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[Seite der Druckausgabe: 41]

Hans-Jochen Vogel
Statement zum Referat von Egon Bahr


Erstens, ich finde, dies ist eine dringend notwendige Veranstaltung, und ich bin der Friedrich-Ebert-Stiftung dafür dankbar, daß dieser Meinungsaustausch hier stattfindet. Wenn ich etwas zu kritisieren habe, dann vielleicht, daß wir von uns aus nicht schon früher stärkere Anstrengungen unternommen haben.

Daß ich das Wort nehme, liegt einfach daran, daß ich für die Phase, über die hier gesprochen wird, von 1983 an bis 1991 als Fraktionsvorsitzender und dann von 1987 an auch als Parteivorsitzender Verantwortung getragen habe. Auf diesem Hintergrund möchte ich zunächst zu den Fakten ein paar Bemerkungen machen.

Erstens: Streit- und Ideologiepapier: Es wird sicher heute im weiteren Referat zu genaueren Zitaten kommen. Hier sind anfechtbare Zitate, deren Problematik mir damals so bewußt ist wie heute, vorgetragen worden. Aber es steht eben auch drin, daß ein Wettbewerb der Systeme stattfinden muß, daß jedes System bereit sein muß zu Reformen. Es steht drin, daß Kritik innerhalb jedes Systems möglich sein muß und daß Beteiligung an der Kritik vom anderen System her keine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellt. Und es steht drin, daß offene Diskussionen möglich sein müssen, ja, es steht sogar drin, daß Zeitschriften und Zeitungen aus dem jeweils anderen Bereich ohne Schwierigkeiten zugänglich sein müssen.

Ein weiteres Faktum ist nicht allen bewußt: Dieses Papier ist, glaube ich, das einzige mit solchen Inhalten, das im "Neuen Deutschland", damals in einer Auflage von 1.000.000, von vorne bis hinten mit diesen Stellen abgedruckt wurde - eine Bedingung, die für uns eine erhebliche Rolle spielte.

Ich vermute, daß die Brisanz der eben von mir zitierten Stellen den Wortlaut der KSZE mindestens erreicht, wenn nicht sogar übertrifft. Nun zu den Kritikern dieses Papiers. Ich habe eine Umfrage unter 15 Bürgerrechtlern, darunter auch Richard Schröder, Friedrich

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Schorlemmer und Propst Falke in Erfurt, veranstaltet. 13 haben gesagt: Die Möglichkeit, darauf Bezug zu nehmen und der SED dies vorzuhalten, sei für sie ein wichtiger Pluspunkt gewesen. - Im übrigen gibt es, seit kurzem erst zugänglich, eine Einschätzung, die auch interessant ist: Herr Mielke hat am 26. April 1989 ein Gespräch mit dem stellvertretenden Chef des KGB gehabt, einem Herrn mit einem unaussprechlichen Namen. Den hat er ziemlich hart angelassen wegen subversiver Entwicklungen in der Sowjetunion. Und von diesem KGB-Vizechef angesprochen auf dieses Papier, hat er erklärt, dies sei ein Fehler gewesen und nichts habe der SED größere Schwierigkeiten gemacht. Deswegen habe man es sofort gestoppt. Man muß nicht alles glauben, was Mielke sagt, aber immerhin ist ja eine solche Einschätzung nicht völlig uninteressant.

Dann noch ein Faktum: Es wird manchmal übersehen, daß zu denen, die da mitgearbeitet und es befürwortet haben, Rix Löwenthal gehört hat. Ich glaube, die meisten hier wissen noch, was Rix für eine Grundposition hatte und daß der Abgrenzungsbeschluß von 1971 seiner Feder entstammte. Rix hätte ein Papier, das zugunsten der anderen Seite mittel- oder langfristig gewirkt hätte, nie und nimmer mitgetragen.

Die Unterscheidung zwischen Partei und Regierung, die hier gelegentlich auftaucht, erscheint mir, wenn ich die Realitäten in der DDR und in Osteuropa ansehe, ein bißchen künstlich. Erstens war Honecker Staatsoberhaupt und Generalsekretär, und zweitens war die Regierung in jedem Fall nur - jetzt benutze ich mal das Wort - eine Agentur des Politbüros. Die Regierung hat doch kein Wort gesagt oder unterschrieben, das nicht vorher im Politbüro genehmigt und gebilligt war. Insofern ist die Unterscheidung für westliche Verhältnisse sinnvoll, aber für die dort gegebenen Verhältnisse eben nicht.

Nationenbegriff: Wir haben stets festgehalten, daß der Begriff der Nation für uns viererlei umfaßt: Gefühlsgemeinschaft, Geschichtsgemeinschaft, Kulturgemeinschaft und Sprachgemeinschaft. Und ich habe oft und oft im Bundestag hinzugefügt: Die Frage, ob die Nation in einem Staat lebt oder ob in einem Staat mehrere Nationen leben

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oder ob die Nation in mehreren Staaten lebt, ist von der Geschichte immer wieder unterschiedlich beantwortet worden. Wir halten diese Frage offen.

Respektierung der Staatsangehörigkeit hat nie etwas anderes bedeutet - da muß ich Egon Bahr ausdrücklich zustimmen -, als daß wir niemandem die Rechte aus der deutschen Staatsangehörigkeit aufdrängen, der sie nicht selbst in Anspruch nimmt. Wer immer sich auf die Staatsangehörigkeit berufen hat, hat die vollen Rechte der Staatsangehörigkeit genossen. Zu den Kontakten mit Dissidenten kann, glaube ich, Gert Weisskirchen etwas sagen. Es ist immer peinlich, wenn man sich selber dann hier mehr oder weniger "berühmt". Aber ich habe viele Reisen auch und gerade dazu benützt, mich mit Leuten wie Propst Falke in Erfurt zu treffen. Daß dies die Öffentlichkeit nur bruchstückhaft erreicht hat, steht auf einem anderen Blatt.

Form der Begegnungen: - da stimme ich Egon Bahr wiederum zu - da gibt es Dinge, die von Peinlichkeit schon damals nicht frei waren und im nachhinein noch stärker peinlich wirken. Nur, die Grenze verläuft hier nicht zwischen SPD und CDU beispielsweise oder CSU, sondern die Grenze geht quer durch diese Parteien, um mich so höflich und so vorsichtig wie möglich auszudrücken. Treffen auf "Gut Spöck" z. B. waren unter Sozialdemokraten nicht üblich. Aber ich sehe aus der Resonanz, daß das "Gut Spöck" nicht allen vertraut ist, dann darf ich vielleicht von der Firma Merz und Herrn Strauß reden, dann wird es schon ein bißchen deutlicher.

Einen gewissen Unterschied gibt es - und das ist jetzt auch ein Problem mit den Aufzeichnungen der Stasi und der SED. Es gibt Gesprächsteilnehmer, die darüber selber sorgfältige Aufzeichnungen gefertigt haben oder jemand dabei hatten, der sorgfältige Aufzeichnungen gefertigt hat. Die tun sich - so ist nun mal das Leben - in der Auseinandersetzung mit dem, was in parallelen SED-Papieren aufgeschrieben ist, ein bißchen leichter als diejenigen, die allein auf Gott vertraut haben.

Gründung der SDP: Ich verstehe, daß wir hier gegenseitig mit großer Sensibilität vorgehen müssen. Aber ein Faktum darf ich doch

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in Erinnerung rufen: Schwante war am 7. Oktober. Am 9. Oktober hat einer, der damals eine gewisse Funktion in der Partei hatte, nämlich ich, erklärt, daß wir die Gründung begrüßen und daß wir zu jeder Form der Zusammenarbeit bereit sind. Ich habe allerdings - und hier sitzen Zeugen, die mir das bestätigen werden - mich immer wieder dagegen gewendet, daß wir als Vormünder oder Patrone oder als Leute auftreten, die besser wissen, was dort zu geschehen hat als die, die an Ort und Stelle gehandelt haben. Und das halte ich auch im nachhinein für richtig.

Und noch ein Faktum darf ich in Erinnerung rufen: Es wird kaum zur Kenntnis genommen und in der Bedeutung unterschätzt, daß auf Betreiben der SPD - und ich darf sagen, in diesem Fall auf mein Betreiben - das Präsidium der Internationale Mitte oder erste Hälfte November 1989 zu einer Sondersitzung in Mailand zusammentrat und der SDP durch einstimmigen Beschluß den Gaststatus verlieh. Das war nämlich von damals gesehen auch eine Schutzmaßnahme, um die Betreffenden vor Zugriffen zu bewahren.

Zu Böhme will ich nicht viel sagen. Uns waren keine Informationen verfügbar, die belastend gewesen wären. Als die ersten Hinweise kamen, ist dieser Mann mit einem untadeligen Rechtsanwalt und anderen in die Normannenstraße gegangen, und die Mitteilung war übereinstimmend, es hätte sich die Haltlosigkeit der Vorwürfe ergeben. Das war falsch, aber das hat man erst im Laufe der Zeit feststellen können.

Außerdem: Zum Geschäftsführer ist er von Euch gewählt worden und nicht auf Empfehlung aus dem Ollenhauer-Haus. Das erste, was ich von diesem Manne überhaupt gehört habe, das war im Fernsehen eine scharfe Kritik an der SPD im Westen, daß sie ihm nicht schon früher und intensiver geholfen hätte, die SDP zu gründen.

Im übrigen zu Böhme ein Wort: Ich glaube, dieser Mann - und ich habe ihn überhaupt nicht zu entschuldigen, ich hatte, weiß Gott, mit ihm meine Probleme! -, der ist mit seinen verschiedenen Identitäten überhaupt nicht mehr fertig geworden. Das ist mein Eindruck. Aber gut.

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Zur Deutschen Einheit noch ein Wort: Wer das Tempo des Einigungsprozesses im September/Oktober/November 1989 so vorausgesehen hat, wie es wirklich gelaufen ist, den bitte ich um ein Handzeichen. Ich habe alle Erklärungen und Äußerungen der SDP damals ebenso sorgfältig gelesen wie die anderer oppositioneller Gruppen. Und mir hat sich tief eingeprägt, daß es da immer hieß: Im Vordergrund stehen die demokratischen Freiheiten und die Rechtsstaatlichkeit, die Frage der Staatlichkeit in ein oder zwei Staaten ist dem nachgeordnet. Das war der Stand bis in den Dezember oder Januar 1990.

Insofern ist in dieser Frage ein Tempounterschied zwischen der westlichen SPD und der SDP höchstens in Nuancen festzustellen. Im übrigen hat es ja auch zwischen dem, was ich am 28. November 1989 in der Debatte gesagt habe, und dem, was Kohl gesagt hat, abgesehen von der polnischen Westgrenze keinen substantiellen Unterschied gegeben. Aus Gründen, die hier den Rahmen sprengen würden, gab es nach einer zunächst bekundeten weitgehenden Übereinstimmung, die ich in einer Sache dieser Tragweite auch nicht für falsch gehalten hätte, Gegenbewegungen, die das wieder aufgelöst haben. Und was den Berliner Parteitag angeht, war damals nicht so sehr das Grundsatzprogramm interessant, sondern das Ringen um eine deutschlandpolitische Entschließung, das sich am Schluß zugespitzt hat auf die Frage, ob wir hineinschreiben, daß am Ende des institutionellen Prozesses Deutschland "schließlich" oder "vielleicht auch" eine Republik sein werde. Über diesen Punkt haben wir damals zwei Stunden am Vortag des Parteitags gerungen, aber das "Auch", das ich befürwortete, hatte dann doch eine deutliche Mehrheit.

Zur Einschätzung insgesamt: Es ist so schwer, das Ex-post und das Ex-ante zu trennen. Wir können ja nicht so tun, als ob wir das, was inzwischen passiert ist, nicht im Kopf hätten. Ich war schon immer geneigt, die Rolle der Politik mit einer gewissen Bescheidenheit zu beurteilen. Und wenn das Thema Prognosefähigkeit der Politik und der Politiker auf die Tagesordnung kommt, dann ist diese Prognosefähigkeit mit vielen Vorbehalten zu sehen.

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Der Prozentsatz derer, die das alles vorausgesehen haben, ist doch erst nach dem Oktober/November 1989 sprungartig in die Höhe gegangen. Die, die es vorher gesagt haben, haben meinen Respekt. Daß wir die Friedensthematik so stark in den Vordergrund gerückt haben - Egon hat doch völlig recht -, das hat doch mit zu einem Klima geführt, das der inneren Repression stärker entgegenwirkte, als wenn wir uns in einem Zustand ununterbrochener Head-on-Konfrontation befunden hätten. Wenn dies richtig wäre, daß Head-on-Konfrontation die Einigung beschleunigt, dann hätten Nord- und Südkorea sich schon vor 30 Jahren vereinigen müssen, während sie in der Tat bis heute nicht vereinigt sind. Außerdem, das Spannungsverhältnis zwischen außenpolitischer Normalisierung und Liberalität, die sich die DDR zu geben versuchte, und innerstaatlicher Repression hat doch mit dazu geführt, den Veränderungsprozeß in Gang zu bringen. Das Entscheidende - auch für das Ideologie-Papier - ist die von Egon Bahr formulierte Frage: Wer hat wen angesteckt, und für wen war die Ansteckungsgefahr größer?

Ich hatte als Vorsitzender in dieser entscheidenden Präsidiumssitzung und vorher auch gewisse Probleme mit dem Ideologiepapier. Dafür, daß ich es schließlich bejaht und dann auch vertreten habe, war meine Erwartung maßgebend, die Gefahr für die da drüben, die mit uns geredet haben, sich an den Gedanken der Freiheit und der Demokratie anzustecken, sei stärker als die umgekehrte Ansteckungsgefahr. Und ich bleibe dabei: Zum unblutigen Übergang hat dies alles doch stärker beigetragen, als es dem einen oder anderen erscheint.

Da bin ich übrigens an dem einzigen Punkt, wo ich hinter Egon Bahrs Ausführungen ein kleines Fragezeichen setzen würde. Daß nämlich dem unbekannten Öffner der Mauer eine hohe Auszeichnung gebühre. Erstens, glaube ich, daß man heute über den Ablauf einigermaßen Bescheid weiß. Zweitens, glaube ich, so, wie die Dinge an diesem 9. November lagen, blieb den Betreffenden wahrscheinlich gar nichts mehr anderes übrig. Das jedenfalls ist mein Eindruck. Drum sage ich: Horn ist sehr zu loben. Aber dem Mitarbeiter im Innenministerium, der diese Dinge erst einmal auf dem Behördenweg in Gang

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gebracht hat, und denen, die die Rückfrage der Grenzsoldaten sinngemäß dahin beantwortet haben: Laßt sie gehen!, denen würde ich doch noch eine längere Wartefrist bis zur Verleihung einer Auszeichnung zumuten.

Letzte Bemerkung: Ich glaube, die Frage, warum es gut ging, sollte noch zwei Überlegungen auslösen. Erstens ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal oder gegenüber dem Herrgott, oder wie immer der einzelne das hält. Daß dies alles ohne einen Tropfen Blut möglich war, ist auch heute noch ein Wunder!

Unsere Fähigkeit, Dinge als selbstverständlich anzusehen, die ein Wunder waren - zu diesem Wunder gehört auch Leipzig und gehört das, was dort in Gang gesetzt worden ist -, die ist mitunter fast bedrückend.

Und das Zweite: Daß es unblutig blieb, weil die abgewirtschaftet hatten, überzeugt mich nicht ganz. 1953 hatte das Regime mindestens ebensosehr abgewirtschaftet. Und 1956 in Budapest hatten die damaligen Machthaber noch viel mehr abgewirtschaftet! Das Entscheidende war, daß Gorbatschow entschlossen war und die Kraft hatte, das Prinzip durchzusetzen: Was immer auch passiert, meine Soldaten bleiben diesmal in den Kasernen. Dazu, Markus (Meckel), hat aber diese ganze zweite Phase der Politik, die Egon (Bahr) geschildert hat, ein ganzes Teil beigetragen. Und ein Gorbatschow, der sich von uns eine russische Übersetzung des Entwurfs des Berliner Programms geben ließ, weil er auf Grund der vielfältigen Kontakte glaubte, das könne auch für ihn eine Perspektive sein, ein solcher Mann war jedenfalls viel weniger disponiert zu sagen: "Wir greifen ein. Es ist die Machtfrage. Wir schießen!" als einer, der durch diese Kontakte zu einer solchen Überzeugung gekommen ist.

Ich bitte um Nachsicht, daß es ein bißchen lang war. Ich wäre mir doch merkwürdig vorgekommen, wenn ich als damaliger Vorsitzender nur interessiert zugehört hätte.

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