es nicht um die durchsichtigen Manöver, mit denen nun auf einmal die "vaterlandslosen Gesellen" in eine nationale Einheitsfront eingebunden werden sollten. Denn wenn auch die Mehrheit der Sozialdemokratie die "Burgfriedenspolitik" durchaus für ihre politischen Zwecke zu Instrumentalisieren suchte, durchaus ein Interesse daran hatte, zu erproben, ob es sich hierbei um mehr als nur schöne Worte handelte, so war doch unverkennbar, daß die eifrigsten Befürworter des "Burgfriedens" in Regierung, Bürokratie und bürgerlichen Parteien hiermit gerade jede grundlegende Reform des politischen Systems blockieren wollten. In ihren Augen war die Burgfriedenskonzeption nichts anderes als die innenpolitische Absicherung eines Siegfriedens, der dann wiederum als Beweis für die Überlegenheit des deutschen politischen Systems und die Abwehr von grundlegenden Reformen dienen sollte. Insofern erfüllten sich die Hoffnungen, die manche - auch führende - Sozialdemokraten bei ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten anfangs wohl gehabt hatten, nicht.

Erst mit zunehmender Kriegsdauer und den immer geringer werdenden Chancen, den Krieg für Deutschland siegreich zu beenden, machte sich zunehmende Unzufriedenheit mit dem politischen System bei den alten Eilten breit. Dabei lassen sich im Grunde nur zwei alternative Konzeptionen ausmachen, in deren Kalkül die "Massen", ihre Loyalität, ihre Leidensfähigkeit und Leidensbereitschaft, eine überragende Rolle spielten: Einmal formierte sich die extrem nationalistische, einer durchgehenden Militarisierung der Gesellschaft das Wort redende, zugleich aber auch antikapitalistische Parolen verbreitende, die organisierte Arbeiterschaft aber als "inneren" Feind ansehende "Vaterlandspartei", deren Ziel die Militärdiktatur war. Diese Bewegung fand innerhalb kürzester Zeit eine erstaunliche (organisatorisch aber nicht verfestigte) Massenbasis. Die Ähnlichkeiten mit den zahlenmäßig viel kleineren linksradikalen Gruppierungen, von denen ja nur ein kleinerer Teil innerhalb der USPD agierte, sind dabei in vieler Hinsicht frappierend. Dies gilt nicht nur für die offen betriebene Errichtung einer Diktatur, sondern auch für die Methoden der Propaganda, für den systematischen Aufbau von Feindbildern und die vorsätzliche Spaltung der Nation. Freilich blieb eine Bewegung wie die Vaterlandspartei und die von ihr vertretene diktatorische Lösung noch ohne die notwendige Resonanz bei der Mehrheit der alten Führungseliten. Vielmehr machte sich hier ein Sinneswandel breit, der die "Massen" in ganz anderer Weise in ihr Kalkül einbezog: Statt politischer Führung durch die Bürokratie wurde nun politische Führung durch die politischen Parteien als eine erfolgversprechende Alternative zunehmend diskutiert und propagiert.

Max Weber hat in seiner, im Sommer 1917 in der "Frankfurter Zeitung" veröffentlichten Artikelserie "Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland" in der ihm eigenen apodiktischen Art diese Überlegungen auf den Punkt gebracht, wenn er in kühler Distanzierung von eigenen Überzeugungen aus der Vorkriegszeit nun feststellte, "daß die bisherige Art der staatlichen Willensbildung und des politischen Betriebes bei uns jede deutsche Politik, gleichviel welches ihre Ziele seien, zum Scheitern verurteilen müsse". Er zog daraus die radikale Schlußfolgerung, daß allein die Parlamentarisierung und die Demokratisierung des Regierungssystems, verbunden allerdings auch mit einer grundlegenden Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der deutschen Politik eine neue Chance eröffnen und es ihr möglich machen werden, auch in Zukunft "in die Speichen der Weltpolitik einzugreifen".

Die Hinwendung zum parlamentarischen Regierungssystem und die schneidende Abrechnung mit der eigenen, auf bewußter Diskreditierung des Parlamentsbetriebs und der Parteien beruhenden Herrschaft der beamteten Politiker war bei Max Weber, der hier ja nur für einen viel größeren Kreis bürgerlicher Politiker, Journalisten und Wissenschaftler angeführt worden ist, Ergebnis einer nüchternen Beobachtung: Offensichtlich gelang es den viel gescholtenen politischen Systemen in England und Frankreich, aber vor allem auch in den USA viel besser als dem deutschen System, in einer Extremsituation, wie es der Weltkrieg nun einmal war, die Massen für die eigene Sache zu mobilisieren, sie bei der Stange zu halten und vor allen Dingen auch vor zermürbenden inneren Auseinandersetzungen zu bewahren. Daß dies so war, schrieb Weber wie viele andere vornehmlich dem System der über den Wettbewerb der Parteien erfolgenden Führerauslese zu. Die Hinwendung zum parlamentarischen Regierungssystem war rein zweckrational, die auch geforderte Demokratisierung und gar erst die Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems blieben eher Worthülsen. Inhaltlich stand das ganze Konzept eher für die ja bei Weber auch zu beobachtende "Weltmachtpolitik". Aber seine Vorschläge eröffneten, gerade weil er konzeptionell folgerichtig der politischen Vertretung der deutschen Arbeiterbewegung gleichberechtigten Zugang zum politischen Willens-bildungsprozeß eröffnen wollte, auch die Möglichkeit zum Brückenschlag zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft.

Genau auf diese Signale hatte die Mehrheit der Sozialdemokratischen Partei unter Führung Friedrich Eberts sehr lange, zu lange, um die Parteispaltung verhindern zu können, warten müssen. Und die Signale kamen erst, als klar zu sein schien, daß mit einem deutschen Siegfrieden nicht mehr zu rechnen war. Sie wurden wieder viel schwächer, ja drohten ganz zu verstummen, als die Oktoberrevolution, das Ausscheiden Rußlands aus der Kriegskoalition, seine Unterwerfung in dem Diktatfrieden von Brest-Litowsk noch einmal die freilich trügerische Hoffnung erweckten, nun auch im Westen doch noch den militärischen Sieg zu erringen. Friedrich Ebert war sich - davon zeugen seine Worte und Taten in der Kriegszeit -durchaus bewußt, daß die von ihm verfolgte Politik in den großen ver-fassungspolitischen Fragen, also der Demokratisierung der Wahlrechte in den Bundesstaaten und Kommunen oder der wirklichen Gleichberechtigung seiner Partei oder gar der Parlamentarisierung, trotz aller Versprechungen keine greifbaren Erfolge aufweisen konnte. Dennoch hat er an seinem Kurs - auch um den Preis der Parteispaltung - festgehalten. Bei einem Politiker, der seit seiner Bremer Zeit stets weniger "prinzipientreu" als vielmehr "erfolgsorientiert" argumentiert und agiert hatte, kann eine solche Haltung als widersprüchlich erscheinen.

Betrachtet man die Frage aber von einer weniger an der Verwirklichung der verfassungspolitischen Ziele orientierten Sichtweise, hatte die Politik Eberts und der Parteimehrheit natürlich doch "Erfolge" vorzuweisen: Nicht nur war in zahllose Maßnahmen zur Bewältigung der sozialen und wirtschaftlichen Kriegsfolgen sozialdemokratische Politik eingeflossen, sondern - und dies war langfristig viel wichtiger - die Isolierung und gesellschaftliche Verfemung der Sozialdemokratie wurde wenigstens partiell aufgebrochen. Vor dem Weltkrieg hatte es kaum einen Politiker, Beamten oder Offizier, kaum einen Industriellen oder Bankier gegeben, der mehr als den oberflächlichsten Kontakt zu Sozial-demokraten gehabt hatte. Es war ja bezeichnend, daß August Bebel bis kurz vor seinen Tod warten mußte, ehe ein deutscher Reichskanzler an ihn, seit Jahrzehnten der unbestrittene Führer der größten deutschen Partei, auch nur ein persönliches Wort richtete. Das änderte sich im Weltkrieg dramatisch: Gleich ob nur der Not oder innerer Überzeugung gehorchend, die gesellschaftliche Diskriminierung und gegenseitige Berührungsängste begannen sich allmählich aufzulösen. Die Führung der Sozialdemokratischen Partei und Fraktion, die Generalkommission der Gewerkschaften, die Funktionäre von Partei und Gewerkschaften vor Ort, sie wurden doch für viele Regierungsmitglieder, Beamte, Offiziere und Wirtschaftsführer zu gesuchten Gesprächspartnern.

Es darf dabei nicht übersehen werden, daß inhaltliche Übereinstimmung in diesen Kontakten noch selten war und selbst in dem als Vorstufe der Weimarer Koalition angesehenen Interfraktionellen Ausschuß oder auch in den Beratungen des Hauptausschusses des Reichstags zwischen den grundsätzlich gesprächsbereiten Partnern, also der Mehrheit der Sozialdemokratie, der Mehrheit der Linksliberalen und nicht unbeachtlichen Minoritäten bei Nationalliberalen und im Zentrum, im Grunde nur wenig Fortschritte erzielt worden sind. Ebert, der nichtsdestotrotz solche Kontakte suchte, machte sich nicht die geringsten Illusionen über die ganz unterschiedlichen Zielsetzungen seiner Partner, für die die Einbindung der Sozialdemokratie in die Kriegsanstrengungen das eigentliche Ziel war und die alle vollmundigen Versprechungen über Reformen sofort vergessen würden, wenn das angestrebte Ziel, ein deutscher Sieg, erreicht sein würde. Und das war natürlich ein großes Dilemma für Ebert und die ihm folgende Parteimehrheit: Man konnte die Einheit der Partei nicht aufrechterhalten, wenn man den Brückenschlag zu dem gesprächsbereiten Teil des Bürgertums für notwendig hielt. Man mußte aber die Einheit der Partei mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten suchen, wenn und solange die Möglichkeit eines deutschen Siegfriedens bestand; denn dann mußte man nüchtern damit rechnen, daß im nationalen Überschwang eines Siegfriedens erst einmal alle Versprechungen auf Reformen vergessen sein würden. Dann aber blieb für die politischen Zielsetzungen der Sozialdemokratie wieder nur eine Basis: die einige, starke Partei.

D.h., solange die Möglichkeit eines deutschen Sieges bestand, mußte Ebert, beinahe um jeden Preis, um die Einheit der Partei kämpfen, als die Anzeichen der Niederlage immer deutlicher wurden, aber wurde die weitere Einbindung der Opposition innerhalb der Sozialdemokratie zu einer Unmöglichkeit. So schmerzlich das - wenn ich Eberts Äußerungen zu dieser Frage betrachte - für ihn auch gewesen sein mochte, die nur in Zusammenarbeit mit Teilen des Bürgertums mögliche Neugestaltung der deutschen Politik wäre schon im Ansatz gescheitert, hätte Ebert die Parteieinheit vor die Interessen Deutschlands gestellt.

In seiner letzten Rede im alten Reichstag hat Friedrich Ebert am 22. Oktober 1918 klar ausgesprochen, daß die Oktoberverfassung, die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems und die freiwillige Aufgabe der Macht durch die dritte OHL unter Hindenburg und Ludendorff Ergebnis der militärischen Niederlage waren. Noch einmal ließ er die vielen verpaßten Chancen, während des Krieges wenigstens durch eine Vielzahl von kleinen Schritten die Klassenspaltung zu überwinden und der Arbeiterschaft die gleichberechtigte politische Partizipation zu gewähren, Revue passieren und ließ niemanden im Zweifel darüber, wer dafür seiner Ansicht nach die Verantwortung trug. Er wehrte sich auch gegen die voraussehbare Diffamierung des neuen Regierungssystems als verantwortlich für die Niederlage und betonte, daß die Demokratie - wie er es formulierte - "die Macht ergreifen mußte, weil nur noch sie imstande ist, Deutschland zu retten". In seiner Begründung für den Eintritt seiner Partei in diese neue Regierung legte er die Motive der ihm folgenden Parteimehrheit in eindrucksvoller, zukunftsweisender Form dar:

"Es wäre gewiß bequemer gewesen, draußen zu stehen und unsere Hände in Unschuld zu waschen. In der Schicksalsstunde des deutschen Volkes wäre aber eine solche Politik vor der Geschichte, vor der Nation und vor der deutschen Arbeiterklasse nie und nimmer zu verantworten. Wir sind in die Regierung hineingegangen, weil es heute um das ganze deutsche Volk, um seine Zukunft, um Sein oder Nichtsein geht.[...] Durch unseren Eintritt in die Regierung übernehmen wir keinerlei Verantwortung für ihre bisherige Politik. Im Gegenteil! Unser Eintritt in die Regierung zieht einen dicken Trennungsstrich zwischen dem, was vor und dem, was nach dem 5. Oktober geschah. Der jetzige Umschwung, die jetzt erfolgte Parlamentarisierung verurteilt durch sich selbst die Sünden des früheren Regimes.[...]

Wir wissen: Ein böses Erbe haben wir übernommen; wir müssen viel Ballast abwerfen, um das Staatsschiff in den Friedenshafen zu retten. Nicht den besitzenden Klassen zuliebe, sondern für die Zukunft des Staates, der einst dem ganzen Volk gehören soll, zur Beschleunigung des Friedens, zur Verbesserung der Friedensaussichten haben wir in schwerster Zeit das Opfer gebracht. Für eine engumgrenzte Arbeit haben wir uns mit allen denen zusammengeschlossen, die für den Rechtsfrieden und die Demokratisierung sind."

Noch deutlicher war Ebert bei den parteiinternen Beratungen geworden. Schonungslos hatte er die Alternativen bezeichnet:

"Wollen wir jetzt keine Verständigung mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung, dann müssen wir die Dinge laufen lassen, dann greifen wir zur revolutionären Taktik, stellen uns auf die eigenen Füße und überlassen das Schicksal der Partei der Revolution. Wer die Dinge in Rußland erlebt hat, der kann im Interesse des Proletariats nicht wünschen, daß eine solche Entwicklung bei uns eintritt. Wir müssen uns im Gegenteil in die Bresche werfen, wir müssen sehen, ob wir genug Einfluß bekommen, unsere Forderungen durchzusetzen und, wenn es möglich ist, sie mit der Rettung des Landes zu verbinden, dann ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, das zu tun."

Ohne "Verständigung" und "Kompromisse" mit den bürgerlichen Parteien, die dazu prinzipiell bereit waren, also den Linksliberalen, dem Zentrum und auch Teilen der Nationalliberalen, konnte - so Eberts Überzeugung - das parlamentarische Regierungssystem nicht das leisten, was es seiner Ansicht nach leisten mußte: Den Frieden herbeiführen und jene schwierigen Reformprozesse in Staat und Gesellschaft durchführen, deren Ergebnis "Demokratisierung" bedeuten würde. Die revolutionäre Lösung mit "russischen" Zuständen war Ebert und der großen Mehrheit seiner Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) wie aber auch einer Mehrheit in der USPD schlicht ein Greuel, eine Horrorvorstellung. Und dafür hatte er zwei Gründe: Die feste Überzeugung, daß ohne einen Brückenschlag zwischen MSPD und den bürgerlichen Parteien keine hinreichende Basis für einen demokratischen, parlamentarischen Neubeginn bestand, und die ebenso feste Überzeugung, daß Demokratie eben nicht darin bestand, erneut die Herrschaft einer Klasse zu etablieren, sondern in der Möglichkeit zur gleichberechtigten Partizipation aller am politischen Prozeß. Und das konnte seiner Meinung nach nur durch freie Wahlen garantiert werden. Und noch eines verstand Ebert sehr genau: Nicht nur von seiner eigenen Partei hatte der Krieg viele Opfer und zuletzt auch die Parteispaltung verlangt, auch die Parteien, die sich mühsam und zögerlich und immer wieder bei neuer Siegeshoffnung noch zögerlicher dem Gedanken angenähert hatten, daß die Sozialdemokratische Partei nicht mehr als prinzipieller Feind bekämpft, sondern als eine prinzipiell koalitionsfähige Partei angesehen werden sollte, hatten sich immensen inneren Spannungen ausgesetzt. Auch sie waren von Abspaltungen betroffen und waren vor allen Dingen - gewisse Ähnlichkeiten mit der Situation der MSPD und USPD weist auch dies auf - nicht besonders erfolgreich bei der Vermittlung dieser Position an ihre Anhänger und Wähler.

Bei allem Verständnis für die Probleme seiner Partner und bei aller Kompromißbereitschaft hatte Ebert nie einen Zweifel daran gelassen, daß die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems im Reich nur der erste Schritt sein konnte. Nur wenn auf bundesstaatlicher Ebene schnell und entschlossen, am besten durch die symbolhafte Aufhebung des preußischen Dreiklassenwahlrechts, ähnliche Reformprozesse in glaubhafter Weise eingeleitet wurden und wenn ein Ende der Kampfhandlungen in kürzester Frist erreicht wurde, war Ebert nämlich bereit, seine Partei auf die angesichts der verstärkten Opposition der USPD nicht ungefährliche Koalitions- und Kompromißpolitik festzulegen. D.h., für Ebert stand einerseits fest, daß der verlorene Krieg nur durch eine breite Koalition zu bewältigen sein würde, andererseits gab es für ihn keine Kompromisse mehr, wenn die Partner nicht bereit waren, in diesen beiden Punkten das zu tun, was "ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit" war. Aus vielen Gesprächen, Aufzeichnungen und Debatten in jenen Wochen zwischen Oktober und Revolutionsausbruch im November 1918 geht eindeutig hervor, wie sehr Ebert sich bemüht hat, der Regierung des Prinzen Max v. Baden einerseits eine Chance zu geben, das parlamentarische Regierungssystem durch konkrete Demokratisierungsschritte zu stabilisieren und damit auch die - affektiv nicht unwichtige - Erhaltung der Monarchie in neuer Gestalt zu ermöglichen, andererseits Regierung und Koalitionspartnern zu vermitteln, daß für die MSPD sofortiger Friede und Einleitung des Demokratisierungsprozesses unabdingbare Geschäftsgrundlage dafür waren, daß sie ihrerseits auf viele programmatische Forderungen insofern verzichtete, als ihre praktische Umsetzung verschoben und von parlamentarischen Mehrheiten abhängig gemacht werden sollte.

Diese Haltung Eberts, die von der Mehrheit seiner Partei mitgetragen wurde, die aber innerhalb der Partei keineswegs unumstritten war, verriet ein sicheres Gespür für die Erfordernisse des parlamentarischen Regierungssystems unter den Bedingungen eines Vielparteiensystems. Sie verriet darüber hinaus aber auch den Wunsch, einen geordneten Übergang vom alten zum neuen System zu ermöglichen und damit - unbehelligt von revolutionären Erschütterungen - von vornherein alle Kräfte auf die eigentliche Aufgabe, die materielle wie mentale Bewältigung der Niederlage, konzentrieren zu können. Wir wissen, daß vor allem die Frage der Abdankung von Kaiser und Kronprinz zu unzumutbaren Verzögerungen bei der Beendigung der Kampfhandlungen geführt hat. Wir wissen aber auch, mit welcher kühlen Unbeteiligtheit Wilhelm II. von allen jenen, die von dem monarchischen System profitiert hatten, wenig später fallengelassen worden ist. Und wie Ebert selber das auch getan hat, kann man aus der Rückschau nur fragen, weshalb das vielleicht doch Erhaltenswerte, die Monarchie, so leichtfertig um eines Monarchen willen, den jeder, der mit ihm näher zu tun gehabt hatte, eher als eine "Last" als das einem auferlegte "Kreuz" ansah, geopfert worden ist.

Auf jeden Fall konnte Ebert und mit ihm seine Partei am Schluß nur noch resignierend feststellen, daß bürgerliche Koalitionspartner wie Bürokratie und Generalität noch immer nichts von den wirklichen Sorgen und Nöten der Menschen begriffen hatten und ihrer Verantwortung gegenüber der Nation nicht gerecht wurden. "Unter diesen Umständen", so schrieb Ebert am 6. November 1918 dem ersten Generalquartiermeister Wilhelm Groener, "erübrigt sich jede weitere Erörterung, jetzt müssen die Dinge ihren Lauf nehmen". Allerdings war Ebert niemand, der die "Dinge" einfach "ihren Lauf nehmen" ließ. Mit Entschlossenheit hat er die Macht, die ihm in doppelter Legitimation durch die Revolution und den alten Reichskanzler übertragen worden war, ergriffen und nun in einer Doppelstrategie sowohl die USPD wie die ursprünglichen Koalitionspartner Zentrum und Linksliberale einzubinden gesucht. Kraft revolutionärer Legitimation - aber auch nicht weitergehend, als er bereits in seiner letzten Reichstagsrede am 22. Oktober als unverzichtbare Demokratisierungsschritte angekündigt hatte - wurde in zahlreichen Einzelmaßnahmen eine demokratische und soziale Verfassungsstruktur für das neue Deutschland konzipiert, zugleich aber - auch um den Preis des erneuten Bruchs mit der USPD - an dem nun demokratisch gestalteten parlamentarischen Regierungssystem festgehalten. Damit sah er die revolutionäre Umbruchsphase als genau das an, was sie sein sollte, nämlich eine befristete, nur zu dem legitimierte Herrschaft, was verbal, wenn auch nicht real die Koalitionspartner schon bei dem Eintritt in die Regierung Prinz Max von Baden zugestanden hatten.

Genau diese Selbstbeschränkung, dieses Beharren auf Absicherung des politischen Umbruchs durch eine möglichst breite Mehrheit, ist in der Forschung häufig als das Versagen der MSPD und speziell Eberts in der Revolution gedeutet worden. Ohne hier auch nur auf Einzelheiten eingehen zu wollen, muß mit Nachdruck betont werden: Nur diese Entscheidung machte einen breiten Konsens überhaupt möglich und vermied es, das republikanische Staatswesen, das jetzt geformt werden mußte, von vornherein mit der Ausgrenzung großer Teile der Bevölkerung zu belasten, wie dies in dem Bismarckschen Verfassungssystem der Fall gewesen war. Ebert tat in der Revolution genau das, was angesichts der absehbaren inneren und äußeren Kriegsfolgelasten getan werden mußte, nämlich eine möglichst breite Mehrheit für den demokratischen und sozialen Rechtsstaat zu sichern und niemandem aufgrund seiner Vergangenheit das Recht auf das Werben um Zustimmung zu den eigenen politischen Vorstellungen zu versagen, mochten diese Vorstellungen noch so sehr den eigenen Überzeugungen widersprechen. Ebert hatte - anders als viele Zeitgenossen oder besserwisserische Professoren heute - durchaus begriffen, daß ein Konsens über die Formen und Institutionen des politischen Willensbildungsprozesses unverzichtbar war. Denn nur so ließen sich dann auch inhaltliche Konflikte in geregelter Form lösen. Und Ebert sah aufgrund der langen Diskussion in seiner eigenen Partei, aber auch in der Öffentlichkeit keine Alternative zum parlamentarischen Regierungssystem. Weder eine sogenannte "Diktatur des Proletariats" noch die Räteherrschaft oder andere Formen direkter Demokratie erschienen ihm geeignet, die übergeordnete Zielsetzung, nämlich Demokratie mit wirklich gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am politischen Entscheidungsprozeß, zu garantieren.

In einer Zeit großer Unsicherheit, dauernder Mobilisierung der Straße für alle möglichen und unmöglichen Ziele, gleichzeitig aber durchzuführender Demobilmachung eines Millionenheeres, der Überleitung der Wirtschaft von Kriegs- auf Friedensproduktion, Kampf um die notwen-digen Lebensmittelzufuhren tat Ebert ruhig und kühl das, was die Aufgabe des Regierungschefs eines großen Industriestaates war: Regierung und Verwaltung in Gang halten, den Menschen aber durch konkrete soziale und demokratische Maßnahmen Mut und Hoffnung machen.

Zugleich hat Ebert nicht gezögert, das parlamentarische Regierungssystem in demokratischer Weise zu strukturieren. Während er bei der Frage der Wirtschaftsordnung zur Abwehr der auch aus der eigenen Partei kommenden Forderungen nach sofortiger Sozialisierung wenigstens der Schlüsselindustrien mit aller Entschiedenheit darauf beharrte, daß hierüber nicht irgendwelche Räteversammlungen, sondern ausschließlich die demokratisch legitimierte Nationalversammlung entscheiden dürfe, hat er keinerlei Probleme damit gehabt, bestimmte demokratische und soziale Grundrechte durch bloße Verordnungen vorläufig in Kraft zu setzen: Dazu gehörten nicht nur das Verhältniswahlrecht, das Frauenstimmrecht, die Abschaffung von Standesprivilegien, die Beschneidung der Rechte der Bundesstaaten/Länder beim Verfassungsgebungsprozeß, sondern auch der 8-Stunden-Tag, die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit der Arbeitnehmer und andere soziale Maßnahmen. Dieses unterschiedliche Vorgehen - bei der Sozialisierungsfrage striktes Beharren auf der allein entscheidungsberechtigten Nationalversammlung, bei den demokratischen und sozialen Grundrechten eine ebenso strikte Festlegung der Kernbestimmungen vor den Wahlen zur Nationalversammlung - ist in der Forschung als inkonsequent kritisiert worden. Dabei läßt sich das unterschiedliche Vorgehen leicht erklären: Für die Einführung der demokratischen und sozialen Grundrechte gab es einmal einen breiten Konsens, zum andern machten sie nur das aus, was jeder gerecht und billig denkende Mensch befürworten mußte, wenn er "Demokratie" wollte. Die Umgestaltung der Wirtschaftsordnung aber war keineswegs in gleicher Weise konsensfähig, und ob sie mehrheitsfähig war, durfte angesichts der selbst in der eigenen Partei laut werdenden Zweifel, ob die Bedingungen für einen solchen Schritt wirklich gegeben waren, nicht ohne weiteres angenommen werden. Daß Ebert auch selber nicht an die Weisheit einer "Sozialisierung" glaubte, kam bei seiner Entscheidungsbildung sicherlich auch eine gewisse Bedeutung zu. Entscheidender war jedoch für Ebert die Tatsache, daß die Sozialisierungsfrage auch nicht mit den bürgerlichen Parteien, die grundsätzlich der Entscheidung für eine parlamentarische Demokratie zugestimmt hatten, im Konsens zu lösen war, ja, daß ein Beharren auf "Sozialisierung" die notwendige Zusammenarbeit von MSPD und Zentrum sowie Linksliberalen torpedieren und die parlamentarische Demokratie, noch bevor sie überhaupt etabliert war, wieder infrage stellen könnte. Wer den schwierigen Weg zur Zustimmung zur parlamentarischen Demokratie bei den Führungen der bürgerlichen Parteien beobachtet hatte und wer sah, welchen noch viel größeren Schwierigkeiten die Durchsetzung dieser Idee bei deren Mitgliedern und Anhängern begegnete, konnte und durfte das dann höherrangige Ziel "parlamentarische Demokratie" nicht vorsätzlich gefährden.

Für die eigentlichen Verfassungsberatungen bzw. die Beratung der vorläufigen Reichsverfassung hat Ebert wie die meisten anderen an verantwortlicher Stelle stehenden Politiker in den Monaten November 1918 bis Februar 1919 nur wenig Zeit gefunden. Die Revolutionsregierung, der Rat der Volksbeauftragten, hatte mit den im Verordnungswege getroffenen Entscheidungen für die demokratische und soziale Struktur der neuen Verfassungsordnung einige wichtige Vorgaben gemacht, hatte auch eindeutig den Umbau des föderalen Systems mit einer Stärkung der Rechte und Aufgaben des Reiches verlangt. Aber die eigentliche Formulierung blieb einem kleinen Expertenzirkel von Beamten, externen Gutachtern und wenigen führenden Politikern überlassen. Auch ein öffentlicher Diskurs, eine Debatte über die Einzelregelungen, z.B. über das Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander, fand kaum statt. Ebert selber hat dann aber doch in zwei Punkten mit Entschiedenheit Expertenzirkel zu Änderungen in seiner Vorlage gezwungen: Einmal beharrte er auf einem Grundrechtskatalog, auf der Absicherung individueller und kollektiver Freiheitsrechte in der Verfassung, zum anderen nahm er Anstoß an den Rechten, die dem Reichspräsidenten zustehen sollten. Explizit argumentierte er gegen einen "amerikanischen Präsidenten", dessen Rechtsstellung ihn zu sehr an einen "absoluten Herrn" erinnerte. Auf sein Verlangen wurde daher die ursprünglich auf 10 Jahre geplante Amtszeit auf sieben Jahre verkürzt und zugleich das liberum veto des Reichspräsidenten gegen Gesetzesbeschlüsse des Reichstages beseitigt. Einen machtlosen Präsidenten wollte Ebert allerdings auch nicht, denn - so seine Argumentation - "zu einer entschlossenen und kraftvollen Führung der Reichsgeschäfte gehören gewisse Machtbefugnisse".

"Kraftvolle Führung der Reichsgeschäfte" durch den Reichspräsidenten und "parlamentarisches Regierungssystem" waren dabei in Eberts Augen keineswegs unvereinbar. Volkswahl und verhältnismäßig lange Amtszeit sollten dem Präsidenten eine eigene Autorität verleihen und gaben Unabhängigkeit von den Parteien. Aber schon die wichtigsten Amtsrechte des Reichspräsidenten, Ernennung von Reichskanzler und Reichsministern sowie die außerordentlichen Vollmachten nach Art. 48, waren nach Eberts Verständnis, aber auch nach dem Wortlaut der Verfassung, nur dann als Recht zur eigenständigen politischen Führung umzudeuten, wenn das aufgrund des Wahlrechts zu erwartende Vielparteienparlament aus sich heraus keine Mehrheit zu bilden imstande war. Fand sich eine parlamentarische Mehrheit, dann konnte der Reichspräsident weder das Personal der Reichsregierung bestimmen (allenfalls in eklatanten Einzelfällen mißliebige Personen verhindern), noch Art. 48 anwenden, noch die Gesetzgebung des Reiches inhaltlich beeinflussen.. Allerdings hatte dies gewisse Voraussetzungen, die Fähigkeit und Bereitschaft der Parteien, sich auf Koalitionen und damit auf Kompromisse einzulassen. Positiv gewendet, könnte man argumentieren, daß die starke Position des Reichspräsidenten für den Fall, daß keine parlamentarische Mehrheit zustande kam, geradezu als institutioneller Zwang zur parlamentarischen Mehrheitsbildung wirken konnte. Hier ist eine knappe Anmerkung zum Wahlrecht notwendig: Die eklatanten Ungerechtigkeiten des alten Reichstagswahlrechts, auch seine Manipulierbarkeit, hatten jede Form eines Mehrheitswahlrechts so diskreditiert, daß nur das Verhältniswahlrecht als wirklich demokratisch galt. Daher wurde in den gesamten Verfassungsberatungen auch nie ernsthaft über Alternativen oder gar über die Notwendigkeit eines mehrheitsbildenden Wahlrechts diskutiert.

Friedrich Ebert hat das Amt des Reichspräsidenten selbstbewußt für seine Partei und für sich eingefordert. Denn tatsächlich war nur Ebert, nicht aber Philipp Scheidemann, der sehr gerne Reichspräsident geworden wäre, bei Zentrum, DDP und MSPD, den Parteien der Weimarer Koalition, die zusammen in der Nationalversammlung über eine Dreiviertelmehrheit verfügten, mehrheitsfähig. Als Ebert das Amt des Reichspräsidenten übernahm, waren die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie in Deutschland gelegt - und diese entsprachen in allen wesentlichen Punkten den Forderungen, die die Sozialdemokratie unter Eberts drängender Führung für ein demokratisches Deutschland entwickelt und während des Krieges als ein Angebot zum Brückenschlag zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum immer wieder als kompromißhafte Alternative zwischen den eigenen Zukunftsvisionen und dem obrigkeitsstaatlichen System des Kaiserreichs vertreten hatte. Auch in der Stunde der Revolution, die scheinbar die Möglichkeit zur Errichtung eines demokratischen und sozialistischen Deutschland eröffnet hatte, hat Ebert seine eigene Partei und dann auch eine zunächst sehr große Mehrheit der deutschen Wählerinnen und Wähler davon zu überzeugen vermocht, daß hierfür der Preis, nämlich eine erneute Verschärfung der Klassenspaltung, zu hoch sein und das Ziel dennoch unerreichbar bleiben würde, während der Verzicht auf die revolutionäre Umgestaltung der Wirtschaftsordnung das Ziel Sozialismus keineswegs aufgab, sondern seine Durchsetzung nur in das freigewählte Parlament verwies, wo dies nach dem eigenen Demokratieverständnis hingehörte.

Der Reichspräsident Friedrich Ebert hat seine Rolle bis zu seinem Tod im Februar 1925 "in entschlossener und kraftvoller Führung" immer dann gesehen, wenn es galt, die Grundprinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaats mit parlamentarischem Regierungssystem zu behaupten. Das heißt, er achtete bei jeder Regierungsbildung darauf, daß eine parlamentarische Mehrheit zustande kam, versuchte dabei auch seine eigene Partei in der Regierung zu halten und ließ sich nur in dem Ausnahmefall Währungsstabilisierung im Herbst 1923 dazu verleiten, den Art. 48 der Reichsverfassung für das normale Gesetzgebungsverfahren anzuwenden, obwohl die dies beantragende und erreichende Regierung formal ja über eine klare Mehrheit im Reichstag verfügte. Die Tagespolitik aber war nach seiner Auffassung allein Sache der jeweiligen Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit. Der demokratische, soziale und parlamentarisch regierte Rechtsstaat war Friedrich Eberts politisches Ziel. Er erreichte es unter denkbar ungünstigsten Umständen und verstand es, trotz der immensen innen- und außenpolitischen Belastungen, das System im Prinzip funktionsfähig zu halten und in den wenigen Jahren, die ihm zur Verfügung standen, so zu festigen, daß im Moment seines Todes eine weitere positive Entwicklung im Verständnis der Mechanismen demokratischer und parlamentarischer Entscheidungsbildung durchaus möglich war. Die "parlamentarische Demokratie" war - soviel ein Einzelner auch zu ihrer formalen Durchsetzung hatte tun können - als Form politischer Willensbildung allerdings auch von der Zustimmung der Vielen abhängig. Und daran mangelte es, auch und gerade weil die Füh-rungen der bürgerlichen Parteien, die den Kompromiß von 1918 scheinbar akzeptiert hatten, sich nach und nach alternativen Formen, sei es einer Rückkehr zur bürokratischen Herrschaft der Vorkriegszeit, sei es der wie auch immer bemäntelten Diktatur, öffneten und damit die mühsam von Männern wie Friedrich Ebert geschlagenen Brücken zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse zum Einsturz brachten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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