FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 95]

Zwei deutsche Staaten - eine Nation Die SPD und die nationale Frage in den achtziger Jahren

Bernd Faulenbach

Wir setzen unseren Kongreß mit der Podiumsdiskussion "Zwei deutsche Staaten - eine Nation. Die SPD und die nationale Frage in den achtziger Jahren" fort. Keine Frage - das ist heute morgen wiederholt angeklungen -, daß die Sozialdemokraten im Jahre 1989/90 Schwierigkeiten hatten, die Relevanz der nationalen Frage zutreffend einzuschätzen, was der Erklärung bedarf. Sie teilte diese Schwierigkeiten mit größeren Teilen der westdeutschen Öffentlichkeit, vielleicht der gesamtdeutschen Öffentlichkeit, nicht zuletzt mit zahlreichen Intellektuellen, die sich sogar gegen den Vereinigungsprozeß gestemmt haben, was die SPD allerdings nicht tat.

Für die Sozialdemokratie kann man diese Fragen diskutieren auf dem Hintergrunde einer langen, schwierigen Geschichte der Sozialdemokratie mit der nationalen Frage. Dies wollen wir hier nicht tun. Aber es spielt schon eine Rolle, daß die Sozialdemokratie in der Nachkriegszeit gleichsam die Deutschlandpartei par excellence gewesen ist, die gleiche Sozialdemokratie, die dann in den 80er Jahren, 1989/90, ihre Probleme hatte und sie wohl gegenwärtig noch hat.

Wir haben nun in dieser Diskussion mehreres zugleich zu versuchen. Wir müssen versuchen, einmal bestimmte Haltungen in den 80er Jahren in Erinnerung zu rufen, gleichsam zu rekonstruieren, zum anderen sie kritisch zu würdigen und in einem dritten Schritt daraus einige Schlußfolgerungen für die gegenwärtige Orientierung zu ziehen. Um in die Diskussion hineinzukommen, könnte man vielleicht fünf Fragen vorweg formulieren.

Die erste Frage, bezogen auf die 80er Jahre: Ist die deutsche Frage in der Öffentlichkeit von den Parteien, insbesondere von der SPD, zutreffend eingeschätzt worden? Welche Ursachen waren maßgeblich für eventuelle Fehleinschätzungen, falls man denn von ihnen ausgeht?

[Seite der Druckausgabe: 96]

Welche Rolle spielten dabei generationelle Prägungen? Ich will nur an das Stichwort "68er" erinnern: Nachdem viele 68er lange gemeint haben, sie hätten gleichsam die Demokratie in der Bundesrepublik erst eingeführt, fungieren sie jetzt zunehmend als Sündenbock für alles, auch für eine Fehlorientierung im Hinblick auf die nationale Frage.

Zweiter Fragenkomplex: Inwieweit spielte die nationale Frage im politischen Kalkül der Bonner Politik in den 80er Jahren eine Rolle? Inwieweit hätte sie sie spielen können und sollen? Inwieweit besaß die Frage nationaler Einheit Eigengewicht gegenüber der Sicherheitspolitik oder der Menschenrechtspolitik? Wurde sie mit diesen verknüpft gedacht, und wenn ja, in welcher Weise? Dies sind Fragen, die sich übrigens keineswegs nur für die Sozialdemokratie stellen, sondern insgesamt für die Bonner Politik.

Drittes Fragenbündel: In welcher Weise wurde die nationale Frage etwa mit Fragen der europäischen Politik verknüpft gedacht, mit Fragen der gesamteuropäischen Politik, aber auch mit der EG-Politik? War die Wiederherstellung der deutschen Einheit als Perspektive europäischer Politik wirklich zentral? Die Fragen stellen sich insbesondere auch in Hinblick auf die zweite Phase der Ostpolitik, wobei die Ostpolitik offenbar doch recht unterschiedlich gerade in diesem Punkte gepolt war.

Vierter Punkt: In den 80er Jahren hatten sich zahlreiche Menschen, jedenfalls in Westdeutschland, nicht nur mit der Zweistaatlichkeit abgefunden, sondern hielten sie für notwendig und sinnvoll. Dies gilt für größere Teile der SPD, versteckt hinter diesen Urteilen. Gab es so etwas, wie damals behauptet worden ist, wie einen Binationalisierungsprozeß in den Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR? Oder, anders formuliert, war die Idee einer postnationalen Identität für die Bundesrepublik in ähnlicher Weise ein Konstrukt wie die Idee einer sozialistischen Nation für die DDR? Hat das Konzept des Verfassungspatriotismus, das dann an die Stelle eines Nationalbewußtseins gesetzt worden ist, heute noch Bedeutung?

[Seite der Druckausgabe: 97]

Dies leitet vielleicht zum fünften Fragenkomplex über: Welche Rolle spielen Nationen im gegenwärtigen Europa? Welche Rolle sollte für die Deutschen der Begriff der Nation spielen, und wie gilt es die Nation dann zu definieren?

Ich möchte Ihnen die Teilnehmer der Diskussion kurz vorstellen: Herbert Ammon, Historiker in Berlin, der 1981 zusammen mit Peter Brandt das Buch "Die Linke und die nationale Frage" publiziert hat, das man als Plädoyer bezeichnen kann für eine nationale Politik der Linken. Dann auf der anderen Seite Prof. Dr. Wilfried von Bredow, Politikwissenschaftler aus Marburg, dessen Buch "Deutschland - ein Provisorium?" von 1985 für die Selbstanerkennung der Bundesrepublik plädierte und den Abschied von der Wiedervereinigung als Operationsziel der Politik erklärte. Dr. Edelbert Richter, Abgeordneter des Europäischen Parlaments, aus Thüringen, Mitglied der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD, repräsentiert hier auf dem Podium gleichsam die ehemalige DDR bzw. die Bürgerrechtler oder Oppositionellen aus der DDR, obgleich er einer der wenigen Oppositionellen war, die schon in den 80er Jahren auf die Bedeutung der nationalen Frage hingewiesen haben; insofern ist er ein untypischer Vertreter dieser Oppositionellen. Last but not least Prof. Dr. Hartmut Soell, Mitglied des Deutschen Bundestages, Zeithistoriker aus Heidelberg, ist in den 70er und 80er Jahren als Kritiker der Positionen des Mainstreams der Deutschland- und Sicherheitspolitik der SPD in vielen Situationen hervorgetreten.

Wir haben uns verständigt, daß die Teilnehmer dieses Panels zunächst ein kurzes Statement abgeben, in dem sie ihre Position charakterisieren. Ich darf Herbert Ammon bitten, anzufangen, vermutlich mit einer sehr kritischen Auseinandersetzung mit der Politik der SPD in den 80er Jahren unter dieser Fragestellung.

[Seite der Druckausgabe: 98 = Leerseite]

[Seite der Druckausgabe: 99]



Page Top

Herbert Ammon

Egon Bahr hat gemeint, die SPD sei keine Weltmacht. Das ist ein Unterstatement, denn zumindest die Friedrich-Ebert-Stiftung und große Teile der SPD verstehen sich als moralische Weltmacht, und diese kritisch anzunehmen und aufzunehmen ist natürlich eine Sisyphus-Arbeit. Ich will das jetzt mal versuchen. (...)

Zu den mir vorgelegten fünf Fragen:

Wenn wir von den sozialen Nöten - und allerlei Absurditäten: Stichwort Freizeitparks in Brandenburg - beim "Aufbau Ost" hören, so wird folgendes deutlich:

Die Nationalfrage ist auch eine soziale Frage, wesentlich war sie dies gerade für die demokratische Linke seit 1848, und sie ist eben auch eine mentale und moralische Frage, und die drei Dinge sind nicht leicht voneinander zu trennen. Das bringt mich zur ersten Frage:

Hat man die nationale Frage falsch eingeschätzt? Was ist die nationale Frage? Was ist die Nation? Sie ist eben kein reiner Zweckverband, sondern ein hochkomplexes Phänomen der Moderne, die historisch bedingte und gewachsene Form der Vergesellschaftung, nach Max Weber dem Gemeinschaftstypus zugehörig. Sie muß nicht notwendig Sprachgemeinschaft sein, aber sie ist sicherlich Geschichts- und Gefühlsgemeinschaft, ein Kollektiv, das mir als Linkem natürlich, soweit ich mich so verstehe, eher suspekt ist. Bei Hans Ebeling, der unlängst ein Büchlein mit dem Titel "Die beschädigte Identität" produziert hat, lese ich den Begriff "Identifikationsgemeinschaft".

Es geht also um eine historisch-politische Willensgemeinschaft, hier der Deutschen, und das bedeutete in den 80er Jahren als politische Zielsetzung die Überwindung der staatlich-politischen Teilung, in welcher Form immer. Daß dieser Wille nun auch 1989/90 hinausgeschrien wurde in Leipzig, hat Teile derer, die sich im Westen Deutschlands als Linke bezeichnen, frappiert und zu Reaktionen genötigt, die dazu beitrugen, daß eine qualitative Veränderung des nationalen Zustands in Deutschland letztlich nicht erreicht wurde.

[Seite der Druckausgabe: 100]

Die nationale Frage wurde in den 80er Jahren - im Kontext der Raketendebatte - kurzfristig wieder entdeckt und etwas pathetisch aufgewertet durch den Begriff der nationalen Identität.

Die Abwehr dieses Komplexes "deutsche Frage": Blockrealität und deutsche Souveränitätsfrage kam aus allen politischen Lagern. Das ist nichts, was man der SPD speziell vorwerfen muß. Da reichte die große Koalition von Michael Stürmer bis Helmut Kohl und von Hans-Ulrich Wehler bis Jürgen Habermas, von politischen Vertretern zu schweigen. Über diese mehr intellektuelle oder ideologische Abwehr der Nationalfrage sollte hier noch diskutiert werden. Sie haben das Stichwort schon gegeben: Hans Mommsen gehörte zu denen, die den Status quo heiligten, indem er einer der Vertreter der These der Binationalisierung war. Es blieben eigentlich ganz wenige in der SPD, die sich mit der Thematik überhaupt befaßten. Meine Reverenz gilt hier Egon Bahr, der zu den Ausnahmen - vornehmlich in seiner "Antwort an Gorbatschow" - gehörte. Wie er es getan hat, darüber wird es sicherlich noch lange Streit geben, muß es auch Streit geben. Er hat es mit zunehmender Eigenwilligkeit, nicht nur Verliebtheit in seine Versuche, die Quadratur des Zirkels zu durchbrechen, getan, in Abwehr gegenüber den Kräften, die in diesen Zirkel hineinwirkten. Er hat es auch getan durch ein ständiges Zurückweichen vor der Position, die ideologisch dominant in seiner eigenen Partei wurde. Das ist etwas, was ich speziell auch kritisieren würde.

Die Ursache der Fehleinschätzung, warum man auf das, was sich 1989/90 in Europa, in Mitteleuropa, in Deutschland ereignet hat, so wenig vorbereitet war, ist ein äußerst verquicktes, verworrenes Ideologiegeflecht, vorrangig ein Generationsproblem, welches zur These der Binationalisierung beitrug, eine zunehmende Abwendung von, ein Desinteresse an der eigenen Geschichte, aber auch an der eigenen Realität, vermengt mit einer moralischen Attitüde, der Abwehr jeglicher nationalen Identifikation. Polemisch: Es war eine Mischung aus dieser zusehends sich durchsetzenden Toskana-Sentimentalität und der Scham-Attitüde.

[Seite der Druckausgabe: 101]

Dies gilt natürlich nicht für die ostpolitisch engagierten politischen Verantwortungsträger. Diese mußten sich aber in dem Machtgeflecht bewegen, das seit 1945 - natürlich kann man noch beliebig zurückgehen in der Geschichte - und den entsprechenden Geschichtsstationen, die heute früh genannt wurden, über der deutschen Realität lagerte. Was ich nicht verstehen kann, daß unter den politischen Profis, weniger Verantwortungsträgern, sich auch ein zunehmender Opportunismus breitmachte. Und dieser manifestierte sich in peinlicher Weise in dem Bekenntnis, etwa Horst Ehmkes - Sie können da auch andere nehmen -, zur Andreotti-Moral anno 1984: Che due stati germanici e il bisogno manere le due. (Es gibt zwei deutsche Staaten, und zwei sollen es bleiben.) Das ist die gesamteuropäische Wahrnehmung der ungeliebten potentiellen und realen Macht in der Mitte, das ist selbstverständlich. Nur, dem sich anzuschließen als deutscher Politiker verrät ein Maß an nicht nur vorauseilendem Gehorsam, sondern letztlich auch Mangel an Selbstachtung. Das ist ein Thema, das bis heute, trotz der neuen Einheit, kaum je angesprochen wird und das hier diskutiert werden sollte.

Um so peinlicher war dieses Bekenntnis, weil derselbe Horst Ehmke 1979 in dem Habermas-Doppelband "Stichworte zur geistigen Situation der Zeit" ein Plädoyer für den demokratischen Sozialismus im geeinten Deutschland abgelegt hatte. Diese schnellen Sprünge sind etwas, was mir sehr kennzeichnend zu sein scheint für die deutsche öffentliche Bewußtseinsverfassung. (...)

Zur zweiten Frage: Welche Rolle spielte die nationale Frage, die deutsche Frage in den 80er Jahren? Sie war, wie ich hier schon kurz andeutete, zentral. Sie war, wie kritische Analytiker erkennen konnten, wieder auferstanden durch die Sicherheitsdebatte, nur hielten es die einen für opportun (was legitim ist), nicht darüber zu reden, die anderen hielten es für ratsam, sie für nicht existent zu erklären. Die Folge war, daß auf die ganze Thematik, als sie nach der Entspannung der Sicherheitsdebatte in der Ära Gorbatschow plötzlich über uns hereinbrach, niemand vorbereitet war. Ich sehe darin natürlich die List der Vernunft. Der Gedanke stammt von einem klugen konservativen

[Seite der Druckausgabe: 102]

Kritiker, K.-H. Weißmann. Dieser hat in einem sehr interessanten Buch, das leider keine Perspektiven bietet, "Rückruf in die Geschichte" - er wurde dafür allein schon des Titels wegen gescholten -, zu Recht an folgendes erinnert: Ohne die allseitige Negierung der Frage seitens der politischen Klasse in Bonn hätte die politische Umwelt sehr viel ablehnender und abwehrender reagiert.

Was im Zusammenhang mit der vielbeschworenen politischen Moral nicht zu billigen ist, ist, daß man aus einem falschen Realitätsbegriff heraus die realen Menschenrechtsverletzungen, die reale Situation auch in der DDR, bewußt übersehen hat. Nun, ich erinnere nicht nur an die Salzgitter-Debatte, sondern eher an die Peinlichkeit, daß selbst Amnesty International erklärte, daß in der DDR keine politische Verfolgung und keine Folter stattfände. Beides traf nicht zu. Als Endziel einer Deutschlandpolitik, so wurde es wohl noch genannt, in allen Parteien - ich erinnere an die Programmdiskussion 1988 in der CDU - war die Reisefreiheit den Deutschen in der DDR, den im östlichen, ehedem mittleren Teil Lebenden angeboten worden. Das war ein bißchen wenig. Nochmal der Bezug zur europäischen Politik:

Dieser lag nahe durch die Stichworte eines Jacques Huntzinger, sodann durch die Reiseaktivitäten der sowjetischen Experten, die damit natürlich andere Ziele verfolgten, Falin, Portugalow, auch Jakowlew. Die deutsche Frage tauchte zum Glück auf in der Debatte der osteuropäischen Dissidenten und natürlich ganz manifest im Zusammenhang mit dem Havemann-Brief. Sie wurde dann aber sehr schnell auf der Linken wieder heruntergespielt. Das ging so weit, daß auch diejenigen, die sich in die Debatte über die europäische Zukunft eingeschaltet und die deutsche Frage zunächst aufgenommen hatten, nun plötzlich ihren ostmitteleuropäischen Freunden, Jaroslav Sabata und Jiri Dienstbier, die 1985/86 die deutsche Frage als zentral erkannt hatten, diesen Bezug auf die deutsche Frage aus den Papieren strichen.

Das führt nun zur vierten Frage: Warum hat man die deutsche Teilung vielfach für notwendig und sinnvoll erklärt? Es waren Vertreter des politischen und des intellektuellen Establishments, die den

[Seite der Druckausgabe: 103]

Status quo heiligten. Die Menschen in beiden Teilen Deutschlands hatten ja andere Aspirationen, wie in Meinungsumfragen zur deutschen Teilung regelmäßig zum Ausdruck kam: Um die 80 % der Befragten sprachen sich für die Einheit aus. Natürlich kosten Umfragen nichts, und als es teuer wurde, stellte sich nun ein Mangel an Opferbereitschaft heraus, ein Mangel an Solidarität, angeblich. Ich habe da noch meine Zweifel. Die Solidaritätsbereitschaft war zumindest 1989/90 sehr groß in Westdeutschland. Zu kritisieren ist hier in erster Linie das politische Kalkül Helmut Kohls, zu kritisieren ist aber auch die allgemein vorherrschende Tendenz der offiziellen Politik. Alle Aspirationen, die auf Einheit zielten, auf politische Einheit - nicht nur auf den Geldbeutel - wurden als Populismus abgetan. Und genauso begegnet man nach wie vor allen politischen Bewegungen von unten seitens der Machtträger, der Eliten, des Establishments. Das Abwehren von unliebsamen Faktoren hält an.

Was mich sehr irritiert, ist, daß, nachdem der Schock der Einheit stattgefunden hat, im intellektuellen Establishment die Tendenz zunimmt, die Manifestationen in Leipzig, die Montagsdemonstrationen, in die rechtsradikale Ecke zu schieben. Das ist ein nachträglicher Fußtritt für diese Menschen, die vielleicht schon am 3. Dezember - oder ist's der 5.? - nicht mehr viel riskierten, aber die zumindest von einer bemerkenswerten Lauterkeit getragen waren. Ich habe das erleben dürfen, und es gehört zu den wenigen erfreulichen Ereignissen meiner Lebensgeschichte. Dazu gehört auch die Diskrepanz zwischen einigen der Wortführer oben und dem Volk da unten. Die Ausnahme bildete Kurt Masur.

Ich möchte aber auf eines noch verweisen, was uns wieder zur sozialdemokratischen Geschichte zurückbringt. Am 18. November fand vor dem Dimitrow-Platz in Leipzig eine Demonstration statt, auf der ein 50jähriger Arbeiter seine Forderungen vortrug zur Veränderung des noch bestehenden Systems und zugleich die Hoffnung aussprach, daß im Zuge der jetzt friedlichen Veränderung der Verhältnisse auch unser gemeinsames Ziel, der gemeinsame Traum, verwirklicht werden könne, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.

[Seite der Druckausgabe: 104]

Solche Menschen abzutun als Traumtänzer oder, noch schlimmer, als Nationalisten, halte ich für ziemlich schamlos. Ich sehe diese Tendenz nicht nur in den Kommentaren, sondern bereits in den Schulbüchern, indem man die Selbstinterpretationen mancher der Wortführer für die Realität nimmt. Zur Teilungsideologie im Westen:

Statt einer Verantwortungsethik hatte man sich in der Bequemlichkeit des Status quo eingerichtet. Es war in jener Zeit, vor allem in Westdeutschland, zum Teil durchaus auch in West-Berlin intellektuelle Mode geworden, sich von der Nazi-Vergangenheit dergestalt zu verabschieden, daß man die nationale Frage negierte.

Ein Besuch in einem SPD-Parteigremium in Wilmersdorf lieferte mir da ein Schlüsselerlebnis. Die Vorsitzende, eine junge Dame, jünger als ich, sagte: "Ein Volk, das sich so was ausgedacht hat, mit dem möchte ich nichts mehr zu tun haben." Diese Borniertheit vermengte sich mit dem, was Tilman Fichter angedeutet hat, was bereits hier diskutiert wurde und noch weiter diskutiert werden sollte, mit den eigenartigen Tendenzen des politischen Protestantismus, der Verabsolutierung des Sühnegedankens als einer späten Aufgipfelung des verlorenen und zerstörten deutschen Idealismus. Das führt zu der Debatte, die heute wieder akut ist, über Verfassungspatriotismus.

In beiden Lagern, hier Karl-Dietrich Bracher, dort Jürgen H. Habermas, um nur diese beiden zu nennen, wurde die postnationale Demokratie verordnet, und man wußte sich natürlich im Einklang mit Westeuropa, um den Gedanken, der Frage 3 und Frage 5 zugrunde liegt, aufzunehmen. Die deutsche Frage wurde in Westeuropa immer als Funktion, und zwar als ungeliebte Funktion, der europäischen, westeuropäischen Einigung betrachtet. In dem Augenblick, wo die deutsche Frage in den 80er Jahren auftauchte, wurde die westeuropäische Integration forciert: Einheitliche europäische Akte etc. Zurück zu diesem eigenartigen Ideologiegeflecht, mit dem man der eigenen Realität sich entschlug, mit moralisch erhobenem Zeigefinger. Die postnationale Demokratie mag das sein, was in dem einzigen - selbst in Frankreich ist diese Realität komplexer, als es scheint -, dem einzigen post- oder nicht-nationalen Verfassungsgebilde existiert, in

[Seite der Druckausgabe: 105]

den Vereinigten Staaten. Ich halte sie für schwer, für nicht übertragbar auf die europäische Realität. Man könnte sich da, glaube ich, auch sehr schnell mit Herrn Reiter oder anderen Osteuropäern einigen. Ich sehe als verfänglich und gefährlich an, wie derzeit eine Doppeldebatte geführt wird, einmal beim Thema europäische Einigung die fehlende Kritik an den technokratischen Integrationsstrukturen, die nach Interpretation einiger Exponenten zur Aufhebung des Nationalstaates via Maastricht führen sollen, zum anderen in der Einwanderungsdebatte.

Wir erleben eine zunehmende Entfremdung - das war in den 80er Jahren schon deutlich - von Eliten und Volk, wir erleben eine soziale Desintegration, wir erleben eine Umkehrung des Verhältnisses zum Begriff staatlicher Macht: Die Linken entdecken ihre späte Liebe zum starken Staat etc. Wir übersehen dabei die Gefahren der, möglicherweise nicht zu bewältigenden. Moderne. Das alles ist verquickt mit der Frage der Nation, heute und in der überschaubaren Zukunft.

[Seite der Druckausgabe: 106 = Leerseite]

[Seite der Druckausgabe: 107]

Page Top

Wilfried von Bredow

Nicht alle, die in den 80er Jahren wie ich argumentiert haben, haben sich geirrt, die SPD hat sich geirrt. Ich will das thesenartig begründen und auch ein wenig differenzieren, denn diese Aussage war natürlich knalliger, als ich sie eigentlich meine. Ich fange an mit ein paar Vorbemerkungen, bevor ich dann zu einem Fazit komme.

Die erste Vorbemerkung ist auch so ein bißchen im Blick auf die Diskussion gestern und heute: Von dem Thema, mit dem wir uns beschäftigen, nämlich: Die SPD und ihre Ost- und Deutschlandpolitik 1982-89, fällt kein Schatten auf die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition. Alles, was jetzt etwa an Kritik formuliert wird, bezieht sich wirklich nur auf die Phase 1982-89. Bei dem ersten Teil des Referats von Egon Bahr habe ich sozusagen innerlich dauernd genickt, genickt, genickt, und bei dem zweiten Teil dann sehr heftig den Kopf geschüttelt.

Meine zweite Vorbemerkung ist: Die 80er Jahre, das war nun ein Jahrzehnt, in dem sich die weltpolitische und damit auch die ost- und deutschlandpolitische Konstellation dramatisch verändert hat. In seiner ersten Hälfte war dieses Jahrzehnt geprägt von eher düsteren sicherheitspolitischen Auspizien eines damals vielfach so genannten zweiten Kalten Krieges. Seit dem Ende 1986 kam es dann in rascher Folge zu Rüstungskontroll- und Abrüstungsmaßnahmen, und das Ost-West-Klima war mit einem Mal gänzlich anders geworden. Diese Veränderung verbietet es eigentlich, von den 80er Jahren als einer einheitlichen politischen Sequenz zu reden. Dies ist manchmal auch ein bißchen verwirrend, weil sich wirklich in der Mitte dieses Jahrzehnts entscheidende Parameter der Politik verändert haben.

Weiterhin, die SPD ist natürlich eine vielgestaltige politische Organisation, mit erheblichen internen Meinungsverschiedenheiten über fast jedes politische Thema, weswegen es sehr schwierig ist, allgemeine Aussagen über Vorstellungen der Partei insgesamt zu einem bestimmten Thema zu formulieren, ohne das immer wieder gleich relativieren zu müssen.

[Seite der Druckausgabe: 108]

Und schließlich: Daß das Ausmaß und die dramatischen Konsequenzen dieser und anderer Veränderungen seinerzeit von kaum jemandem richtig erkannt worden sind und von denen, die sie richtig erkannt haben, aus den falschen Prämissen heraus, das kann eigentlich wirklich nicht bestritten werden. Rückblicke verführen ja leicht dazu, die Pose nachholender Prophetie einzunehmen. Davor sollte man sich ein bißchen hüten, und überhaupt kann es ja auch gar nicht darum gehen. Vorwürfe zu formulieren, sondern es geht nur um die Erhellung der Sachverhalte.

Nun zu meinen Thesen.

These l: Die Haltung der SPD zur nationalen Frage in den 80er Jahren oszilliert zwischen zwei Positionen. Die erste - ich will gleich hinzufügen: analytisch klarsichtige und normative im Konsens der aufgeklärten politischen Mitte - sei an einem Diktum von Egon Bahr aus dem Jahre 1982 exemplifiziert. Da hat er gesagt oder geschrieben, in dem Dialogbuch: "Die Einheit Deutschlands ist nur als historischer Prozeß denkbar, eingebettet in die Entwicklung zwischen Ost und West, mehr das Ergebnis neuer Faktoren als alter Ansprüche. Über Deutschland kann erst wieder nachgedacht werden, wenn die Spaltung Europas nicht mehr existiert." Daß er dies jetzt so nicht mehr (mit einer kleinen Akzentverschiebung) gelten zu lassen scheint, hat mich verwirrt.

Die zweite Position ist knapp und eindeutig in dem Satz von Peter Glotz auf dem deutsch-deutschen Historikertreffen der Historischen Kommision des SPD-Vorstandes im März 1987 eingefangen, vermutlich von diesem Podium aus. Da hat er gesagt: "Es gibt im deutschen Fall ein Scheitern der nationalstaatlichen Geschichtsform, wir müssen dies endlich begreifen und endlich zu Politik machen." Das sind die beiden Positionen, zwischen denen die SPD sozusagen hin und her oszilliert hat.

These 2: Die zweite Position, die Glotzsche, für die es zahlreiche Zeugnisse in Reden und Schriften führender SPD-Politiker aus den 80er Jahren gibt und die an der Parteibasis noch vergröbert wurde, war gut gemeint, wirkte sich aber irritierend und verhängnisvoll aus.

[Seite der Druckausgabe: 109]

Die erste Position, die Egon Bahrsche, büßte allerdings auch viel von ihrer Klarheit ein, weil sie im Zuge der Umsetzung in ein politisches Handlungskonzept in einen realpolitischen Kurzhorizont gezwängt wurde. Das deutet sich in der oben aufgeführten Passage schon durch das, wenn auch sicherlich nicht so gemeinte, Denkverbot über Deutschland an: "Über Deutschland kann erst wieder nachgedacht werden ...", eine zumindest unglückliche Formulierung. Noch deutlicher aber wird es im nächsten Satz dieser Passage, wieder wörtlich:

"... und das werden wir nur erreichen, wenn eines Tages die Grenzen, die heute Stabilität garantieren, nicht mehr erforderlich sind, um die Stabilität zu garantieren."

Zweimal der Begriff Stabilität, der scheinbar dasselbe meint, aber natürlich nicht dasselbe meinen durfte. Die Gratwanderung zwischen Stabilität und Wandel war hier nicht mehr so fein ausjustiert wie in der Phase 1969-72.

These 3: Der realpolitische Kurzhorizont der SPD-Politik gegenüber den sozialistischen Ländern und auch der DDR samt deren Staatspartei, der SED, beruhte auf der falschen Prämisse von der Reformfähigkeit des Sowjetsozialismus. Diese Prämisse, die durch das Charisma Gorbatschows in der zweiten Hälfte der 80er Jahre an SPD-interner Akzeptanz noch gewann - und man muß gleich hinzufügen, sie war auch andernorts populär und wurde nur von Außenseitern bestritten -, bestimmte auch die SPD-Politik in der nationalen Frage und machte die mittel- und langfristige Perspektive einer deutschen Zweistaatlichkeit zu einer Art unverrückbarem Wahrnehmungsmuster der Politik.

These 4: Die Gründe für diese pseudo-realpolitische Verzerrung der Wahrnehmung politischer Verhältnisse sind vielfältig. Ich denke, daß da kleinere Nachlässigkeiten in der politischen Analyse oft sehr nachhaltige Auswirkungen bei der Formulierung von politischen Programmen haben. Die SPD geriet ja 1982 auch deshalb in die Opposition, weil sie die Regierung Schmidt nicht mehr ertragen wollte, und danach hatte sie große Probleme mit der Übernahme der Oppositionsrolle. In der Selbstwahrnehmung der Spitzenleute der SPD ver-

[Seite der Druckausgabe: 110]

fügte die Partei nach 1982 über ein außen- und sicherheitspolitisches Konzept, das dem der neuen Bundesregierung überlegen war. Von daher mag sich z. B. auch der Hang zur "Nebenaußenpolitik" auf dem Feld der Ost- und Deutschlandpolitik erklären lassen. Diese hat aber, entgegen der sozialdemokratischen Wahrnehmung auch von heute vormittag, nur gestört.

These 5: In meinen Augen war ungemein wirkungskräftig, daß die SPD ihre Ost- und Deutschlandpolitik gegen den hinhaltenden, aber bald überrannten Widerstand von Helmut Schmidt und wenigen anderen in eine ganz bestimmte sicherheitspolitische Perspektive einordnete, die von apokalyptischen Erwartungen der Friedensbewegung geprägt war. Die "Angst vor den Freunden" bereitete eine Verschiebung des Feindbildes vor, nämlich auf die USA, und das machte die herrschenden Eliten in den sozialistischen Ländern zu Sicherheitspartnern, mit denen über Konzepte wie die Selbstbehauptung Europas sozusagen wie in einem internen Zirkel geredet werden konnte.

These 6: Zwar muß gewiß auch mit demokratisch nicht legitimierten Machthabern geredet und Politik gemacht werden, kein Zweifel. Nur brachten ihre sicherheitspolitischen Einschätzungen und Konzepte die SPD in die Situation, mit der SED, deren Reformfähigkeit antizipiert wurde, was man dieser auch sogleich attestierte, und zwar ehrlichen Herzens, über falsche sicherheitspolitische Projekte und über allgemeine ideologische Fragen zu verhandeln, was von der SED zur Aufbesserung ihrer innerstaatlichen Legitimation genutzt wurde - nicht sehr erfolgreich, wie wir wissen. Aber es wurde so genutzt, und man wußte auch, daß es so genutzt wurde. Das Regime war aber schon so marode, daß die Auswirkungen gering blieben. Die SPD/SED-Kontakte waren aber immer a-national gemeint, d. h. zur Stabilisierung der Zweistaatlichkeit, was an sozialdemokratischen Haltungen zu Honeckers Geraer Forderungen erkennbar wird. Allerdings muß man zur Ehre der SPD sagen, daß eine Bastion nie geschleift worden ist, die Frage der deutschen Staatsbürgerschaft.

[Seite der Druckausgabe: 111]

Man kann zusammenfassen, daß die SPD nach außen eine realpolitische Linie verfolgte, die ihr eigentlich gar nicht zukam, sie diese aber nach innen und vor sich selbst als moralische Politik darstellte. Denn, und das ist meine These 7, was vom Ausland zuweilen als Anfälligkeit für einen Rapallo-Nationalismus in der Bundesrepublik gedeutet wurde, war ja von seilen der SPD auch als ein Beitrag zur Moralisierung der Politik gemeint. Die Zweistaatlichkeit Deutschlands unter Aufrechterhaltung einer politisch und kulturell irgendwie sich mäßigend auswirkenden Einheit der Nation sollte signalisieren, daß deutsche Außenpolitik durch Sicherheitspartnerschaften und Verantwortungsgemeinschaften und lauter andere harmlos klingende Konzepte bestimmt werden sollte.

These 8: Diese Haltung hat sich insgesamt verhängnisvoll im Prozeß der deutschen Vereinigung ausgewirkt. Der Topos von der verspielten staatlichen Einheit, und diese Semantik findet sich halt sehr häufig, barg also das moralische Verdikt, daß die Deutschen sozusagen zu gefährlich seien, um in staatlicher Einheit leben zu können. Und dieses moralische Verdikt hat dann die politische Debatte zwischen 1989 und 1992 mitbestimmt, jedenfalls die unter Akademikern und Intellektuellen. Und es ist auch heute noch oft zu hören.

Mein Fazit ist: Die SPD hat ihre Haltung zur nationalen Frage in den 80er Jahren insbesondere durch voreilige sicherheitspolitische Definitionen und durch eine eigentümlich bröckelige geschichtsphilosophische Moralisierung bestimmt. Sie ist dadurch bei entscheidenden politischen Weichenstellungen selbstbewußt auf tote Gleise gebraust, ihre Politik war dann in der Hauptsache damit beschäftigt, von dort wieder wegzukommen. Und zum Abschluß kann ich mir die Frage nicht verkneifen, die auch Egon Bahr kurz und nett ironisch angesprochen hat, nämlich die Frage, ob es da wohl Parallelen zu der gegenwärtigen sicherheitspolitischen Debatte in der SPD gibt.

[Seite der Druckausgabe: 112 = Leerseite]

[Seite der Druckausgabe: 113]



Page Top

Edelbert Richter

Ich bin da sicher ein bißchen ein Außenseiter gewesen. Es gab mehrere in der Opposition der DDR, die ähnlich dachten, aber nicht sehr viele. Dieses Anschneiden eben der deutschen Frage, so Anfang der 80er Jahre schon, hat einen ganz einfachen Grund: Wir haben uns gefragt, was das denn zu bedeuten habe, daß die Doktrin von einem begrenzten und damit führbaren und gewinnbaren Atomkrieg plötzlich eine Rolle spielte, und zwar einem Atomkrieg, der nun womöglich auf Mitteleuropa begrenzt sein könnte.

Vielleicht gelingt uns das jetzt nicht mehr, diese Verwunderung nachzuvollziehen. Das war ja nicht nur eine Verwunderung, da steckte ja auch ein ganzes Stück Angst drin! Aber vielleicht kriegen wir diese Verwunderung jetzt noch hin: Warum nun gerade dieses Territorium hier in Mitteleuropa? Das ist doch eigenartig. Das habe ich jedenfalls als eigenartig empfunden. Darüber konnte ich mich wundern, und das ist der Ausgangspunkt des Nachdenkens über die sogenannte deutsche Frage gewesen. Das war eigentlich ein ziemlich naheliegender Gedanke. Nun neige ich vielleicht ein bißchen zur Spekulation und habe sehr lange darüber nachgedacht und auch etwas dazu geschrieben ("Zweierlei Land - eine Lektion. Konsequenzen aus der deutschen Misere", Berlin 1989). Das kommt mir heute auch alles etwas spleenig vor, das muß ich schon sagen. Dennoch frage ich mich immer noch, ob ich nicht ein Gespür für das hatte, was sich so im Untergrund der Geschichte tat.

Was ich damals konkret gemeint habe, stimmte zweifellos nicht. Ich bin eigentlich in dieser Frage genauso vor den Baum gelaufen wie die SPD, wie hier jedenfalls öfter bestätigt wurde. Die Hilflosigkeit angesichts des realen Prozesses der Wiedervereinigung 1989/90 war bei mir genauso groß, muß ich sagen. Die Überlegungen, die ich in den 80er Jahren angestellt hatte, liefen darauf hinaus, daß Deutschland sich aus den Blöcken herauslösen sollte. Das war damals meine These, und das war ja sehr umstritten. Das hätte bedeutet gegenüber der Politik, die die SPD damals noch verfolgt hat, daß es sich nicht

[Seite der Druckausgabe: 114]

mehr um eine einfache Fortsetzung der Entspannungspolitik handeln konnte, sondern daß man jetzt einen eigenen Weg zwischen den Blöcken suchen mußte. Ich habe damals auch das Konzept der Sicherheitspartnerschaft nicht gut gefunden. Ich meinte, wir müßten versuchen, uns herauszulösen. Faktisch ist ja diese Politik auch zum Teil gemacht worden. Es ist ja den beiden deutschen Staaten in dieser letzten Phase des Kalten Krieges eigentlich gelungen, sich aus der Konfrontation einigermaßen herauszuhalten. Ich hätte mir gewünscht, daß das noch ein bißchen weitergetrieben worden wäre, dieses Sich-heraushalten. Weil ich eben dies so ernst genommen habe, wie mancher dann vielleicht wieder nicht, daß, wie gesagt, die reale Gefahr eines auf Deutschland begrenzten Atomkriegs bestand. Das war der Ausgangspunkt. Nun stellt sich natürlich die Frage: Was soll das alles heute noch? Muß man deshalb am Gedanken der Nation in irgendeiner Weise festhalten?

Die erste Frage, die Sie gestellt haben, lautete: Ist die nationale Frage in der deutschen Öffentlichkeit von den Parteien, insbesondere von der SPD, zutreffend eingeschätzt worden? Und dann die nach den Ursachen eventueller Fehleinschätzungen. Da würde ich mit ja und nein antworten, vielleicht aber zunächst das Nein. Ich denke, die nationale Frage ist nicht zutreffend eingeschätzt worden, weil die SPD sich nicht genug Gedanken gemacht hat über diese historische Wende, die ich sehe, so Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre.

Darüber müßte man wahrscheinlich gesondert reden. Ich habe bis heute das Gefühl, daß wir das nicht richtig verkraftet haben. Wir operieren sehr viel mit Positionen eben aus den 60er, 70er Jahren, verlängern sie weiter. Ich denke aber, zwischen damals und heute ist wirklich ein historischer Bruch. Darüber kann man streiten, aber ich sage das hier mal als These: Nein, die Situation ist nicht zutreffend eingeschätzt worden, weil die Tragweite dieser Wende - sie wurde ja auch als "Wende" bezeichnet - nicht erkannt worden ist. Sie bedeutete nämlich - nun knüpfe ich an das an, was ich vorhin gesagt habe - im Grunde eine Verabschiedung des Abschreckungssystems, damit überhaupt des Systemdenkens, wenn man es aus heutiger Perspektive

[Seite der Druckausgabe: 115]

sieht, und im Grunde eine Rückkehr zum oder eine Annäherung an den konventionellen Krieg und damit auch eine Renaissance des Nationalen. Die fing damals schon an, Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre! Das hätte man bei einer geschichtlichen Tiefenanalyse wissen können. Im nachhinein kann man das leicht so sagen, aber wenn wir darüber reden, müssen wir uns die Dinge auch in der Weise klarmachen, also mit diesem berühmten "hätte". Das denke ich schon. Die Demokraten in den USA z. B. haben angesichts der Wahlniederlage, die sie erlitten hatten, einen Ausschuß gegründet, dem Clinton vorstand, der sich genau über die Frage, was diese Wende eigentlich zu bedeuten habe, Gedanken gemacht hat. Ich weiß nicht, ob es so was ähnliches in der SPD gegeben hat. Ich vermute, nein, und deshalb meine These: Sie hat die Lage nicht zutreffend eingeschätzt.

Ich weiß nicht, ob ich das jetzt genug erläutert habe, aber jetzt will ich die Sache mal rumdrehen und sagen: Doch, die SPD hat die Lage irgendwie richtig eingeschätzt. Wenn man an den Vereinigungsprozeß selber und an das denkt, was wir bis heute erlebt haben, war doch etwas dran an jener Einschätzung. Man fragt sich ja manchmal, ob wir nicht doch hätten auseinanderbleiben müssen. Da denke ich jetzt natürlich an die Schwierigkeiten unserer Bürger in den neuen Bundesländern und an die Arbeitslosigkeit, an das Empfinden, daß die Spaltung ja eigentlich noch vertieft worden ist durch die Vereinigung oder daß die Differenzen zwischen den Deutschen, die man meinte vernachlässigen zu können, jetzt erst so richtig zum Vorschein kommen. Ich denke auch an die enormen ökonomischen Probleme, die dieser Prozeß beinhaltet. Aus diesem Grunde würde ich sagen: Vielleicht ist an dem, was die SPD in der deutschen Frage bis 1989/90 vertreten hat, doch auch was dran gewesen, insofern sie meinte: Vorsicht, liebe Leute, ihr wißt nicht, was für ein heißes Eisen ihr damit anfaßt! Da kommen enorme Probleme auf uns zu! So konnte man Oskar Lafontaine ja auch verstehen.

Das Dumme ist nun bloß, und da schließt sich vielleicht ein bißchen der Kreis: Ich bin der Meinung, daß wir, wenn wir jene historische Tiefenanalyse in den 80er Jahren gehabt hätten, besser einge

[Seite der Druckausgabe: 116]

stellt gewesen wären auf das, was dann auf uns zukam. Dann hätten wir vielleicht auch ein bißchen den Problemen, mit denen wir es nun zu tun haben, begegnen können, denke ich mir.

Ein großes Problem der deutschen Geschichte besteht eben darin, daß die Deutschen, wenn sie geeint waren, nie so richtig der Welt gegenüber formulieren konnten, worin denn ihre Identität besteht, wie man das heute nennt, also welche Idee sie denn eigentlich vom menschlichen Zusammenleben haben. Und wenn es in den 80er Jahren eine Besinnung auf die nationale Identität gegeben hätte, an der wir uns als SPD auch beteiligt hätten, dann wäre vielleicht ein bißchen dieses Vakuum gefüllt worden. Hoffentlich können wir es noch nachholen. Aber ich sehe da ein ganz großes Defizit. Man braucht ja nur zu beobachten, wie groß die Orientierungslosigkeit der jungen Menschen bei uns ist, aber auch darüber hinaus. Es ist das Phänomen, das Helmuth Plessner bereits vor über 50 Jahren benannt hat: Schon das Bismarck-Reich war ein Staat ohne Idee, ohne eine geistige Orientierung, und im Grunde ist uns das jetzt erneut so widerfahren, daß wir nicht wissen, wozu wir eigentlich zusammen sind. Die Gefahr ist dann das Abgleiten in reine Machtpolitik.

Ich will es mal so zuspitzen: Wir sind einfach zusammengeworfen und müssen nun sehen, wie wir damit zurechtkommen. Das mag anderen Nationen auch so gehen. Ich glaube aber, es gibt da Gegenbeispiele. Ich würde mir wünschen: Wenn es in den 80er Jahren nicht gelungen ist, müßte es uns vielleicht jetzt noch gelingen, ein bißchen nachzutragen von so einer Orientierung. Denn andrerseits gibt es ja gute deutsche Traditionen, an die man da anknüpfen könnte. Das wissen wir eigentlich auch in der SPD, wir haben nur eigenartig wenig Mut, sie nun auch namhaft zu machen.

Ich habe einen Dreischritt gemacht. Erst habe ich "nein" gesagt:

Die SPD hat in der deutschen Frage versagt, hat sie nicht zutreffend eingeschätzt. Dann habe ich "ja" gesagt: Sie hat ein hohes Problembewußtsein gehabt, was diese Frage anbelangt. Und zum Schluß habe ich gesagt, wo ich heute das Hauptdefizit sehe: Ob wir als Sozialdemokraten nicht in der Lage sein müßten, deutlich zu machen, mit

[Seite der Druckausgabe: 117]

welcher Gesamtorientierung die nun mal irgendwie zusammengeworfenen Deutschen in die Zukunft gehen sollten?

[Seite der Druckausgabe: 118 = Leerseite]

[Seite der Druckausgabe: 119]



Page Top

Hartmut Soell

Ich möchte ein bißchen weiter ausholen und zur Einführung aus zwei Stellen zitieren. Aus dem Jahre 1978, erstes Drittel, sind beide Zitate. Damals hat der "Spiegel" ein Manifest des Bundes der Kommunisten veröffentlicht, von dem wir heute wissen, daß es von Hermann von Berg verfaßt worden ist. Daraufhin gab es eine Reaktion, eine Mahnung zur Vorsicht, daß "eine schwere, innere Krise in der DDR, auf die manche offenbar gerne spekulieren möchten, besonders in der Opposition in der Bundesrepublik, uns der staatlichen Einheit unseres Volkes keinen Zentimeter näherbringt. Erwartungen einer krisenhaften inneren Entwicklung der DDR, etwa mit der Folge eines politischen Umschwungs, entspringen einer verhängnisvollen Fehleinschätzung der dort bestehenden tatsächlichen Gegebenheiten und Machtverhältnisse. Niemand sollte die Opfer an Menschenleben vergessen, die eine derartige Fehleinschätzung schon gekostet hat."

Das andere Zitat lautet: "Wer oder was gibt denn der SED-Führung die Gewißheit, daß in 12-15 Jahren, wenn die Führungsgruppe der Nach-Breschnew-Ära, die letzte Generation, die mit ihrem Blut und dem ihrer Kampfgefährten bei der Abwehr der Hitlerarmee Mitteleuropa bis zur Elbe erobert hat, einmal abtritt, auch die Nachfolger mit gleicher Intensität an der Existenz der DDR festhalten oder ob sie nicht lieber, etwa bei veränderten weltpolitischen Bedingungen, sich im Westen Entlastung verschaffen werden. Was wäre dann mit der SED, wenn sie bis dahin nicht ihre historische Daseinsberechtigung in Deutschland begründet hätte?"

Das erste Zitat stammt von Helmut Schmidt, das zweite stammt von mir, der ich mich damals, wie auch heute in vielerlei Hinsicht, als Schüler von Helmut Schmidt betrachtete; das letztere war im "Spiegel" geschrieben. Das andere habe ich jetzt nicht präsent, aber es ist etwas, was ja auch von dem heute und gestern schon zitierten Timothy Garton Ash zitiert worden ist. Das heißt, es war nicht nur die vielgerühmte und häufig zitierte Generationenwahrnehmung, die sehr unterschieden war, sondern es waren natürlich sehr unterschiedliche

[Seite der Druckausgabe: 120]

Rollen, die hier zum Tragen kamen. Das muß man einfach konzedieren, Rollen, die nicht nur anders ausgefüllt werden mußten, sondern die auch die Wahrnehmungen, insbesondere die der Prioritäten, ganz stark verändert haben.

Da muß ich dann, obwohl ich das nach wie vor kritisch betrachte, was die SPD - da komme ich auf Deine Frage, Bernd (Faulenbach) - in Teilen in den 80er Jahren und auch in dem Zusammenhang mit der Behandlung der polnischen Bewegung gesagt und getan hat, doch auch bei dem Eingehen auf diese Problematik, etwa das Verhalten Schmidts in Güstrow, betonen, daß wir inzwischen wissen, daß es von Güstrow aus heftige Telefonate mit Bonn gegeben hat, ob der Besuch abgebrochen werden soll, und zwar nicht nur mit Vertretern der SPD-Spitze, sondern auch mit solchen der CDU, und daß Schmidt in diesem Gespräch mit Honecker drastisch deutlich gemacht hat, daß ein Mittun der DDR beim etwaigen Eingreifen in Polen jedenfalls zu einer dramatischen Verschlechterung des deutsch-deutschen Verhältnisses und auch des Ost-West-Verhältnisses führen würde.

Das muß man jedenfalls mit einbeziehen, und da ich auch in der Enquete-Kommission tätig bin und wir wissen, wie bruchstückhaft unser Wissen ist, bin ich bei solchen Wertungen nach wie vor zurückhaltend. Jedenfalls haben wir dieses Wissen in Teilen auch in den Moskauer Archiven Anfang Juli im Rahmen der Arbeit der Enquete-Kommision überprüft und wissen, was dort alles auch an Einschätzungen der deutschen Situation durch die sowjetische Politik, von den 50er Jahren angefangen, liegt und auch an Neuem durchaus kommen kann.

Nun aus diesen Zitaten aber ganz bestimmte vorläufige Schlußfolgerungen: Richtig war, daß wir nicht andere ins Risiko schicken durften. Falsch war zu meinen, wir könnten besser als andere, die vor Ort waren - dies gilt insbesondere auch für die jüngere Generation in unserer eigenen Partei, die die SDP gegründet hat -, wir wären also in der Lage, deren Risiken besser einzuschätzen, oder sollten sie gar vor selbstgewählten Risiken schützen. Das war nach meiner Ansicht falsch.

[Seite der Druckausgabe: 121]

Die Dialektik der Anerkennung des Status quo, um ihn zu überwinden, wie sie von Egon Bahr 1963 begründet worden ist und wie sie auch die erste Phase der Entspannungspolitik, die in mancher Beziehung einfacher war, dominiert hat, ist, meine ich, in den 80er Jahren nicht mehr beachtet worden oder nicht mehr zureichend beachtet worden. Sie ist ein Stück eingeschlafen.

In einer sehr viel multidimensionaleren Entwicklung haben ganz bestimmte Begriffe, die die Diskussion beherrschten, der Stabilitätsbegriff, der Sicherheitsbegriff, der Macht- und Einflußbegriff, der Friedensbegriff starke eindimensionale Tendenzen gehabt. Ich will mich jetzt gar nicht mit dem Sicherheitsproblem auseinandersetzen, das verdient im Grunde eine eigene Konferenz, eine eigene sorgfältige Betrachtung. Es hat in der Tat, da stimme ich Ihnen zu, Herr von Bredow, ein Stück Entlegitimierung der sicherheitspolitischen Diskussion in der SPD gegeben, insbesondere des Denkens, wie es Helmut Schmidt entwickelt hat, einen gewissen Überschuß, den Sie mit der Näherung an diese taktischen Vorstellungen beschrieben haben. Aber es gab natürlich auch gewichtige methodische Einwände, die übrigens in der Diskussion heute auch Helmut Schmidt anerkennt.

Die Tatsache, daß man nämlich nicht eine Risikostrategie beschreiten kann, wenn man nicht selber am Verhandlungstisch sitzt, das ist wahrscheinlich der gravierendste Einwand. Allerdings bewegt er sich sozusagen immanent in dieser sicherheitspolitischen Diskussion und schießt nicht darüber hinaus. Ich habe diesen Einwand damals vor 10 Jahren formuliert, aber ich glaube, in der Partei und auch in der Bundestagsfraktion sind mir in dieser Argumentationsweise wenige gefolgt.

Wenn man noch den Friedensbegriff und auch den Unterschied zwischen der DDR-Opposition, die sich ja über die Friedensbewegung oder über Friedensgruppen in der DDR formierte, zwischen Ost und West sich noch mal genauer anschaut, wird deutlich, daß bei uns - ich sage das jetzt mal schlagwortartig - die Tendenz war wie diese berühmte Inschrift an der Wand: "Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin", und da drüben wurde das kombiniert mit dem Motto:

[Seite der Druckausgabe: 122]

"Stell Dir vor, es gibt einen Schießbefehl, und keiner führt ihn aus." Damit wurde vor allen Dingen diese innere Dimension deutlich, daß es natürlich wenig glaubwürdig ist, wenn eine Regierung auf der einen Seite öffentlich für den Frieden wirbt, in intensive Gespräche eintritt über Frieden und gleichzeitig einen latenten und in Teilen auch offenen Bürgerkrieg gegen große Teile der eigenen Bevölkerung führt.

Wenn man einen weiteren dieser stark eindimensionalen Begriffe wie den Machtbegriff unter die Lupe nimmt, dann wird klar, daß diese Diffundierungsprozesse in der transnationalen Diskussion zwischen Gesellschaften, die eben Wandel informell einleiten und irgendwann auch mal zu bestimmten institutionellen und formellen Prozessen kommen, daß dies natürlich insbesondere Sache von Parteien, Gewerkschaften, Kirchen ist. Da hat nicht nur die SPD, da haben auch andere Institutionen, aber mit Ihnen auch die SPD, zum großen Teil versagt in der Auseinandersetzung mit den östlichen Gesellschaften, in der Kombination von Beeinflussungsmöglichkeiten oben wie unten. Denn ähnliche Methoden waren ja bekannt, wir haben sie ja benutzt, von El Salvador bis zu den Philippinen, von Chile bis zu Südkorea. Ich selber habe mich da auch intensiv beteiligt.

Jedenfalls erschienen lange, bis weit in die 80er Jahre hinein, Oppositionsgruppen als disfunktional zur Entspannungspolitik der Regierung und der - ich drücke es jetzt ein bißchen polemisch aus -der Möchtegern-Regierungsparteien. Es hat außerdem enorme Wahrnehmungsdefizite über die ökologische und ökonomische Situation in der DDR gegeben. Aber das ist ein allgemeines Phänomen, ist im Grunde etwas, was auch und gerade die Wissenschaft mit zu verantworten hat, jedenfalls große Teile der Deutschlandforschung, aber auch natürlich die Politik, wenn ich noch an Diskussionen denke im November 1989 mit bankerfahrenen Kolleginnen und Kollegen der Bundestagsfraktion, die meinten, die DDR sei schuldenfrei. Wenn man sie fragte, wo sie denn eigentlich ihre Gläubigerposition hätte, dann waren das natürlich Angola oder Äthiopien, Mozambique usw.

[Seite der Druckausgabe: 123]

Von Egon Bahr ist gestern gesagt worden, es sei, ich kann das genau zitieren, "... in Unkenntnis der späteren Geschichte diese Frage nach Alternativen in keinem Gremium der SPD auch nur gestellt" worden. Also, meine Erinnerung ist eine andere, und da ich in der Sitzung der Arbeitsgruppe "Außenpolitik" und in den Sitzungen des Arbeitskreises l "Außen-, Deutschland-, Sicherheitspolitik" sicher häufiger da sein konnte als Du, Egon, weil Du andere Rollen auszufüllen hattest, erinnere ich mich an sehr heftige Diskussionen, die ab 1985/86 zugenommen haben. Sie drangen relativ selten bis in die Fraktion vor, im Grunde 1988/89, weil wir sowieso mit vielen anderen Problemen immer in der Fraktion (Zwischenruf Egon Bahr) ... ja gut, aber sie begannen so ab 1984/85 mit erhöhter Intensität, und da war ich an fast allen diesen Diskussionen intensiv beteiligt, übrigens - da beziehe ich mich jetzt auf einen aktuellen Konflikt - auch über solche Vorgänge wie im ehemaligen Jugoslawien. Da begann im Herbst 1988 eine ganz scharfe Auseinandersetzung, die von mir, glaube ich. Verbeugen und Duwe auf der einen Seite und der Mehrheit der Fraktion unter Führung Horst Ehmkes geführt worden ist, über die Vorgänge zunächst in der Vojvodina, dann im Kossovo, wo wir teilweise mit emotionalen Argumenten konfrontiert wurden, daß die Kroaten überhaupt kein Recht hätten auf Selbstbestimmung etc.

Daneben waren die Sozialdemokraten in Kroatien und Slowenien ein Thema der Diskussion ab Herbst 1988, viele andere Dinge mehr, die jedenfalls deutlich machten, daß wir ganz wenig Ahnung hatten
a) von der Geschichte,
b) von der Aktualität außerhalb dessen, was in Belgrad vorging.

Milosevic wurde uns als reformfreudiger, die westliche öffentliche Meinung kennender Mensch vorgestellt, der sogar Englisch könnte. Ja, natürlich kannte er die westliche öffentliche Meinung, er war sogar in Amerika und hat auf dieser Klaviatur eine subtile und mörderische Strategie formuliert, wie dies dann später Jacques Delors, wenn auch leider zu spät, formuliert hat. Das als Fußnote nebenbei.

Ich erinnere daran, daß es erst Ende Juni 1989 einen Präsidiumsbeschluß gab, nach dem sich schon sehr viel bewegte, über parallele

[Seite der Druckausgabe: 124]

Kontakte zwischen SPD und SED auf der einen Seite und zwischen SPD und Oppositionsgruppen. Vorher war das noch sehr umstritten, bis in den Mai 1989. Im übrigen denke ich auch an die Kritik von Gert Weisskirchen, der hier, ich will nicht sagen, als völliger Einzelkämpfer, aber doch als ein relativ einsam Dastehender, diese wahrgenommen hat. Insgesamt meine ich, daß die SPD diese Mehrdimensionalität der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung im Osten, auch in der ehemaligen DDR, vielleicht in Teilen erkannt, aber kaum genutzt hat. Sie hat auch keine zureichende gesamteuropäische Konzeption entwickelt. Sie hat das Demokratie- und Selbstbestimmungsproblem unterschätzt, das ja zumindest in Teilen Osteuropas auch ein Stück Bewegungsfaktor gegen die sowjetische Überformung war, in der ja auch die deutsche Teilung und etwa die Abtrennung der Ostgebiete von Stalin ganz gezielt als Zankäpfel zwischen Deutsche und Polen z. B. geworfen wurden und natürlich dann auch mit dazu beigetragen haben, so lange jedenfalls, bis die Sozialdemokraten ihre Entspannungspolitik betrieben haben, gerade die Angst vor den Deutschen als zentralen Integrationsfaktor dieser kommunistischen Regime zu etablieren. Das war Gott sei dank, und daß dies vorbei ist, ist nun wirklich das historische Verdienst von Willy Brandt und konzeptionell vor allen Dingen, und auch in den Verhandlungen, von Egon Bahr, etwas, was nicht hoch genug, glaube ich, eingeschätzt werden kann. Darauf sollten wir auch durchaus stolz sein.

Wichtig ist, daß gerade dies von Polen etwa, wenn ich an die Aufsätze von Adam Michnik in der zweiten Hälfte der 80er Jahre im "Spiegel" denke, relativ früh erkannt worden ist, übrigens auch von den Franzosen, wenn auch auf sehr verquere Weise. Wenn ich an Äußerungen von Jacques Hunzinger denke, dessen Vater am 22. Juni 1940 die Kapitulationsurkunde in Compiègne unterschrieben hat, der gesagt hat, die Stationierung der Pershing II wird uns die Wiedervereinigung um 20 Jahre hinauszögern - also in Frankreich war dies schon in den frühen 80er Jahren ein Thema. Das habe ich nun in den Diskussionen der WEU-Versammlungen häufig gespürt und habe dann immer gesagt: Wenn es so ist, dann wird es die Deutschen

[Seite der Druckausgabe: 125]

mindestens 15, 20 Jahre mit sich selber beschäftigen. Damit werden die Deutschen jedenfalls kein Faktor sein, der Euch da besonders beunruhigen könnte in Eurem politischen Führungsanspruch.

Ich komme zum Schluß noch mal auf die Äußerungen von Dir, Egon (Bahr), zu sprechen, die SPD sei keine Weltmacht. Wir hatten häufiger die Attitüde, übrigens auch in den 50er Jahren, als wären wir die Weltmacht über den Weltmächten, und nicht nur Herbert Wehner, sondern auch andere - nämlich auch Willy Brandt, Fritz Erler, und schon vor Herbert Wehner - haben diese Diskussion dann 1960 beendet. Aber für eine Partei, die dann über Nacht, psychologisch gesehen, in die Opposition geriet, war ein gewisser Phantomschmerz da, so sagen jedenfalls die Psychologen. Den gibts ja nicht nur in der Medizin, und das hat sicherlich auch die SPD-Diskussion geprägt:

Einfach der Verlust der positiven Gestaltungsmacht innerhalb der Regierung und das Gefühl, man müsse sich jetzt trotzdem eben als Quasi-Regierungspartei etablieren, haben sicher auch die Diskussion geprägt. Insoweit war es ein Stück Rolle, die gefüllt werden mußte, oder sagen wir mal auch eine Rolle, die man eben in Anspruch nahm.

Daß die CDU/CSU in ihrer Oppositionszeit vor 1982 massiv solche Nebenaußenpolitik mitbetrieben hat, auch gegenüber der DDR, und riesige Angebote gemacht hat gegenüber dieser "labilen sozialliberalen Koalition" und anderes, das wird sicherlich noch aufgedeckt werden. Da gibt es ja auch schon Leute wie Heinrich Potthoff, die an solchen Dingen sitzen.

So viel dazu, letzte Frage noch: Welche Rolle spielen Nationen heute in Europa? Da bin ich Egon Bahr wahrscheinlich näher als vielen Europapolitikern in der Partei, aus meiner Kenntnis gerade der westeuropäischen Szenerie. Wir werden auch in den nächsten 15, 20, 25 Jahren weitgehend ein Europa der Vaterländer oder der Mutterländer oder wie auch immer haben, und es ist eine Fiktion zu meinen, wir könnten rein durch institutionelle Vorkehrungen dieses ändern. Wir müssen darauf dringen, daß in zentralen Gebieten, wo sich ja die Schwäche Europas erwiesen hat, etwa gerade in dem Konflikt im ehemaligen Jugoslawien, daß sich da etwas wie eine gemeinsame

[Seite der Druckausgabe: 126]

Außen- und Sicherheitspolitik herausbildet. Dies geschieht eben auch dadurch, daß man bestimmte Elemente, die bisher europäische Staatlichkeit in ihrer Geschichte bestimmt haben - nämlich Armee und Finanzen, Währung, Steuern usw., die beiden zentralen Elemente europäischer Nationalstaatsbildung -, daß man die stärker zusammenbringt, sicherlich auch institutionell, aber vor allen Dingen durch eine koordinierte Politik, durch Koordinierung der Interessen. Die hat bisher so noch nicht stattgefunden, und deswegen haben wir ja auch die Probleme, selbst in dem Bereich, der jetzt am ehesten integriert werden soll, im Bereich der Währungs- und Wirtschaftsunion.

Dazu könnte man noch vieles sagen, meine Einschätzung ist da jedenfalls näher an der von Egon (Bahr) als an der von vielen Euro-papolitikern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

Previous Page TOC Next Page