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"Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit"
Zur Diskussion um das Streitkultur-Papier von SPD und SED


Thomas Meyer

Ich will den Versuch machen, ein paar Punkte zur Einordnung zu sagen, von denen ich denke, daß sie entweder nicht so bekannt sind, oder auf die ich besonderen Wert lege, und vor allen Dingen nochmal in Erinnerung rufen, in welcher Situation das Streitkultur-Papier entstand.

Sie wissen, und auch das möchte ich nochmal in Erinnerung rufen, das war ein Papier der Grundwertekommission beim Parteivorstand der SPD mit Gesellschaftswissenschaftlern der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. Und unsere Gruppe: Erhard Eppler, Johano Strasser und einige andere, die direkt oder indirekt an diesem Papier mitgewirkt haben, waren sozusagen Seiteneinsteiger in die Deutschlandpolitik. Wir waren nicht diejenigen, die sie formuliert, repräsentiert oder im wesentlichen durchgeführt haben. Der Anlaß, warum wir dieses Papier erarbeitet haben, das wir am Anfang gar nicht beabsichtigt hatten, das sich dann ergab in bestimmten Gesprächssituationen, war ein doppelter. Der eine war, es war damals im Bewußtsein der Öffentlichkeit sehr stark das Bewußtsein neuartiger Bedrohungen in Europa und weltweit in den Vordergrund gerückt, nämlich das Bewußtsein, daß die Hochrüstung in einer so vorher nie dagewesenen Art und Weise die Existenz beider Systeme und aller Länder in Europa bedrohen könnte, wenn es gewollt oder ungewollt zu einem nuklearen Krieg kommen würde. Die Frage war: Wie kann eine solche Gefahr abgewendet werden, unter der Voraussetzung, daß die Abwendung einer solchen Gefahr natürlich im Interesse beider Seiten liegt und daß beide Seiten das Bewußtsein hatten, daß keines ihrer übrigen Ziele, keine ihrer übrigen Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung, über die gesellschaftliche Entwicklung realisiert

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werden könnte, wenn es nicht gelingen würde, Frieden unter diesen neuen Risiken zu sichern. Und das zweite neuartige Risiko, das damals sehr mächtig ins Bewußtsein drängte, war, daß wir drauf und dran waren, durch die unbeherrschten Nebenfolgen unserer Industriesysteme die ökologischen Grundlagen grenzübergreifend auf massive Art und Weise zu gefährden, so daß auch von daher die Gefahr einer Zerstörung oder einer Gefährdung der Existenzgrundlagen der Industriegesellschaft drohte. Die Frage lautete also: Können wir über das, was sich daraus an gemeinsamen Interessen ergibt, und wie die im übrigen bleibenden Konflikte unter diesen veränderten Umständen ausgetragen werden müssen, eine neue Art von Gesprächen mit den Repräsentanten der SED führen?

Für mich war es mit das Wichtigste - ich habe es damals schon in einer Reihe von Artikeln, vor allen Dingen in L 80, geschrieben, das sage ich jetzt nicht im nachhinein -, daß wir sehr stark der Meinung waren, daß wir auch eine zweipolige, eine zweigleisige Deutschland- oder Ostpolitik entwickeln müßten, bei der die öffentliche Auseinandersetzung über Menschenrechte und Demokratie eine zentrale Rolle spielen müßte und bei der wir viel stärker, als es zu diesem Zeitpunkt der Fall war, auch öffentlich sichtbar Kontakte zu denen in der DDR suchen und entwickeln müßten, die unseren Grundwerten näher standen, die also eigentlich unsere politischen Freunde waren oder jedenfalls dem, was die Substanz der sozialdemokratischen Grundwerte oder der westlichen Demokratievorstellungen ausmachte, näherstanden. Diese Zweigleisigkeit zu beginnen und sicherzustellen, daß wir auf dieser Ebene handeln konnten, reden konnten, Kontakte knüpfen konnten, das waren die Motive.

Nun haben wir (Grundwertekommission, Gesellschaftswissenschaftler der SED) zunächst Gespräche begonnen - zu einem Zeitpunkt, als Gorbatschows neue Politik sich zu entwickeln begann und unsere Gesprächspartner in den Diskussionen, die wir hatten, in einer für uns völlig unglaublichen Weise den Eindruck vermittelten mit dem, was sie direkt sagten, nicht nur mit dem, was zu erahnen war hinter dem, was sie sagten, daß sie dabei waren, ihre gesamte ideolo

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gische Dogmatik zu entrümpeln und auf eine neue Art Gesellschaft zu betrachten, Dialoge in den gesellschaftlichen Prozeß ihrer eigenen Gesellschaft einzuführen. Es war dann so, daß in diesen Gesprächen die ersten Botschaften etwa von Gorbatschows Impulsen eingebracht wurden und gesagt wurde: Das ist das, worauf wir uns jetzt hier zubewegen wollen. Und selbst Leute wie Erich Hahn, der ja ansonsten ein wirklich versteifter Dogmatiker war, haben in den Diskussionen mit dazu beigetragen, daß diese Gesprächspartner bei uns den Eindruck erweckten, daß sie fast alle zentralen Dogmen der Herrschaftslegitimation des SED-Regimes zur damaligen Zeit auf den Prüfstand stellten und eine Reihe von ihnen direkt und unzweideutig widerriefen und beiseite rückten. Wir hatten dann in der Grundwertekommission uns die Frage vorüberlegt, ob diese sehr weitgehenden Revisionsversuche, weg von den legitimierenden Dogmen, etwas sind, was man uns jetzt sozusagen als Spielmaterial hingibt, um den Dialog aufrechtzuerhalten, um unser Interesse zu erhalten, oder ob das Experimentaldiskussionen waren, die dann später auch entsprechende öffentliche Reaktionen in den Debatten und in der Politik der SED nach sich ziehen würden. Wir hatten die ersten zwei Gespräche mit diesen SED-Repräsentanten ohne Öffentlichkeit, ohne Presse geführt und festgestellt: Es gibt eine Riesendifferenz zwischen dem, was die Leute uns hier sagen, und dem, was sie öffentlich sagen und was in der DDR passiert. Wir müssen die Öffentlichkeit herstellen, damit entweder klar ist, daß sie aus dem, was sie hier sagen, auch Konsequenzen ziehen müssen oder daß wir, wenn die Differenz allzu groß blieb, wissen, woran wir sind, und sehen, was der Zweck der Gespräche ist. Daher haben wir vom dritten Gespräch an Pressevertreter hinzugeladen, und von da an ist auch regelmäßig veröffentlicht worden. Fast immer dabei waren von diesem Zeitpunkt an Carl-Christian Kaiser und wechselnde andere.

Ich möchte an der Stelle zunächst mal etwas sagen zur Atmosphäre der Gespräche, weil darüber auch in den Berichten relativ wenig gebracht worden ist, u. a. auch, um den Fortgang von verheißungsvollen Ansätzen, die sich da zeigten, möglicherweise nicht zu

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stören. Ich weiß es nicht, jedenfalls ist nur gelegentlich, aber nicht sehr massiv in den Zeitungsberichten davon die Rede gewesen. Wir haben uns über die Fragen, um die es ging, massiv und leidenschaftlich mit den Vertretern der SED gestritten, und als wir den Eindruck hatten, daß sie in ganz wesentlichen Fragen Konzessionen machten, von denen wir dachten, daß sie sehr wirkungsvoll sein könnten, wenn sie öffentlich wären, haben wir gesagt: Dann laßt uns doch, wenn Ihr so weit geht, dieses in einem Papier niederlegen, damit es öffentlich wird und wirken kann, in der DDR wirken kann, bei uns wirken kann und sichtbar wird.

Und ich war überrascht, als Otto Reinhold, der Leiter der Delegation der anderen Seite, einwilligte. Der Hauptpunkt war, daß wir in der Diskussion sagten: Wenn es wirklich so ist, daß es unter den Bedingungen, wie sie damals waren (Atomkriegsgefahr und die Risiken, die ich vorhin nannte), nur noch einen friedlichen Wettbewerb der Systeme geben kann, bei dem die Veränderungen in den Systemen von innen kommen müssen, dann ist die Grundvoraussetzung dafür, daß innerhalb jedes Systems ein offener Dialog über den Stand des Systemwettbewerbs geführt werden können muß und dafür in den Systemen - und vor allem im anderen System, bei uns waren ja offene Diskussionsbedingungen gegeben - ausreichende Garantien und Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit dieser innere Dialog dort möglich ist. Wir haben gesagt: Es muß eine Selbstverständlichkeit sein, wenn es gemeinsame Grundinteressen, etwa im Bereich der Friedenspolitik, gibt und wenn das ein friedlicher Systemwettbewerb sein soll, daß die andere Seite das Recht hat, diese Diskussionen kritisch, über den Stand etwa der Entwicklung von Menschenrechten, Demokratiepluralismus, öffentlich zu führen, auch was die Verhältnisse im anderen System anbetrifft, und zu einzelnen und Gruppen im anderen System, die sich dort an diesen Diskussionen beteiligen, Arbeitskontakte aufzunehmen, sie zu unterstützen, mit ihnen zu kooperieren und politisch zusammenzuarbeiten. Das hat die SED-Seite in den Gesprächen konzediert, und wir haben gesagt:

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Wenn das eine ernsthafte Konzession ist, dann laßt uns versuchen, das in diesem Papier aufzuschreiben.

Dann haben wir uns zusammengesetzt, immer in der Skepsis, daß es relativ unwahrscheinlich sein würde, daß sie am Ende das, was wir da reinschrieben, akzeptierten. Ich sage jetzt mal, bezogen auf die Diskussion vorher, etwas, was viele nicht wissen. Einige wissen es, die an bestimmten Gesprächen in Freudenberg teilgenommen haben. Wir hatten in Freudenberg einen Gesprächskreis, der um die Forschungsgruppe Zdenek Mlynar gebildet war, aus so wechselnd 60-80 Osteuropäern, die aus politischen Gründen in Westeuropa lebten. Zdenek Mlynar leitete ein Forschungsprojekt, und wir haben einmal im Jahr eine dreitägige Veranstaltung gemacht, wo diese Dissidenten, die in Westeuropa lebten - aus Polen, aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn, aus der Sowjetunion -, über ihre Forschungsergebnisse berichteten, bezogen immer auf die Situation, auf Möglichkeiten eines Reformprozesses in Osteuropa. Dazu gehörten J. Pelikan, Agnes Heller war meistens dabei und andere. Und als ich den Auftrag bekam, mit Rolf Reißig zu formulieren, was in einem solchen Papier stehen könnte, habe ich in Freudenberg J. Pelikan gebeten, mal in einem Vortrag zu erläutern, was aus seiner Sicht Konzessionen der kommunistischen Führung in den osteuropäischen Ländern sein müßten - das war also 1986 -, die von der Opposition als ernsthafte Konzessionen empfunden würden und von denen die Opposition sagen würde: Das ist ein tatsächlicher Neuansatz, der uns den Versuch erlaubt, mit den kommunistischen Führungen in einen Dialog zu treten, um zu sehen, ob Liberalisierungen möglich sind.

Und das, was Zdenek Mlynar und J. Pelikan da im wesentlichen vorgetragen haben, das habe ich in die ersten Entwürfe dieses Papiers ohne große Veränderungen reingeschrieben. Ich habe die zweite Hälfte geschrieben, Rolf Reißig hat die erste geschrieben. Wenn Sie das Papier kennen, wissen Sie, daß die erste Hälfte sich um die Entfeindung der Ideologien oder der politischen Philosophien dreht. Das war die Hauptthese, daß wir im Nuklearzeitalter Konflikte, wie tiefgehend sie auch immer sein mögen, nur noch friedlich austragen

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werden. In der zweiten Hälfte waren diese Dialogbedingungen formuliert und die Bedingungen für das Recht jeder Seite, mit der inneren Opposition im anderen System Arbeitskontakte aufzunehmen. Wir haben dann anderthalb Jahre über dieses Papier gesprochen, und das, was ich da reingeschrieben hatte auf der Basis dessen, was Jiri Pelikan vor allem formuliert hatte, ist bis ganz zum Schluß stehengeblieben.

Ich habe gedacht, daß das nur bedeuten kann, daß die es gar nicht für möglich halten, daß auf dieser Basis richtig verhandelt werden kann, und dann ganz zum Schluß sagen: So geht das aber nicht. Ich war sehr erstaunt, als Herr Reißig kam, nachdem sich Reinhold im Politbüro rückversichert hatte, und nur ziemlich kleine Änderungen wollte. Also, ich hatte z. B. in den ersten Entwürfen, die man sich später auch mal in den Archiven angucken kann, stehen, daß jede Seite auch berechtigt sein muß, einzelnen und Gruppen im anderen System praktische Hilfen für die Teilnahme am Dialog zu leisten (u. a. auch durch Zurverfügungstellung technischer Hilfen, wie Schreibmaschinen, Vervielfältigungsgeräten u. ä.). Da sagte der Herr Reißig: Dieses muß raus. Das ist das einzige. Das ist ja mehr ein polnisches Problem. Schreibmaschinen können sie sich bei uns doch kaufen.

Das haben wir dann also gestrichen. Der ganze Rest blieb drin. Nun weiß jeder, der die Situation damals verfolgt hat, daß für die am Ende dann sehr rasche und für unser Urteil überraschend weitgehende Konzession, das Papier so, wie wir es entwickelt haben, zu verabschieden, der bevorstehende Honecker-Besuch auch eine Rolle spielte - es war auch verstanden als ein Entree für Honecker, dessen Besuch ein paar Wochen später folgte -, und wenn Sie (Jochen Vogel hat es vorhin schon gesagt) sich das Papier angucken: Es sind in diesem operativen Teil, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit die Dialoge im Inneren und wirkliche zwischengesellschaftliche Dialoge möglich sind, sehr, sehr weitgehende Formulierungen enthalten. Es ist im ideologischen Teil ein Widerruf zentraler Dogmen der SED dringewesen, also Reformfähigkeit, Friedensfähigkeit des

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sogenannten Imperialismus, und es sind, was diese Dialogbedingungen angeht, operativ, also nicht so, daß das Wischi-waschi-Formulierungen gewesen wären, die man leicht hätte beiseite schieben können, sehr weitgehende Konzessionen gemacht worden. Wir haben dann auch mit Leuten aus der Oppositionsbewegung in Ostberlin, die wir kannten - übrigens am selben Abend, als ich das Papier dort vorgestellt habe mit Reinhold zusammen, während Reißig es ja mit Eppler in Bonn gemacht hat -, Kontakt aufgenommen, die sagten:

Wir betrachten das als eine Hilfe. Es kann ein neuer Rahmen für einen Dialog zwischen der Opposition und der SED sein.

Wir haben dann im folgenden versucht, diesen Dialog praktisch zu realisieren. Unser Interesse war, öffentlich massiver das, was wir als Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen sahen, zu kritisieren und Dialoge praktisch zu organisieren, immer in dem Versuch, Opposition, SED und uns da zusammenzubringen.

Viele von Ihnen wissen, daß wir in Freudenberg Anfang September 1987, also sehr kurz nach der Verabschiedung des Papiers, einen Dialog organisiert haben, an dem Reißig teilnahm, Jürgen Fuchs, Roland Jahn und eine Reihe anderer. Das war das erstemal, daß jemand aus der SED-Führung sich mit einem solchen - ja, für die SED war der vorher Staatsfeind Nr. l - Dissidenten wie Jürgen Fuchs zusammensetzte, und Reißig hat dort, wie er sagte, im Namen derer, die das Papier mit erarbeitet hatten, und als Geist des Papiers, so, wie er gemeint war von dieser SED-Gruppe, sehr weitreichende Dialoge und Reformprojekte dargestellt und es vor allem als eine Selbstverständlichkeit dargestellt, daß der Dialog mit der Opposition offen und repressionsfrei beginnt. Wir haben auch versucht, in der DDR - soweit wir von der Opposition eingeladen waren, die SED mit dazu einladen zu lassen.

Jedenfalls, wir haben schon versucht, das sehr praktisch zu betreiben und die beiden Defizite, die wir sahen, also mangelnde öffentliche Auseinandersetzung über Menschenrechte und Politik sowie mangelnde Sichtbarkeit unserer Kontakte zur Opposition, abzutragen, und so war ja das ganze Projekt auch gemeint.

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Nun hat offensichtlich in relativ kurzer Zeit das Papier innerhalb der SED und in der DDR-Gesellschaft im ganzen einen solchen Gärungsprozeß ausgelöst, daß die SED sehr schnell kalte Füße bekommen und versucht hat, das zurückzudrehen. Ich würde ganz gerne mal ebenfalls eine Sache zitieren. Garton Ash bringt in dem Kapitel, in dem er das Papier behandelt, Auszüge aus einem Bericht der zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe der Stasi, die folgende Einschätzung gebracht hat: Es sei nach dem Papier und durch das Papier schwieriger geworden, der jungen Generation Orientierung auf Verteidigungsbereitschaft zu geben in der DDR. Die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme - das war der Kernpunkt des Papiers - bringe die DDR angesichts ihrer wirtschaftlichen Lage in große Schwierigkeiten. Das Papier berge deswegen erhebliche Risiken, und das Papier sei - stand da drin - für "feindlich negative Personen" - das war der Ausdruck - eine viel günstigere Bedingung als zuvor für die Legitimation von oppositionellem Auftreten und werde von diesen Gruppen auch so gehandhabt. Das war die Situation. Dann hat Hager sehr schnell versucht, wesentliche Teile des Papiers zu dementieren, und zwar bereits im Oktober 1987. In der berühmten Frankfurter Rede hat er versucht, es zurückzunehmen und umzuinterpretieren.

Es zeigte sich, daß die Hoffnungen auf Reformen oder auf eine wesentliche Veränderung des Klimas, die die SED selbst geweckt hatte, so nicht erfüllt wurden. Wir haben das massiv und in heftigen Auseinandersetzungen mit unseren Gesprächspartnern von der SED zur Sprache gebracht. Diese Gespräche sind sehr kontrovers verlaufen. Das wird man aus den Protokollen entnehmen können, also bis hin zu vehementen Attacken. Wir haben das also angemahnt und versucht, parallel die Gespräche, die wir führen konnten, zu führen. Und als sichtbar wurde, daß das, was am Anfang des Papiers stand, nämlich der Glaube, die SED versucht auf ihre Weise auf den Gorbatschowschen Reformkurs einzuschwenken, sich nicht erfüllte, hat die Grundwertekommission dann - das ist in der Öffentlichkeit weniger zur Kenntnis genommen worden - Anfang 1989 ein zweites

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Papier veröffentlicht, in dem sie in massiver Form die Dialogverweigerung, die Repressionen in der DDR angeprangert und gesagt hat: Dieses ist das Gegenteil von dem, was mit und in dem Papier in Aussicht gestellt worden ist.

Das, was Eppler dann in seiner Rede zum 17. Juni 1989 gesagt hat, war ja praktisch seine Erklärung: Die SED ist nicht in der Lage, das zu erfüllen, was sie da zugesagt hat.

Ich möchte eine kurze Bewertung geben. Ich möchte sagen: Das Papier hatte von Anfang an Risiken und Chancen und war natürlich keine Garantie, daß die SED in dem Druck, in dem sie sich befand, ernsthaft gesonnen sein könne, gewisse Liberalisierungen, gewisse Öffnungen zum Dialog durchzuführen. Das hatten wir für möglich gehalten, zumal ja durch die Politik Gorbatschows in der Sowjetunion sich eine entsprechende Politik entwickelte und anzunehmen war, daß auch ein bestimmter, in diese Richtung wirkender Druck von außen kam. Wir haben das für möglich gehalten, und es gab zumindest unter unseren Gesprächspartnern sicher einige SED-Repräsentanten, die es auch so gemeint haben, ganz sicher Rolf Reißig und einige andere auch. Es gab immer Gegner des Papiers. Dazu gehörte Rettner, der es nicht wollte, der versucht hat, es zu verhindern. Aber wie man ja weiß, diese Dinge will ich jetzt nicht nochmal berichten, ist das von Honecker selber entschieden worden, daß es gemacht wird. Die Möglichkeit einer gewissen Liberalisierung war jedenfalls da. Wie weit sie gehen würde, war nicht abzuschätzen. Wir haben in dem Bewußtsein gehandelt - das hat Egon Bahr vorhin klar gesagt -, daß, wie gering die innere Legitimation dieses Regimes auch sein mag, jedenfalls die Garantie der Sowjetmacht, daß die DDR als Staat fortbestehen würde, ausreichen würde, um die SED-Herrschaft auf lange Zeit zu stabilisieren, und haben deshalb versucht, im Einwirken auf sie bestimmte Konzessionen zu erreichen, die wir gleichzeitig in Kontakten mit anderen Gruppen ausfüllen und nutzen wollten, um sozusagen auf zwei Ebenen und zweigleisig mit den Möglichkeiten, die wir hatten, diesen Prozeß voranzutreiben. Es hat sich dann eben gezeigt, daß sie weder

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die Kraft hatten, noch diejenigen, die die Entscheidungen letztendlich trafen, den ernsthaften Willen.

Ich würde sagen, aus heutiger Sicht, so wie die Situation war, halte ich dieses Projekt noch immer für richtig. Und ich vermute, das läßt sich nicht beweisen, weil Wirkungen eines solchen Papiers natürlich nicht mit der Elle gemessen werden können, daß Riehl-Henge recht hat. Er hat einen Artikel, einen sehr gründlichen Artikel zum 5. Jahrestag des Papiers in der Süddeutschen Zeitung gebracht, in dem er sagte, daß die inneren Gärungsprozesse, die Prozesse des Zweifels an den alten Legitimationsvorstellungen der SED sicherlich mit dazu beigetragen haben, daß es dann am Ende zu einem "zivilisierten Zusammenbruch" kam, wie er das nennt. Ich würde auch sagen: Wenn die ökonomische Schwäche der DDR noch drastischer gesehen worden wäre, wäre das Projekt dennoch richtig gewesen, weil durch diese Dialoge, durch diesen Kontakt ein gewisses Maß an Mäßigung, ein gewisses Maß an Verantwortung, an Zur-Verantwortung-Ziehen, an Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen gegeben war, das in jedem Falle nicht schädlich war. Deswegen denke ich, daß das Papier das, was die SED in Aussicht gestellt hatte, nicht gebracht hat, aber in seinen Wirkungen trotzdem insgesamt verantwortbar und, ich denke, auch positiv ist, und der Versuch auszutesten, ob mehr möglich ist, war es wert. Garantien konnte es nicht geben.

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Stephan Hilsberg

Nachdem es mir 1987 nicht gelungen war, ein Exemplar des SPD/SED-Papiers, das ja im "Neuen Deutschland" erschienen war, zu erhalten, und ich so den schriftlichen Text bis dato nie gelesen hatte, wurde ich im Herbst 1988 im Fach "Wissenschaftlicher Kommunismus" im Unterricht des vierten Studienjahres des Fernstudiums zum Ingenieur für Informationsverarbeitung mit dem sogenannten Ideologiepapier konfrontiert. Unser ML-Dozent, Herr Müller, genannt "Armee-Müller", da er im Gegensatz zu seinen zwei Kollegen gleichen Namens seine berufspraktischen Erfahrungen als Berufsoffizier der NVA gesammelt hatte, diktierte uns ein Konzentrat des SPD/SED-Papiers in die Feder, eine etwas ungewöhnliche Übung von ca. drei Stunden Dauer für erwachsene Menschen. Armee-Müller lieferte Lesart und Kommentar gleich mit. Man spürte ihm die offenbar vorher durchlaufenen Schulungen in Sachen Ideologiepapier an. Es wäre eine neue Epoche angebrochen, die Bedingungen des Klassenkampfes hätten sich verändert, der Klassenkampf selbst aber dauerte selbstverständlich fort. Man hätte sich darauf einzustellen, das müßte vermittelt werden. Das beträfe auch das Verhältnis zur SPD. Das Wichtigste, wie immer, sei der Frieden. Im übrigen hätte die SED schon immer die Gewährung der Menschenrechte in ihrem Land besser abgesichert, als das der bürgerliche Westen jemals vermochte. Meine Kommilitonen schrieben stöhnend mit. Diskutiert über das Papier wurde kaum. ML (Marxismus-Leninismus) war eine Pflichtübung zum Erlernen der lebensnotwendigen Phrasen, um bestimmte Positionen zu erklimmen. Unsere Ansprüche hier waren nicht übermäßig hoch, aber ein Nichtbestehen der Abschlußprüfung im Fach ML hätte den Abschluß gekostet.

Zweite Szene: eine Podiumsdiskussion in der Berliner Samariterkirche vor vollem Haus, moderiert von Rainer Eppelmann Ende Oktober 1989. Teilnehmer waren Rolf Reißig, Ibrahim Böhme, meines Wissens Gert Weisskirchen, ich weiß nicht, ob Wolfgang Schnur noch dabei war, ich bin da nicht genau im Bilde. Rolf Reißig, Mitau-

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tor des Ideologiepapiers und leitender Mitarbeiter der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, versprach das Blaue vom Himmel: freier politischer Meinungsstreit, politischer Wettbewerb, Pluralität, Zulassung weiterer Parteien und freie Wahlen. Alles selbstverständlich im Rahmen der zu reformierenden und in der Reform begriffenen SED. Die große Zuhörerschaft, ca. 500 Leute, quittierten diese Ankündigung mit verhaltener Skepsis. Man glaubte einem SED-Mitglied nicht mehr. Was hatte der Reißig vor, wenn er Reformen innerhalb der SED anstrebte? Die Gefahr, einem weiteren Betrugsversuch der SED auf den Leim zu gehen, war für die meisten Anwesenden Grund genug, sich hier bedeckt zu halten.

Beide Szenen stehen für mich im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ideologiepapier und seinen Autoren. Dabei sind meine Erfahrungen die eines Ostdeutschen, der damals auf der schwierigen Suche nach Selbstbestimmung und nach Befreiung von staatlicher Bevormundung war. Heute hingegen muß ich mich fragen, was politisch verantwortliches Handeln von einem sozialdemokratischen ostdeutschen und Brandenburger MdB verlangt.

Vergangenheitsaufarbeitung hat dort ihren politischen Sinn, wo sie hilft. Licht in das Dunkel unaufgeklärter historischer Prozesse zu bringen, deren Aufklärung nötig ist, um politische Aufgaben heute bewältigen zu können. Die Herausbildung einer gemeinsamen Identität der Sozialdemokraten diesseits und jenseits der ehemaligen innerdeutschen Grenze ist eine solche Aufgabe. Wir sind spätestens seit der Vereinigung beider Parteien in die Geschichte der jeweils anderen Seite mit eingestiegen. In einem tieferen Sinne waren wir wohl nie ausgestiegen. Und wir müssen die Folgen des damaligen Geschehens mittragen und mitverantworten, auch der anderen Seite. Das Wollen dazu gehört zum Fundament der inneren Einheit. In der gegenwärtigen Diskussion - und die heutige ist ein schönes Beispiel dafür -müssen die Thesen zugespitzt formuliert werden, um der Gefahr der Oberflächlichkeit zu entrinnen.

Das Papier mit dem schönen Namen "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" ist eingebettet in die Politik der SPD

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gegenüber der SED und darf von dieser nicht losgelöst betrachtet werden. In den 80er Jahren fand die Hypothese von der Transformation des kommunistischen Systems in ein demokratisches innerhalb der SPD eine breitere Anhängerschaft, gestützt durch die Reformversuche von Gorbatschow. Die sozialdemokratischen Autoren des SED/SPD-Papiers versuchten sichtlich, diesen Reformprozeß auch in der SED in der DDR voranzubewegen. Nach meinem Vorredner gab es für sie drei Motive. Ich will einzeln versuchen, sie einer Analyse und Beurteilung zu unterziehen.

  1. Thomas Meyer sagt: "Auseinandersetzungen um die menschlichen Erfolge der Systeme sind nötig und dringend, aber im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen zwingend auf friedliche Formen angewiesen, denn der Krieg mit Massenvemichtungswaffen hätte alles vernichtet, worum der Streit ging."

    Selbstverständlich, Frieden liegt im gemeinsamen höheren Interesse. Den Frieden zu erhalten und Kriegsgefahren zu vermindern war im Zeitalter der Blockkonfrontationen, der Gefahr des Atomschlags unbestreitbar eine der wichtigsten Aufgaben, die aktiv wahrzunehmen waren. Deshalb ist der Dialog mit den jeweils Mächtigen der anderen Seite grundsätzlich zu begrüßen. Die Schwierigkeiten beginnen mit der Verabsolutierung des Dialogprinzips, das zu einer Entsolidarisierung führt. Um den Dialog zu erhalten, muß man letztlich auf die Spielregeln des Partners eingehen. Solange man miteinander spricht, ist Frieden. Sich nicht in die inneren Angelegenheiten der DDR im Sinne der SED-Führung einzumischen bedeutet auch Frieden. Allerdings akzeptierte hier die westliche, sozialdemokratische Seite bereits den SED-Begriff von Nichteinmischung. Wenn die Kontakte mit anderen Gruppen außerhalb der Kirche in der DDR sehr spärlich ausfielen, vielfach gänzlich unterblieben, dann ist dies sicherlich der Erhaltung des Dialogs und damit des Friedens geschuldet. Dadurch führte das Prinzip des Dialogs zur Entsolidarisierung mit denjenigen Ostdeutschen, die sich aus vormundschaftlichen Strukturen zu lösen begannen.

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    Diese Gruppen aber stellten den SED-Staat von seinem Selbstverständnis her in Frage. Sie entzogen sich der Unterordnung unter die marxistisch-leninistische Weltanschauung und der in praxi betriebenen Gleichschaltung so gut wie aller gesellschaftlichen Kräfte in der DDR. Wenn überhaupt die wirklichen Stimmungen und Gefühle der Bevölkerung der DDR unverzerrt abrufbar waren, dann durch die Stimmen der Jugendlichen und Mitdreißiger, die sich in Frieden Konkret, Initiative Frieden und Menschenrechte, Arche NOVA, Vipperower Seminare, in Jena und überall sonstwo zu bilden begannen. Insbesondere die Initiative Frieden und Menschenrechte hat den Dialog mit der SED immer wieder eingefordert. Aber das, was die SED der SPD im Ideologiepapier zugesichert hatte, nämlich die offene Debatte, unterblieb im eigenen Land bei den oppositionellen Gruppen. Sie wurden als Staatsfeinde eingestuft, im Stasijargon unter PUT und PiD (politische Untergrundtätigkeit und politisch-ideologische Diversion), verbucht.

  2. Thomas Meyer sagt, man wolle "die Kommunisten drängen, ihre Propagandaformel vom friedlichen Wettbewerb der Systeme auch einzulösen und bei sich zu Hause eine offene Debatte über die Ergebnisse der Systeme zuzulassen." Diesem Denken liegt offenbar die Annahme zugrunde, daß die innere Öffnung eines kommunistischen Systems von außen her auf friedlichem Weg erreichbar sei. Um dies aber zu beurteilen, muß man sich die Machtstrukturen im Kommunismus in der DDR der SED-Diktatur vor Augen führen:

    1. Artikel l der DDR-Verfassung beinhaltete den Führungsanspruch der SED, der den Allmachtsanspruch impliziert. Daraus folgt

    2. die Unschädlichmachung aller Gruppen und gesellschaftlichen Kräfte, die diesen Führungsanspruch in Frage stellen könnten, durch ihre Einbindung, Gleichschaltung, Isolierung oder sogar Ausschaltung. Zwischen einem Führungsanspruch, respektive Allmachtsanspruch und dem Gewähren von Selbstbestimmungsrechten besteht ein unüberbrückbarer Gegensatz. Führungsanspruch bedeutet Unterordnung für die Nichtführenden. Selbstbestimmungsrechte aber sind die Voraussetzung für einen offenen Dialog. Sie beginnen mit Gedan

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    ken-, Meinungs-, Versammlungs-, Organisations- und Pressefreiheit. Unterordnung und Freiheit passen nicht zusammen. Das Gewähren der offenen Debatte über die Beurteilung der Ergebnisse des Systems (real existierender Sozialismus) setzt Freiheiten voraus, die eben dieses System in Frage und damit die Machtfrage selbst stellen.

    Daher konnte die SED eine offene Debatte niemals zulassen. Die verbale Absichtserklärung hierzu war lediglich eine weitere Phrase, die der Formel vom friedlichen Wettbewerb der Systeme schlicht hinzugefügt wurde.

  3. Motiv - das ist jetzt ganz kurz: Das Bemühen um "Hinzufügung unverblümter politischer Auseinandersetzung zur reinen Entspannungspolitik". Meine Meinung ist, daß dieses Motiv das schwächste aller drei Motive ist, weil es bereits durch das erste Motiv der Dialogfähigkeit zur Friedenserhaltung in Frage gestellt wird.

    Wo fand in der DDR eine offene Debatte jemals statt? Ich kann mich nicht erinnern, jemals von einer öffentlichen Diskussion zwischen Vertretern der SPD und der SED gehört zu haben. Das SED/SPD-Papier hat zweifellos die Widersprüche innerhalb der SED verstärkt. Ihre Wirkung ist aber mit Korb 3 von Helsinki nicht vergleichbar, da es keine rechtlichen Berufungstatbestände geschaffen hat.

Es ist mehrfach in der SED vorgekommen, daß die Partei sich in einer Krise befunden hat. Das war 1953 so, 1968 so, bei der Babelsberger Konferenz und bei verschiedenen anderen Gelegenheiten. Immer wieder war die SED in der Lage, ihre eigenen Widersprüche glattzuziehen und die Opponenten innerhalb der eigenen Reihen zu entfernen, ohne daß das ihre Machtbasis entscheidend in Frage gestellt hätte. Die SED war ein Meister im Umwerten und -definieren von politischen Begriffen und Kategorien. Sie hat das SED/SPD-Papier in ihre eigene Ideologie eingebaut und damit unschädlich zu machen versucht. Das Ideologiepapier hat den Herrschaftsmechanismus der SED selbst nicht wirklich in Frage gestellt. Es mag innerparteiliche Kräfte in der SED gegeben haben, die sich durch dieses Papier gestärkt fühlten. Doch zu wirklich widerständigem bzw. opposi-

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tionellem Handeln führte das nicht. Und ich muß an dieser Stelle auch sagen: Austritte, Amtsenthebungen innerhalb der SED sind mit Widerstand, geschweige denn mit oppositionellem Verhalten in keiner Weise gleichzusetzen.

Mir ist kein Fall des Durchbrechens der SED-internen Parteistrukturen jemals bekannt geworden. Und auf die Wende haben SED-Mitglieder als solche keinen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Das Verweisen auf das Verhindern der militärischen Niederschlagung der Volkserhebung in der DDR nach dem Vorbild des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 ignoriert die historischen Bedingungen im Herzen Europas und damit in der DDR 1989. Wenn überhaupt, ist der Vergleich mit Polen Anfang der 80er Jahre gestattet, doch nach einer 10jährigen Auseinandersetzung begann dort die Kommunistische Partei zu kapitulieren. Der Runde Tisch, zur Erinnerung, begann im Januar 1989 in Polen, Warschau, das erstemal. Die Entwicklung in Polen hat den politischen Widerstand in der DDR weit mehr inspiriert als die Politik der Sozialdemokratie in der zweiten Phase der Entspannungspolitik.

Der Niedergang des kommunistischen Weltreiches ist in der Verschleuderung der Ressourcen der beherrschten Völker begründet. Irgendwann waren diese Ressourcen aufgebraucht. Der Kommunismus war Anfang der 80er Jahre in seine schwerste Krise geraten. Die Entwicklung in Moskau seit dem Amtsantritt Gorbatschows versuchte, durch sehr vorsichtige Demokratisierung und außenpolitisch durch die Aufgabe der Breschnew-Doktrin den Kommunismus als System zu reformieren.

Diese Entwicklung schaffte Freiräume für oppositionelles Handeln und die Wahrnehmung von Selbstbestimmungsmöglichkeiten, die bis dato nicht bestanden hatten. Obwohl die SED sich krampfhaft bemühte, die Bevölkerung der DDR im Griff zu behalten, entzogen ihr die praktisch-politischen Entwicklungen die Möglichkeiten hierzu. Allmählich sich vorantastend, füllten die oppositionellen Gruppen diese demokratischen Spielräume aus. In ihnen erwachten brachliegende und unterdrückte demokratische Traditionen zu neuem Leben.

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Jeder demokratischen Partei, insbesondere aber der SPD, hätte es zur Ehre gereicht, den Kontakt zu diesen jungen Kräften zu suchen, um ihnen den Rücken zu stärken. Doch dies fand bis auf wenige Ausnahmen nicht statt. Bekanntlicherweise stand die SPD mit ihrer Einschätzung der oppositionellen Bewegung nicht alleine.

An dieser Politik änderte sich aber auch nach den Vorgängen in der Berliner Zionskirche und den Verhaftungen im Zusammenhang mit der Rosa-Luxemburg-Demonstration kaum etwas. Statt dessen wurden die Kontakte zur SED intensiviert und verstärkt. Damit bewirkte die SPD innerhalb der oppositionellen Bewegung in der DDR eine nachhaltige Verstimmung und delegitimierte ihren demokratischen Ansatz. Die bereits latent vorhandene Ablehnung der westdeutschen Demokratie und der etablierten westdeutschen Parteien seitens der oppositionellen Bewegung der DDR wurde dadurch noch verstärkt. Der Widerspruch, der der Politik der SPD im Zusammenhang mit dem SED/SPD-Papier zugrunde liegt, zwischen dem Einfordern demokratischer Rechte einerseits und der Ignorierung jener Kräfte, die diese Rechte in Anspruch nahmen, harrt einer Erklärung.

Praktischen Nutzen hat dieses Papier kaum gebracht. Ich meine, es ist eher von Schaden auszugehen. Es war ein einzigartiges Experiment mit einem in Agonie liegenden System, dessen Agonie von der Sozialdemokratie so nicht erkannt wurde, weil die Friedenssicherung den Gedanken an ein schnelles Ende der DDR zu verbieten schien.

Eppler gereicht es zu Ehre, das endgültige Abkippen der DDR wahrgenommen und seine Partei rechtzeitig gewarnt zu haben. Doch ohne die Gründung der SDP am 7. Oktober 1989 hätte dieses Experiment die SPD in ein weit schwierigeres Kapitel ihrer Geschichte führen können, als wir es heute gemeinsam erleben dürfen.


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