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Reinhard Rürup:
Die Revolution von 1918/19 in der deutschen Geschichte


Wenn die DDR noch existieren würde, gäbe es in diesen Tagen zweifellos eine große Zahl festlicher Veranstaltungen, auch historischer Vorträge und Konferenzen, in denen des 75. Jahrestages der "Novemberrevolution" gedacht würde. Für die SED-Führung war diese Revolution - in gebührendem Abstand von der russischen Oktoberrevolution - von zentraler historischer Bedeutung, vor allem natürlich wegen der Gründung der KPD an der Jahreswende 1918/19. Das Interesse der politischen Führung an den richtigen "Lehren" aus der Geschichte der Revolution war so groß, daß der DDR-Geschichtswissenschaft die Grundlinien der historischen Darstellung durch ZK-Beschlüsse verbindlich vorgegeben wurden.

Wenn die DDR noch existieren würde, wären die Jubiläumsveranstaltungen auch keineswegs auf das Staatsgebiet der DDR beschränkt. Auch in der alten Bundesrepublik würde der Revolution schon deshalb gedacht, weil man nicht bereit wäre, der SED-Führung ein Monopol auf die Darstellung und Interpretation der deutschen Geschichte zu überlassen - nicht vor den eigenen Bürgern und auch nicht vor der internationalen Öffentlichkeit. Möglicherweise hätte sogar der Bundestag (vielleicht aufgrund einer Initiative der SPD-Fraktion) eine Sondersitzung abgehalten, um des Revolutionsjubiläums, das ja gleichzeitig auch ein Republikjubiläum ist, zu gedenken.

Nun besteht aber die DDR nicht mehr, und nicht zuletzt deshalb geht - in einer Zeit, in der historische Jubiläen (sonst nur) so aus dem Hut gezaubert werden - selbst die Tatsache, daß Deutschland am 9. November 1918 zur Republik wurde, in der Routine des politischen Alltagsgeschäfts unter. Möglich ist das natürlich nur deshalb, weil es auch in der historisch-politischen Öffentlichkeit - von den Parteien und Gewerkschaften über die Medien und die Veranstaltungsplaner bis zu den Fachwissenschaftlern - zur Zeit kein besonderes Interesse an dieser Geschichte gibt. Revolutionsgeschichte hat derzeit keine Konjunktur - und ich möchte mich deshalb besonders bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und Dieter Dowe bedanken, daß sie mit dieser Veranstaltung einen kleinen Gegenakzent setzen.

Ich habe mich mit der Geschichte der Revolution von 1918/19 zuerst in den frühen sechziger Jahren beschäftigt, als ich von Eberhard Kolb eingeladen wurde, mit ihm gemeinsam an der Edition der "Zentralrats"-Protokolle zu arbeiten. Seitdem bin ich in Abständen und mit unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten immer wieder zur Revolutionsgeschichte zurückgekehrt. Im Laufe dieser langen Jahre hat sich die Forschungssituation entscheidend verändert. In den sechziger Jahren handelte es sich noch um "Pionierstudien", die sich gegen ein ganz anderes, sehr verfestigtes Geschichtsbild durchsetzen mußten. In den siebziger und den frühen achtziger Jahren fand die Neuinterpretation der Revolution in einer rasch wachsenden Zahl von Forschungsarbeiten immer neue Bestätigung, so daß in der wissenschaftlichen Diskussion nicht ganz zu Unrecht von einer neuen "herrschenden Lehre" gesprochen wurde. Als die neuen Thesen und Ergebnisse 1964 auf dem Deutschen Historikertag in Berlin zum ersten Mal öffentlich diskutiert wurden, waren sie heftig umstritten. Als 1982 auf dem Deutschen Historikertag in Münster die Revolutionsgeschichte erneut diskutiert wurde, ging es im wesentlichen um Nuancen, nicht mehr um Grundfragen der Revolutionsgeschichte. Es ist nicht übertrieben, wenn man die Revolution von 1918/19 heute als einen der besterforschten Abschnitte der neueren deutschen Geschichte bezeichnet.

Wenn es dennoch immer wieder Ansätze zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem seit den sechziger Jahren erarbeiteten Forschungsstand gibt, so liegt das nicht nur daran, daß jede Verfestigung eines Geschichtsbildes (auch wenn es selbst gerade noch "neu" war) legitimerweise Kritik provoziert. Es hat vielmehr auch damit zu tun, daß die Geschichte einer Revolution, solange sie noch Verbindungen zu den Problemstellungen der Gegenwart aufweist, niemals völlig unumstritten sein kann. Revolutionsgeschichte kann nicht unpolitisch sein: Fragestellungen, Begrifflichkeit und Wertungen bleiben nicht unbeeinflußt durch das politische Kategoriensystem und die politischen Grundüberzeugungen des Historikers. In die Aussagen über Vergangenes fließen immer Vorstellungen über Gegenwärtiges und Hoffnungen auf Zukünftiges ein, und das gilt natürlich für historische Umbruchs- und Entscheidungssituationen wie eine Revolution in ganz besonderem Maße.

Die kommunistische Geschichtsschreibung hat in dieser Hinsicht nie einen Zweifel gelassen - sie hat immer aktuelle politische "Lehren" aus der Revolutionsgeschichte gezogen: im Kampf gegen die Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Bundesrepublik, auch im Kampf gegen den tschechischen Reformkommunismus im Jahre 1968. Auch ein liberal-konservativer Historiker wie Karl Dietrich Erdmann formulierte 1979 seine Überzeugung, daß das richtige Verständnis der Revolution von 1918/19 "von höchster Bedeutung" sei, "um im gegenwärtigen Deutschland den richtigen Weg zu finden". Und natürlich fehlt die politische Gegenwartsorientierung auch nicht im Lager der politisch eher "linken", überwiegend sozialdemokratisch orientierten bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung. Selbstverständlich sind Meinungen kein Ausgleich für fehlende Forschung, können Ergebnisse des Forschungsprozesses nicht einfach mit dem Hinweis auf unterschiedliche politische Positionen vom Tisch gewischt werden. Ansonsten aber gilt: Jede Geschichtsschreibung, die nicht nur antiquarische Interessen befriedigen möchte, sollte versuchen, durch die Aufarbeitung der Geschichte zu einer Erweiterung der Denk- und Handlungsmöglichkeiten in der jeweiligen Gegenwart beizutragen.

Was sind nun die wesentlichen Bestandteile des seit den sechziger Jahren erarbeiteten Bildes der Revolution? Wichtig ist zunächst einmal, daß die ältere Vorstellung von einem bloßen "Zusammenbruch" im November 1918 aufgegeben und der revolutionäre Charakter der Übergangszeit zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik herausgearbeitet wurde. Der 9. November 1918 - der Tag der Ausrufung der Republik und der Bildung revolutionärer Regierungen im Reich und in den deutschen Einzelstaaten - wird nicht mehr als bloßer "Staatsumsturz" gesehen, der die Unruhen seit Ende Oktober abschloß, sondern als Beginn einer längeren Revolutionsphase, in der die unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte miteinander um die Gestaltung der neuen Ordnung rangen.

Die erste Phase der Revolution, die von der Bildung der ersten Arbeiter- und Soldatenräte bis zur militärischen Niederschlagung des Berliner Januaraufstands und zu den Wahlen zur deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 reichte, war bestimmt durch die Zusammenarbeit der im Krieg gespaltenen deutschen Sozialdemokratie - von Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen, von Revolutionsregierungen und demokratischer Rätebewegung. Dem folgte eine zweite Phase, die durch die scharfe Konfrontation zwischen Reichsregierung und Massenbewegungen, durch Massendemonstrationen, Generalstreiks und lokale Aufstandsbewegungen (die in der Regel eher irreführend als "Räterepubliken" bezeichnet wurden) sowie durch den zunehmenden Einsatz konservativer, auch rechtsradikaler militärischer Einheiten durch die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung gekennzeichnet war. Diese Phase endete mit der Niederschlagung der Münchener "Räterepublik" Anfang Mai 1919. Mit der Zurückdrängung der politischen Kräfte, die raschere und entschiedenere Änderungen der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse wollten, mit der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags am 28. Juni und mit der Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung durch die Nationalversammlung am 31. Juli waren die wichtigsten Rahmenbedingungen der weiteren Entwicklung der Republik fixiert. Gelegentlich ist vorgeschlagen worden, darüber hinaus eine dritte Phase der Revolution abzustecken, die vom Sommer 1919 bis zum Kapp-Putsch im März 1920, seiner Niederwerfung und den anschließenden Bürgerkriegskämpfen führt. Das kann Sinn machen, wenn es in erster Linie um die proletarischen Massenbewegungen geht, es führt aber in die Irre, wenn man sich an den grundlegenden Entscheidungen über den Charakter der Weimarer Republik orientiert.

Die Leitfrage der Revolutionsforschung ist seit den sechziger Jahren die Frage nach den Chancen der Demokratie in Deutschland, auch und gerade nach den möglicherweise in der Revolution verpaßten Chancen. Es ist auch in der älteren Forschung nicht bestritten worden, daß die Fundamente der Weimarer Demokratie schwach waren, daß ein scharfer Widerspruch zwischen der demokratischen Verfassung und der in weiten Teilen vordemokratischen gesellschaftlichen Wirklichkeit bestand. Zweifellos waren die Belastungen der Republik durch den verlorenen Krieg und die Friedensbedingungen, durch die Inflation und später die Weltwirtschaftskrise ungewöhnlich groß. Aber es bestand auch eine innere Schwäche der demokratischen Ordnung, die sich auf ein Heer stützte, das sich dieser Ordnung nicht verpflichtet fühlte; die mit einer Verwaltung und einer Justiz arbeitete, die ganz überwiegend obrigkeitsstaatlich geprägt waren und der Demokratie mit äußerster Distanz, wenn nicht mit offener Ablehnung gegenüberstanden; die es mit einer Großindustrie und auch einer Großlandwirtschaft zu tun hatte, die politische Macht ausübten und bei der Verfolgung ihrer Interessen keinerlei Rücksicht auf die Bedürfnisse des parlamentarisch-demokratischen Systems nahmen. Man könnte die Reihe fortsetzen mit Hinweisen auf die konservativ-nationalistische Haltung großer Teile der deutschen Intelligenz - insbesondere der Universitätsprofessoren und der Studenten -, nicht zuletzt auch auf die kritisch-ablehnende Haltung der christlichen Kirchen.

Angesichts dieses Tatbestandes und der unübersehbaren Tatsache, daß am Ende der Weimarer Republik die Etablierung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates stand, mußte die entscheidende Frage für die neuere Forschung lauten: Waren solche Strukturschwächen der Weimarer Demokratie unvermeidlich, oder bestanden in der Gründungsphase der Republik Möglichkeiten einer anderen Entwicklung, einer solideren, krisenfesteren Fundierung der demokratischen Ordnung? Das war eine Frage, die sich auch schon die deutschen Sozialdemokraten nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten gestellt hatten und deren Beantwortungsversuche im "Prager Manifest" der Sopade vom Januar 1934 einen Niederschlag fanden. Eberhard Kolb hat zuerst auf einen Brief Rudolf Hilferdings an Karl Kautsky Ende September 1933 aufmerksam gemacht, in dem es heißt:

"Unsere Politik in Deutschland war seit 1923 sicher im ganzen und großen durch die Situation erzwungen und konnte nicht viel anders sein. In diesem Zeitpunkt hätte auch eine andere Politik kaum ein anderes Resultat gehabt. Aber in der Zeit vor 1914 und erst recht von 1918 bis zum Kapp-Putsch war die Politik plastisch, und in dieser Zeit sind die schlimmsten Fehler gemacht worden."

Die herkömmliche und bis in die sechziger Jahre in der alten Bundesrepublik vorherrschende Antwort auf solche Fragen war eindeutig negativ: Es gab keine Alternativen zu dem tatsächlich eingeschlagenen Weg. Weil die Republik von links bedroht wurde, mußte sie Kompromisse mit der politischen Rechten schließen. Wer den "Bolschewismus" nicht wollte, so wurde argumentiert, Mußte ein Bündnis mit den Trägem der alten Ordnung schließen, insbesondere mit dem Offizierskorps, aber auch mit der Beamtenschaft und den Unternehmen. Einschneidende Demokratisierungsmaßnahmen hätten dagegen die Abwehrkraft gegen den kommunistischen "Hauptfeind" in unverantwortlicher Weise geschwächt. Es liegt auf der Hand, daß diese These, solange sie nicht anhand der Quellen überprüft wurde, in der Zeit scharfer Ost-West-Auseinandersetzungen ein hohes Maß an Plausibilität hatte. Die Tatsache, daß inzwischen in einem Teil Deutschlands ein kommunistisches Regime bestand, an dessen diktatorischem Charakter kein Zweifel bestehen konnte, verlieh dieser Auffassung zusätzliche Überzeugungskraft. Unter dem Einfluß der Totalitarismus-Theorie wurde schließlich betont, daß die Weimarer Republik von links und rechts gleichermaßen bedroht gewesen sei -gegen den linken Totalitarismus habe sie sich erfolgreich zur Wehr gesetzt, während ihre geschwächten Kräfte dem Ansturm des anderen, rechten Totalitarismus nicht mehr gewachsen gewesen seien.

Hier setzte die neuere Forschung ein, die nicht mehr bereit war, die bisherigen Grundannahmen - wie plausibel sie auch immer erscheinen mochten - ungeprüft zu akzeptieren. Die Untersuchungen, in denen erstmalig eine breite Quellenbasis für die Revolutionsgeschichte erschlossen wurde, führten dann auch sehr rasch zu einem wesentlich anderen Bild. Es zeigte sich, daß der vielbeschworene "Bolschewismus" angesichts der eindeutig sozialdemokratischen Einstellung der Arbeitermassen keine reale Gefahr während der Revolutionszeit darstellte. Selbst die DDR-Historiker stellten, bei aller Übertreibung der Aktivitäten des Spartakus-Bundes und später der Kommunistischen Partei, nicht in Abrede, daß die Kommunisten nur eine sehr kleine, organisatorisch und ideologisch ungefestigte Gruppe bildeten, worüber lediglich das persönliche Prestige von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die für ihre politischen Überzeugungen im Gefängnis gesessen hatten, gelegentlich hinwegtäuschen konnte. Auch der "Linksradikalismus" der Unabhängigen entwickelte sich erst im Verlauf der Revolution - und als Reaktion auf das Ausbleiben revolutionärer Veränderungen - zu einer Massenströmung. Die sozialdemokratisch geführten Regierungen waren, so das Fazit der Quellenforschungen, sehr viel weniger von links und sehr viel mehr von rechts bedroht, als bisher angenommen worden war. Die unter den mehrheitssozialdemokratischen Führern tatsächlich sehr verbreitete "Bolschewismusfurcht" trug allerdings wesentlich dazu bei, daß die neuen Regierungen in der Regel mit den zivilen und militärischen Funktionsträgern des alten Systems vertrauensvoll zusammenarbeiteten, während sie den Aktivitäten der revolutionären Organisationen, die in der großen Mehrheit aus ihren eigenen Anhängern bestanden, überwiegend mißtrauisch und abwehrend gegenüberstanden.

Ebenso wichtig wie die Einsicht in die tatsächliche Schwäche der Kommunisten, die bis zur Spaltung der USPD Ende 1920 eine ausgesprochene Splitterpartei blieben, war die Feststellung des grundsätzlich gemäßigten Charakters der revolutionären Massenbewegung, die sich in den Arbeiter- und Soldatenräten organisierte. Die genaue Untersuchung dieser Räte bildete den Start- und Angelpunkt der Neuinterpretation der Revolution. Es zeigte sich nun, daß die Arbeiter- und Soldatenräte in ihrer großen Mehrheit auf der politischen Linie der SPD, in ihrer Minderheit auf der Linie der USPD lagen. Sie waren demokratisch in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, lehnten alle Diktaturtendenzen ab und befürworteten nicht nur eine parlamentarische Demokratie, sondern auch eine baldige Einberufung der Nationalversammlung. Sie waren spontan entstanden -hinter der Aufstands- und Umsturzbewegung stand keine Planung, auch die sozialdemokratischen Parteien schlossen sich ihr erst an, als sie erfolgreich war. Die in Bewegung geratenen Massen bildeten "Räte", um ihren politischen Willen in neuen Organisationen effektiv zur Geltung zu bringen, aber sie waren in ihrer übergroßen Mehrheit keine Anhänger eines "Rätesystems", das im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie gestanden hätte. Das änderte sich erst mit den Enttäuschungen über den Revolutionsverlauf und mit der Konzentration auf die Arbeitermitbestimmung oder -Selbstverwaltung in den Industriebetrieben, als die politischen Entscheidungen im Sinne des Kompromisses mit den alten Gewalten gefallen waren. In den ersten Wochen der Revolution waren die Arbeiter- und Soldatenräte die Träger der politischen und militärischen Macht. Bis etwa Weihnachten 1918 fehlte allen Plänen einer militärischen Gegenrevolution eine entsprechende Basis, wie sich mehrmals deutlich zeigte. Das änderte sich erst, als die Reichsregierung sich zu einer politischen Zusammenarbeit - einem Bündnis - mit der alten militärischen Führung entschloß, als die Freiwilligenverbände (Freikorps) unter der Führung alter Offiziere aufgebaut wurden und gleichzeitig die Soldatenräte wegen der fortgeschrittenen Demobilisierung des Heeres ihre eigene Basis verloren. In den Tagen des Umsturzes und auch danach verzichteten die Arbeiter- und Soldatenräte sehr weitgehend auf den Einsatz von Gewalt. Es wurde fast kein Blut vergossen, teils weil die Vertreter der alten Ordnung keinen nennenswerten Widerstand leisteten, teils weil die Aufständischen auf Racheakte verzichteten und eine breite Zustimmung suchten. Es ist im Rückblick geradezu verblüffend, mit wie geringen Ausschreitungen - das Herunterreißen der Schulterstücke von Offizieren gehörte schon zu den auffälligsten "Exzessen" - der Staatsumsturz am Ende eines so langen und furchtbaren Krieges vollzogen wurde. Die Räte enthielten sich als die neuen Machthaber auch in einem erstaunlichen Maße der direkten Eingriffe in die Verwaltung oder die Betriebe. Sie unterstützten die neuen Regierungen und warteten darauf, daß diese die Initiative zur politisch-gesellschaftlichen Neuordnung ergreifen würden. Wenn die Regierungen in ihrem Bemühen, das befürchtete "Chaos" zu vermeiden, die Rückführung und Demobilisierung der Truppen zu sichern, eine notdürftige Versorgung mit Lebensmitteln und Kohle sicherzustellen, die Umstellung von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft zu bewältigen und die Einheit des Reiches zu erhalten, erfolgreich waren, hatten sie das in einem erheblichen Umfang der pragmatischen Einstellung und dem praktischen Handeln der Arbeiter- und Soldatenräte zu verdanken.

Trotz ihrer praktischen Mäßigung hatten die Arbeiter- und Soldatenräte ein eindeutiges Programm, das angesichts der spontanen Entstehung der revolutionären Bewegung in den lokalen und regionalen Verlautbarungen von Anfang an eine erstaunliche Einheitlichkeit aufweist. Sie forderten die Sicherung der durch die Revolution geschaffenen Machtverhältnisse und zugleich den Beginn entschiedener Demokratisierungsmaßnahmen. Dabei ging es vor allem um drei Bereiche: die Demokratisierung des Heeres, die Demokratisierung der staatlichen und kommunalen Verwaltung und die Demokratisierung der Wirtschaft. Gemeint waren in allen drei Fällen sowohl personelle als auch strukturelle Veränderungen. Für das Militär bedeutete das den Bruch mit den Traditionen des preußischen Offizierskorps und den Aufbau eines demokratischen Volksheeres. In der Verwaltung sollten nicht nur die obrigkeitsstaatlichen Strukturen, sondern auch die konservativ homogene Zusammensetzung der Beamtenschaft überwunden werden. In der Wirtschaft schließlich sollten einerseits die politisch unkontrollierte Macht der Großindustrie gebrochen, andererseits die Arbeiterselbstverwaltung oder Mitbestimmung in den Betrieben durchgesetzt werden. Alle diese Änderungen waren selbstverständlich nur in einem längeren Prozeß zu verwirklichen. Worauf es ankam, war jedoch, einen deutlich sichtbaren, politisch wirkungsvollen Anfang zu machen. Die Arbeiter- und Soldatenräte forderten deshalb mit Nachdruck, daß die Demokratisierung sofort, und zwar kraft revolutionären Rechts, von den Regierungen begonnen werde - ohne auf den Zusammentritt der Nationalversammlung zu warten.

Die sozialdemokratisch geführten Regierungen - im Reich, aber auch in den einzelnen Staaten - haben von dieser Möglichkeit im Winter 1918/19 jedoch keinen Gebrauch gemacht. Sie entschieden sich für eine Politik des scheinbar geringeren Risikos und vertagten grundsätzlich alle Entscheidungen, von denen sie annahmen, daß sie die innenpolitische Lage noch schwieriger machen würden. Es gab für solch eine Politik durchaus gewichtige Gründe, und man wird auch rückblickend kaum bestreiten können, daß eine energische Politik der Demokratisierung des Heeres, der Verwaltung und der Wirtschaft die Übergangsprobleme vermutlich verschärft, Sicherheit und Versorgung der Bevölkerung noch stärkeren Belastungen ausgesetzt hätte. Andererseits ist aber auch nicht zu leugnen, daß der Republik später das demokratische Fundament fehlte, das nur in diesen Wochen und Monaten hätte gelegt werden können, da die Wahlen zur Nationalversammlung (vorhersehbar) keine sozialdemokratische Mehrheit brachten und die Koalition mit bürgerlichen Parteien der Neuordnung enge Grenzen setzte. Das Warten auf ruhigere Zeiten bedeutet in revolutionären Phasen mit einiger Sicherheit den unausgesprochenen Verzicht auf grundlegende Veränderungen: Eine Gesellschaft, die sich wieder stabilisiert hat, wird in aller Regel einschneidenden Strukturveränderungen gegenüber nicht sehr aufgeschlossen sein. Hinzu kommt, daß die Politik der Risikovermeidung ihre eigenen Risiken hat. Das zeigt die allgemeine Geschichte der Weimarer Republik, und das zeigt auch schon der Verlauf des Revolutionsprozesses 1918/19. Aus dem Ausbleiben der Reformen resultierte die Radikalisierung der Massen, und die zunehmende Entfremdung zwischen den Massen und der sozialdemokratischen Führung bewirkte eine Schwächung der neuen Regierungen in der Auseinandersetzung mit der politischen Rechten. Der Bürgerkrieg, den zu vermeiden man Kompromisse mit den Funktionsträgern des alten Systems, mit den Gegnern der Demokratie, schloß, fand ab Anfang Januar doch statt - nun aber im Bündnis mit dem alten Offizierskorps gegen jene Massen, die in ihrer großen Mehrheit wenig früher die Regierungen gestützt hatten. Wie naheliegend auch immer die Politik der Nicht-Revolution - denn genau darum handelte es sich - gewesen sein mag, im Lichte der nachfolgenden Entwicklung muß sie als kurzsichtig und letztlich verhängnisvoll betrachtet werden.

Muß die Revolution damit als gescheitert bezeichnet werden? Die Antwort kann nur Ja und Nein lauten. Sie hatte zweifellos bemerkenswerte Erfolge: den Sturz der Monarchie, der endgültig blieb; die Durchsetzung eines umfassenden demokratischen Wahlrechts für Frauen und Männer; die Begründung einer parlamentarischen Demokratie und die Erarbeitung einer in vielfacher Hinsicht vorbildlichen Verfassung; die Einführung des Acht-Stunden-Tages und die Weiterentwicklung des Sozialstaates; den relativ glatten Übergang zur Friedenswirtschaft mit einer sehr viel geringeren Arbeitslosigkeit als allgemein befürchtet; nicht zuletzt auch die Erhaltung der Reichseinheit. Insofern wäre es gewiß falsch, von einem Scheitern zu sprechen. Es ist aber andererseits ebenso klar, daß wesentliche Ziele der revolutionären Bewegung uneingelöst blieben; daß die neue politische Ordnung auf schwachen Füßen stand; daß die antidemokratischen Kräfte nicht genügend geschwächt, sondern vorzeitig stabilisiert waren; daß die Koalition zwischen Sozialdemokraten und bürgerlichen Parteien wenig belastbar war; daß die Spaltung innerhalb der deutschen Arbeiterbewegung entscheidend verschärft worden war; daß viele der revolutionären "Errungenschaften" von relativ kurzer Dauer waren; daß schließlich die demokratische Republik nach nur vierzehn Jahren durch das nationalsozialistische Terrorsystem abgelöst wurde, mit all den bekannten Folgen für die deutsche und die europäische Geschichte.

Man wird deshalb besser von einer unvollendeten, einer steckengebliebenen, einer nur teilweise erfolgreichen Revolution sprechen. Die Chancen, die - unter schwierigen Umständen gewiß - für eine demokratische Neuordnung in Deutschland gegeben waren, sind jedenfalls nicht in der für einen dauerhaften Erfolg notwendigen Weise genutzt worden. Ernst Fraenkel, der in die USA emigrierte sozialdemokratische Jurist und Politikwissenschaftler, schrieb 1943 in einer Reflexion zum 25. Jahrestag des 9. November 1918 in der deutschsprachigen New Yorker "Neuen Volkszeitung":

"Die einen haben uns entrüstet vorgeworfen, daß wir Sozialdemokraten eine Revolution, die anderen ebenso entrüstet, daß wir keine Revolution gemacht hätten. In diesem doppelten Vorwurf spiegelt sich die Logik eines Umsturzes wider, der einen politischen Umsturz herbeiführte, aber eine soziale Revolution vermied. Und weil der Neunte November somit eine halbe Revolution war - unter den besonderen Verhältnissen des verlorenen Krieges damals nichts anderes sein konnte -, ist uns vierzehn Jahre später eine ganze Niederlage bereitet worden."

Daß es nur eine halbe Revolution sein konnte, ist, wie ich versucht habe zu zeigen, durch die Ergebnisse der neueren Forschung widerlegt worden. Der Zusammenhang zwischen der "halben Revolution" von 1918 und der "ganzen Niederlage" von 1933 ist hier jedoch sehr eindrucksvoll formuliert.

Die vor allem in den späten siebziger Jahren erfolgten Versuche, die Ergebnisse der Revolutionsforschung wieder in Frage zu stellen, sind insgesamt erfolglos geblieben. Die Kritik an einem unkritischen "Räte"-Enthusiasmus in einem Teil der Forschung seit den späten sechziger Jahren war nicht unberechtigt, doch spielen diese Diskussionen heute praktisch keine Rolle mehr. In den letzten zehn Jahren sind weder grundlegende neue Forschungen zur Revolutionsgeschichte vorgelegt worden, noch ist die Interpretation der Revolution Gegenstand größerer polemischer Auseinandersetzungen gewesen. Es ist insgesamt eher still um die Revolutionsgeschichte geworden. Seit den frühen achtziger Jahren hat die Revolutionsforschung offensichtlich die Dynamik verloren, die sie zwei Jahrzehnte lang ausgezeichnet hatte. Das mag seinen Grund ganz einfach darin haben, daß nach einer langen Zeit intensiver Forschung eine Art natürlicher Erschöpfung eintritt, zumal dann, wenn die Grundfragen nicht mehr strittig erscheinen. Es dürfte aber auch mit Veränderungen allgemeinerer Art in der Geschichtswissenschaft zu tun haben.

Die Revolutionsforschung ist in ihrer inhaltlichen Orientierung aus dem Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung entstanden, während sie in methodischer Hinsicht vor allem der politischen Sozialgeschichte verpflichtet ist. Beides - die Geschichte der Arbeiterbewegung und die politische Sozialgeschichte - war in den sechziger und siebziger Jahren ebenso neu wie aufregend. Eine jüngere, kritische Generation von Wissenschaftlern bediente sich dieser Ansätze, um die bis dahin dominierende Geschichtsschreibung herauszufordern. Die Revolutionsforschung war damit Teil eines insgesamt durchaus erfolgreichen Erneuerungsversuches in der Geschichtswissenschaft. Was als Widerspruch formuliert, als Kritik an den gegebenen Verhältnissen in Wissenschaft und Gesellschaft vorgetragen wurde, wurde jedoch im Laufe der Jahre selbst zum früher vielgeschmähten "Establishment". Aus den oppositionellen Vertretern einer jüngeren Generation wurden etablierte Professoren, aus den Gegenentwürfen wurde eine neue "herrschende Lehre", und auch die politische Sozialgeschichte wurde allmählich zum alten Hut - nicht wirklich überholt, aber nicht mehr provozierend, auch nicht mehr faszinierend. Ihre Stelle wurde von neuen Richtungen übernommen: vor allem der Alltagsgeschichte und der Frauen- und Geschlechtergeschichte, um nur die beiden wichtigsten Neuentwicklungen zu nennen. Auch hier verbanden sich politische und soziale Bewegungen und Ansätze zu einer umfassenden theoretischen Neuorientierung mit geschichtswissenschaftlichen Neuansätzen - mit der gleichen Dynamik, wie sie zuvor die Geschichte der Arbeiterbewegung und mit ihr auch die Revolutionsgeschichte besessen hatten. Vergegenwärtigt man sich diese veränderten Rahmenbedingungen, so ist schwer vorstellbar, daß die Revolutionsgeschichtsschreibung künftig noch einmal einen so hohen Stellenwert für die Erneuerung der Geschichtswissenschaft haben wird, wie er ihr in den sechziger und siebziger Jahren zuerkannt wurde.

Die Auswirkungen der politischen Veränderungen in Deutschland seit 1989 auf die Beschäftigung mit der Revolution von 1918 scheinen mir widersprüchlich, insgesamt aber eher negativ. Die Existenz zweier gegensätzlicher deutscher Staaten führte zu einem ständigen Ringen um die Interpretation und Aneignung der gemeinsamen Geschichte. Die hohe Bedeutung, die der Revolution von 1918/19 in der DDR zugemessen wurde, ließ sie zu einem Brennpunkt dieser Auseinandersetzungen werden. Das Nebeneinander zweier deutscher Geschichtswissenschaften führte zweifellos zu Verkrampfungen und überflüssigen Polemiken, aber es bedeutete auch eine große Chance für die Erforschung der Revolutionsgeschichte, wie nicht zuletzt in der Erschließung und Veröffentlichung umfangreichen Quellenmaterials durch die DDR-Historiker erkennbar wurde. Inzwischen sind wir gewissermaßen zur "Normalität" zurückgekehrt: Es gibt nur noch eine deutsche Geschichtswissenschaft (die in sich glücklicherweise nicht völlig homogen ist), und die besondere Herausforderung durch die DDR-Geschichtswissenschaft wird uns - auch wenn es im allgemeinen keinen Grund gibt, dem SED-System oder dem Marxismus-Leninismus nachzutrauern - künftig fehlen.

Betrachtet man die "Wende" in der DDR als Revolution - und es gibt meines Erachtens gute Gründe, die Ereignisse im Herbst 1989 in revolutionsgeschichtlichen und revolutionstheoretischen Zusammenhängen zu sehen -, dann hätte aus ihr ein neues Interesse auch an der Revolution von 1918/19 resultieren können. Immerhin war einiges (natürlich nicht alles) vergleichbar: Das bestehende Herrschafts- und Gesellschaftssystem schien bis unmittelbar vor seinem Ende stabil und nicht ernsthaft gefährdet. Die Mobilisierung der Systemgegner, der Unzufriedenen und Protestierenden, erfolgte öffentlich, auf den Straßen und Plätzen, in Demonstrationen. Es gab keine Planung und Organisation, aber es gab eine Massenstimmung und eine politische Situation, aus der heraus sich eine ebenso unvorhergesehene wie unwiderstehliche Dynamik entwickelte. Unwiderstehlich war sie allerdings nur, weil das herrschende System nicht kämpfte, die durchaus vorhandenen militärischen Machtmittel nicht oder nicht konsequent einsetzte. Der Massenbewegung korrespondierte eine zunehmende Paralysierung der Funktionsträger des alten Systems, die nicht zuletzt durch die Beobachtung der internationalen Entwicklung ausgelöst wurde. Die Forderungen zielten zunächst nicht auf einen Umsturz, sondern auf Veränderungen innerhalb des vorgegebenen Rahmens. Erst aus der Reformunfähigkeit des alten Systems resultierten die weitergehenden, das System sprungenden Forderungen, und erst der überraschende Zusammenbruch der alten Gewalten führte eine Situation des revolutionären Neuanfangs herbei.

Hier enden allerdings die Parallelen. 1918 waren die Arbeiter- und Soldatenräte zunächst in der Lage, die Macht zu übernehmen, die militärischen und zivilen Einrichtungen zu kontrollieren. Sie konnten dabei auf die politische Schulung und die organisatorische Erfahrung der deutschen Arbeiterbewegung zurückgreifen, und sie konnten sich auf die Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Parteien und auch den Gewerkschaften stützen. Alle diese Voraussetzungen fehlten in der DDR, in der die Oppositionsbewegung nur in unwesentlichem Maße auf eigene kleine Organisationskerne zurückgreifen konnte und in der es unter den etablierten Parteien und Massenorganisationen keine verläßlichen Bündnispartner gab. Auf das Machtvakuum, das angesichts des Wegbrechens der Träger des alten Systems plötzlich entstand, war die Massenbewegung nicht vorbereitet, konnte sie auch gar nicht vorbereitet sein, so daß nun andere politische Kräfte, insbesondere aus den bisherigen "Blockparteien", eine ebenso unverhoffte wie unverdiente Chance erhielten.

Auf die Tatsache, daß man plötzlich entdeckte, daß man die DDR gar nicht reformieren müsse, sondern einfach aufgeben könne, daß der Anschluß an die Bundesrepublik die Auseinandersetzungen um eine innere Neuordnung ersetzen könne, brauche ich hier nicht näher einzugehen. In unserem Zusammenhang geht es ja nicht um die Geschichte der steckengebliebenen Revolution von 1989, sondern um die Frage, welche Auswirkungen diese ebenso überraschende wie fundamentale Erfahrung auf die Beschäftigung mit der Revolutionsgeschichte gehabt hat oder noch hat. Erstaunlicherweise hat die Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Revolution, die von einer spontanen Massenbewegung getragen war, nicht zu einer nennenswerten Belebung des Interesses an der Geschichte von 1918/19 oder auch an allgemeinen revolutionstheoretischen Fragen geführt. Mit der konservativen politisch-gesellschaftlichen Entwicklung im allgemeinen und dem Anschluß der DDR-Territorien an die Bundesrepublik im besonderen haben bei uns die Skepsis und das Mißtrauen gegenüber revolutionären oder radikalreformerischen Tendenzen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart offensichtlich stark zugenommen. Durch die Blockierung einer grundsätzlichen Erneuerungsdiskussion, einschließlich der Entscheidung gegen eine neue Verfassung, fehlen auch die Anstöße für ein öffentliches Überdenken unserer Geschichtsbilder. Man wird sogar sagen müssen, daß das so überraschende Ende der DDR nur einen sehr kurzlebigen Optimismus hervorgebracht, inzwischen aber eher eine generelle Verunsicherung zur Folge hat. Ganz abgesehen von den aktuellen wirtschaftlichen und anderen Problemen ist die Erfahrung, daß ein Staat wie die DDR plötzlich verschwindet, ein Weltreich wie die Sowjetunion sich auflöst, grundsätzlich beunruhigend, weil die Geschichte offensichtlich viel weniger kalkulierbar, viel weniger vorhersehbar ist, als wir alle bis 1989 angenommen hatten.

Für die Historiker sollte die Erfahrung der Jahre 1989 bis 1991 eigentlich eher eine stimulierende, eine befreiende Wirkung haben. Diese Erfahrung zeigt, daß der historische Prozeß nicht völlig berechenbar ist, daß es unvorhergesehene, vielleicht unvorhersehbare Entwicklungen gibt, daß die Geschichte trotz aller unbestreitbaren Bedeutung von Strukturen und langfristigen Prozessen offen ist. Und das hat natürlich auch Bedeutung für den Umgang mit 1918/19: Wenn wir das Unerwartete ernstnehmen, erweitern sich auch in der historischen Analyse die Spielräume der politisch Handelnden, tritt die (relative) Offenheit der historischen Situation um so deutlicher hervor, wird allen deterministischen Interpretationen ein Riegel vorgeschoben.

Die Erfahrung der letzten Jahre sollte uns darüber hinaus Anlaß sein, die zentralen Kategorien und Begriffe unseres Umgangs mit der Revolutionsgeschichte zu überprüfen. Es war schon früher klar, daß die herkömmliche Unterscheidung zwischen "bürgerlichen" Revolutionen und "sozialistischen" Revolutionen wenig ergiebig ist, und auch die DDR-Geschichtswissenschaft hatte im Hinblick auf 1918 damit schon unübersehbare Probleme. Als ebenso unergiebig erweist sich immer mehr die schematische Gegenüberstellung von "Sozialismus" und "Kapitalismus", wo es doch auf die möglichst präzise Darstellung und Analyse der jeweiligen Verhältnisse ankommt, die mit einem so groben Raster offensichtlich nicht zu leisten sind. So wenig es heute noch möglich ist, mit der Annahme zu arbeiten, daß mit einem Übergang zum "Sozialismus", was immer man darunter konkret verstehen mag, alle wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen gelöst sind, so wenig ist es auch sinnvoll, mit einem undifferenzierten, positiv besetzten Begriff von "Kapitalismus" oder "Marktwirtschaft" zu operieren. Gerade im Hinblick auf 1918/19 könnte das bedeuten, daß falsche Frontstellungen aufgegeben, unfruchtbare Polemiken vermieden werden.

Selbst die seit dem Zeitalter der Französischen Revolution übliche Gegenüberstellung von "Revolution" und "Reform" scheint inzwischen immer weniger zu greifen. Es gibt offensichtlich Revolutionen, die nur kurzfristige und wenig tiefgreifende Veränderungen bewirken, und es gibt Reformen, die eine Gesellschaft langfristig und wirkungsvoll umgestalten. Reformen können eine systemsprengende Kraft entfalten, Revolutionen sind nicht notwendig mit Gewalt und Blutvergießen verbunden. Demokratie kann in Diktaturen auch durch eine allmähliche Veränderung des Systems oder eine unblutige Machtübernahme durchgesetzt werden, wie zunächst die Geschichte Spaniens, Portugals und Griechenlands, dann die Geschichte Polens, Ungarns, der CSSR und schließlich auch der DDR gezeigt hat. Das klassische Modell europäischer Revolutionen, für das 1789 und 1917 Pate stehen, ist immer weniger geeignet, die tatsächlichen Systemänderungen im 20. Jahrhundert zu erklären, wie nicht zuletzt die Ereignisse von 1989/90 in der DDR verdeutlichen. Auch die Ambivalenzen der Revolution von 1918/19 lassen sich zumindest teilweise daraus erklären, daß in ihr zum ersten Mal die im 19. Jahrhundert verfestigten Vorstellungen von einer Revolution auf die realen Verhältnisse einer entwickelten Gesellschaft im 20. Jahrhundert trafen.

Bis heute ist den Deutschen in der Regel - von den sarkastischen Formulierungen des jungen Karl Marx bis zu den Historikern des sogenannten "deutschen Sonderwegs", in beiden Fällen bedauernd - die Fähigkeit zur Revolution abgesprochen worden. Deutschland gilt als das "Land ohne Revolution", genauer: das Land ohne eine erfolgreiche Revolution, so lautet ein Kernsatz der kritischen Geschichtsschreibung der sechziger und siebziger Jahre, und in der älteren deutschen Geschichtsschreibung stimmte man damit völlig überein, wenn auch mit umgekehrter Wertung. Ich erinnere nur daran, daß bis in die Mitte dieses Jahrhunderts Luthers Reformation als die eigentliche deutsche Revolution verstanden und das Fehlen erfolgreicher politischer Revolutionen positiv als Beweis der immer wieder erneuerten Reformfähigkeit deutscher Politik interpretiert wurde. Der Französischen Revolution von 1789 wurden die "preußischen Reformen" als der deutsche Weg des gemäßigten Fortschritts entgegengestellt. 1948 beklagte der Historiker Rudolf Stadelmann dann die politische Isolierung, in die Deutschland gegenüber seinen westlichen Nachbarn geraten sei. Das deutsche Volk, so hieß es bei ihm,

"wird in seinem politischen Wollen fast unbesehen von den anderen Nationen in das Schubfach der Reaktion geschoben und ein Etikett darüber geklebt mit der Aufschrift: Das Volk ohne Revolution. Der Mangel an Befreundung mit der Praxis und den Ideen der westeuropäischen Revolutionen, der Mangel an Erfahrung und Erziehung auf dem Feld der radikalen Abkehr von der absolutistischen Vergangenheit der neueren Jahrhunderte ist der eigentliche Pariastempel, der unserer Geschichte aufgeprägt ist seit etwa drei Generationen. Die Verfemung des deutschen Namens hat in dem Ausbleiben einer normalen revolutionären Pubertätskrise der deutschen Entwicklung ihre erste und wahrscheinlich ihre wichtigste Wurzel."

Die hier beklagte "Verfemung des deutschen Namens" hatte im Jahre 1948 zweifellos wichtigere und näherliegende Gründe. Davon abgesehen wurde hier jedoch die kritische Vorstellung von einem "deutschen Sonderweg", wie sie von einer liberalen und demokratischen Geschichtswissenschaft zur Erklärung des Nationalsozialismus entwickelt wurde, anschaulich skizziert. Das geschah zuerst in den angelsächsischen Ländern und mit einiger Verzögerung dann auch in der Bundesrepublik, seit den sechziger Jahren getragen von der jüngeren Generation deutscher Historiker. In der Tatsache, daß die bürgerliche Gesellschaft und der Nationalstaat in Deutschland ohne eine erfolgreiche Revolution ins Leben traten, wurde eine Hauptursache für die Entstehung und Durchsetzung des Nationalsozialismus gesehen. Die steckengebliebene Revolution von 1918/19 galt in solcher Sicht häufig vor allem als eine späte Bestätigung des Mißerfolgs von 1848.

Die Forschungen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte lassen solche Generalisierungen allerdings immer zweifelhafter erscheinen. Die erfolgreichen Revolutionen im England des 17. Jahrhunderts und im Frankreich von 1789 sind in der europäischen Geschichte zweifellos die Ausnahmen und nicht die Regel. Die französischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich in ihren Ergebnissen nicht entscheidend von anderen europäischen Ländern, wenn man an die blutige Unterdrückung der sozialen Unruhen und Aufstände 1848 wie 1871 denkt oder daran, daß aus der 1848 erkämpften Republik binnen kurzem wieder ein Kaiserreich wurde. Betrachten wir die deutsche Geschichte, so ist seit langem die Geschichte des Bauernkrieges in seiner Radikalität, seiner Ausdehnung und seiner historischen Bedeutung wiederentdeckt worden. Was schon Ranke das "größte Naturereignis in der Geschichte des deutschen Staates" und Friedrich Engels "die radikalste Tatsache der deutschen Geschichte" nannte, wird auch in der neueren Forschung programmatisch als "Die Revolution von 1525" bezeichnet. Kaum weniger wichtig ist die Feststellung, daß die herkömmliche Vorstellung, daß die Bauern mit der blutigen Niederlage im Bauernkrieg für Jahrhunderte aus der politischen Geschichte Deutschlands ausgeschieden seien, aufgrund neuerer Forschungen nicht mehr haltbar ist. Es hat vielmehr vom 16. bis ins 18. Jahrhundert eine nicht abreißende Kette bäuerlicher Widerstandsbewegungen in großen Teilen des deutschen Reiches gegeben. Allein für das 18. Jahrhundert sind inzwischen mindestens fünfzig bäuerliche Revolten nachgewiesen worden.

Auch im Zeitalter der Französischen Revolution hat es in Deutschland sehr viel mehr soziale Unruhen, radikale Schriften und Organisationen, auch revolutionäre Erschütterungen gegeben, als es dem landläufigen Bild entspricht. Erst seit den sechziger Jahren ist diese Tradition der demokratischen Bewegungen und Volksunruhen allmählich wiederentdeckt worden. Ähnliches gilt für die "vergessene Revolution" von 1830: In vielen Städten kam es zu Arbeiterunruhen, in mehr als der Hälfte aller Universitätsstädte zu Studentenunruhen, in einigen Fällen wurden Fürsten zur Flucht gezwungen oder zur Abdankung veranlaßt, vereinzelt wurden Schlösser abgebrannt und öffentliche Gebäude gestürmt, es fehlte auch nicht an revolutionären Bauernhaufen. Das alles blieb regional isoliert, so daß die Obrigkeiten sich schließlich militärisch durchsetzen konnten, aber es kam dennoch zu lange verzögerten Reformen und zu längst geforderten neuen Verfassungen. Die revolutionären Unruhen waren zwar gescheitert, aber sie waren nicht ohne Wirkung und Erfolg. In noch stärkerem Maße läßt sich das von der Revolution von 1848/49 sagen. Hier war eine große Volksbewegung im ersten Anlauf überall erfolgreich, in Wien und Berlin nach heftigen Kämpfen, ehe die alten Gewalten schon im Frühsommer wiedererstärkten und allmählich wieder das Übergewicht erhielten. Erst im Laufe des Revolutionsprozesses traten die Interessendivergenzen zwischen den unteren Volksschichten und dem Bürgertum immer stärker hervor. Durch die neuere Forschung ist die ältere Fixierung auf die Frankfurter Nationalversammlung längst überwunden, sind die starken revolutionären Strömungen in den Regionen und Gemeinden deutlicher sichtbar geworden. Daß die deutschen Revolutionäre ganz überwiegend einen gemäßigten Kurs steuerten, unterscheidet sie nicht von den Anfängen der Französischen Nationalversammlung von 1789, und daß sie ihre Ziele letztlich nicht erreichten - dieses Schicksal teilten sie 1848 mit allen anderen europäischen Nationen.

Ergänzt man diese Skizze um 1918/19, als es in Deutschland die größte revolutionäre Massenbewegung außerhalb Rußlands gab, und bezieht man auch die Revolution vom Herbst 1989 mit ein, so ist deutlich, daß die ältere Vorstellung von Deutschland als dem Land ohne Revolutionen und Revolutionäre nicht mehr zu halten ist. Das bedeutet nicht, daß man die eine Vereinfachung nun durch eine andere ersetzen sollte. Deutschland ist nicht ein Land mit ausgeprägten revolutionären Traditionen, aber es unterscheidet sich auch nicht so wesentlich, wie früher angenommen wurde, von der Geschichte anderer europäischer Länder. Die Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 zwingt uns jedoch, gemeinsam mit den angedeuteten anderen neueren Forschungsergebnissen, den Charakter der neueren deutschen Geschichte erneut zu überdenken, und durch die Erfahrung von 1989 wird diese Aufgabe um so dringlicher. Seit die Historiker mehr auf die Spannungen und Widersprüche, das Unangepaßte und das Aufbegehrende achten, wird auch in der deutschen Geschichte ständig mehr davon sichtbar. Plötzlich werden regionale Traditionen des Widerstandes gegen die Obrigkeiten wieder wichtiger, werden in der Sozialgeschichte des Alltags auch die vielen kleinen, durchaus nicht immer erfolglosen Abwehrkämpfe gegen Modernisierung, Zentralisierung und Homogenisierung der Verhältnisse bedeutsam. Stellt man das, was 1918/19 geschehen ist, in solche Zusammenhänge, verändern sich die herkömmlichen Vorstellungen von Mentalitäten und Handlungsmustern in der deutschen Geschichte.

Was immer allerdings die Historiker heute über die einzelnen Revolutionen und revolutionären Bewegungen herausfinden mögen -es bleibt eine Tatsache, daß diese Revolutionen in Deutschland bislang keine positive traditionsbildende Kraft entwickelt haben. Im Gegenteil, diese Traditionen wurden mehr oder weniger systematisch unterdrückt. Ansätze zu einer positiven Erinnerung an den Bauernkrieg gab es nur in sehr kleinen Teilen des bürgerlichen Lagers, in der sozialistischen Arbeiterbewegung und schließlich in der DDR. Im Hinblick auf die 48er Revolution ist immer wieder mit Erfolg versucht worden, die Geschichte dieser Revolution dafür zu benutzen, dem deutschen Volk das Gefühl seiner politischen Unmündigkeit zu vermitteln, seiner Unfähigkeit, das eigene Schicksal verantwortlich zu gestalten. Man sprach vom "Professorenparlament" (obwohl es eigentlich ein Juristenparlament war), vom angeblichen "Doktrinarismus" der Liberalen und Demokraten, vom "tatenarmen Idealismus", vom mangelnden Sinn für die Macht, auch von der angeblich bloß zerstörerischen Wirkung des Radikalismus - alles das waren sogenannte "Lehren" aus der Revolution, die in erster Linie dazu dienten, jeden Gedanken an eine Wiederholung des gescheiterten Versuchs zu ersticken, die Überlegenheit der alten Herrschaftseliten zu demonstrieren und die deutschen Bürger für die Fortdauer des Obrigkeitsstaates zu präparieren. Daß die Revolution von 1848 auch Erfolge hatte, daß keineswegs alle ihre "Errungenschaften" rückgängig gemacht wurden, daß nur durch sie auch Preußen zu einem Verfassungsstaat wurde, daß auch die Verfassungsarbeiten der Paulskirche nicht verloren waren, daß durchaus nicht nur theoretisiert, sondern auch gehandelt und gekämpft wurde - all das geriet nicht nur in Vergessenheit, sondern fiel einem konservativen Verständnis von Geschichte und Politik absichtsvoll zum Opfer.

Die Verdrängung jeder positiven Revolutionserfahrung spiegelt sich noch deutlicher im Umgang mit der Revolution von 1918/19. Das Selbstverständnis der Weimarer Republik (und ihrer Träger) gründete sich nicht auf die Revolution, sondern deren Überwindung. Nicht nur die bürgerlich-demokratischen Kräfte, sondern auch die Sozialdemokraten distanzierten sich sehr rasch und eindeutig von der Revolution. Als Philipp Scheidemann am 9. November 1918 die Republik ausrief, begann er mit dem Satz: "Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt." Er versuchte, sich und die Mehrheitssozialdemokratie an die Spitze der revolutionären Bewegung zu stellen, durchaus mit Erfolg. Als er zehn Jahre später in seinen Memoiren den gleichen Vorgang darstellte, bot er nicht nur eine neue Fassung seiner damaligen Rede, in der nun in erster Linie vom verlorenen Krieg und (in Abwehr der "Dolchstoßlegende") von den wahrhaft Schuldigen an Krieg und Zusammenbruch die Rede war, sondern auch die dramatische Schilderung einer Entscheidungssituation, in der es um "Demokratie" oder "Bolschewismus" ging. Der eigentliche Sinn der Ausrufung der Republik war nun die "Abwehr des Bolschewismus". Im gleichen Jahr erschien ein repräsentativer Band über "Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918-1928", der von der Reichsregierung unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller herausgegeben wurde. Hier gab es nur einen einzigen Beitrag, der sich mit der Revolutionszeit beschäftigte: Er trug den Titel "Die Abwehr des Bolschewismus" und war von Gustav Noske verfaßt. Man berief sich nicht mehr auf die Revolution, sondern versuchte sie allenfalls dadurch zu rechtfertigen, daß man mit ihr "Schlimmeres verhütet" habe. Die Frontstellung nach links wurde sehr viel schärfer gezogen als die Frontstellung nach rechts - aus der Revolution wurde ein bloßer "Zusammenbruch", eine schwere Krise, und Scheidemann sprach in der Fassung seiner Rede von 1928 nicht zufällig von den Konservativen und Reaktionären als den "eigentlich Schuldigen" am 9. November.

Auch gescheiterte Revolutionen können, wie die internationale sozialistische Bewegung am Beispiel der Pariser Commune gezeigt hat, eine Quelle der Kraft und der Ermutigung für die unterlegene Sache werden. Was das für die Herausbildung demokratisch-revolutionärer Traditionen in Deutschland hätte bedeuten können, kann man dem bereits zitierten Artikel von Ernst Fraenkel entnehmen. Es heißt dort:

"Was immer man auch sonst vom 9. November halten mag, jenes Beispiel wird geschichtsbildende Kraft behalten. Ein Volk, das einmal in kritischer Stunde sein Geschick in die eigene Hand genommen hat, wird auf die Dauer niemals wieder ganz entmündigt werden können."

Das war im Jahre 1943 gewiß eine kühne Behauptung, eher Ausdruck einer Hoffnung als eine Tatsachenfeststellung. Es bleibt jedoch ein verlockender Gedanke, daß künftig die Revolution von 1918/19, aber auch die revolutionären Bewegungen in der DDR im Herbst 1989, einen so definierten Platz im historisch-politischen Selbstverständnis des deutschen Volkes haben könnten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1998

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