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Hans-Ulrich Wehler:
Angst vor der Macht? Die Machtlust der Neuen Rechten


Der Streit um das Plädoyer, daß sich die Bundesrepublik endlich als ein selbstbewußter Machtstaat mit eigener Interessenpolitik unter besonderer Berücksichtigung ihrer Mittellage verstehen solle, begann vor rund zwölf Jahren. Er wurde eröffnet durch ein sporadisches Raunen über den unentrinnbaren Zwang zur sogenannten Geopolitik. [ Vgl. H.-U. Wehler, Renaissance der Geopolitik? in ders., Preußen ist wieder chic, Frankfurt 1983, S. 60-66; ders., Entsorgung der deutschen Vergangenheit, München 1988, S. 31-34.] Dann erschien 1985 ein Essay des Bonner Politikwissenschaftlers Hans-Peter Schwarz, in dem er den Westdeutschen vorwarf, daß sie angeblich einen Weg "von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit" eingeschlagen hätten. Das ist eine Formel, die seither Eingang in die politische Umgangssprache gefunden hat. Schwarz rügte mit seinem polemischen Temperament, daß die Deutschen von einem Extrem ins andere fielen, von der Machtvergottung unter Hitler in die Machtverachtung während der vier langen Friedensjahrzehnte der Bundesrepublik. Seine Pointe: Endlich müßten sich die Westdeutschen wieder an die Ausübung von Macht im Bereich der internationalen Beziehungen gewöhnen, da der Wirtschaftsriese mitten in Europa nicht länger als politischer Zwerg auftreten könne. Dieser Appell, in dem es von sarkastischen Attacken auf das westdeutsche Phäakendasein mit seinem von den Großmächten geschützten Glück im sicheren Winkel nur so wimmelte, wurde noch vor dem Ende des Sowjetimperiums und vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten formuliert. Aber schon damals drückte Schwarz nur offener aus, was manch einer auf der Rechten zwar dachte, aber allenfalls sotto voce gestand. [ H.-P. Schwarz, Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Machtvergessenheit, Stuttgart 1985.]

Seitdem nun die neue Bundesrepublik 1990 zum Großstaat mit achtzig Millionen Menschen mitten in Europa aufgestiegen ist, wurde die Aufforderung von Schwarz, zunächst als Vorpreschen eines kessen Einzelgängers gelobt oder kritisiert, zum festen Topos einer bestimmten Strömung in der öffentlichen Meinung. Nicht nur wird seine Forderung, mit dem Phänomen Macht in den auswärtigen Beziehungen selbstbewußt umzugehen, ständig wiederholt. Vielmehr ist das Postulat auch in der Debatte über globale deutsche Truppeneinsätze für die Vereinten Nationen, über einen deutschen Sitz im Weltsicherheitsrat, über den erweiterten Handlungsspielraum der deutschen Außenpolitik in Ost- und Südosteuropa ständig präsent.

Vor kurzem hat Schwarz selber seinen Überredungsversuch fortgesetzt, "das wiedervereinigte Deutschland tatsächlich als Zentralmacht Europas zu begreifen". Seine, wie er sagt, "rein analytische" Bewertung der Lage kommt zu dem Schluß, daß "Deutschland gewissermaßen 'zur Großmacht verdammt'" sei. Oder mit ähnlichem Pathos: "Dem Schicksal, die Zentralmacht Europas zu sein, läßt sich nicht entkommen." Worauf beruht diese apodiktische Gewißheit? Zur Zeit, glaubt Schwarz, gibt es nur ein Land, "das dank geographischer Lage, wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und kultureller Ausstrahlung, dank Größe und immer noch vorhandener Dynamik die Aufgabe einer Zentralmacht wahrnehmen muß - und das ist eben Deutschland." Schwarz hält diese Diagnose für nicht mehr als eine "simple Tatsachenfeststellung. Deutschland ist bereits die Zentralmacht Europas", schreibt er, "und es gibt allenfalls Zeitgenossen, die vor der Einsicht in das Unvermeidliche zurückschrecken."

Zu diesen Einsichten rechnet Schwarz auch, daß in der politischen Welt, wie Johann Gustav Droysen, eines der Häupter der borussischen Historikerschule vor 150 Jahren, es einmal ausgedrückt hat, "das Gesetz der Macht" so unverrückbar gelte "wie in der Körperwelt das Gesetz der Schwere." Auch "der Blick auf die Realität des europäischen Staatensystems des derzeitigen Fin de siècle" zeigt Schwarz "eben doch, daß Europa diesem Gesetz weiterhin unterliegt." Eben deshalb müsse die Bundesrepublik mit ihrem überlegenen Machtpotential "wieder den Part der europäischen Zentralmacht spielen", natürlich ohne die fatalen Fehler des Kaiserreichs, geschweige denn des NS-Regimes zu wiederholen, aber in einer kühlen Verfolgung ihrer eigenen Interessen, die Schwarz, um nur ein Beispiel zu nennen, mit einem föderativen Europa à la Maastricht für unvereinbar hält. [ H.-P. Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994, S. 8, 12, 46, 125; vgl. die vorzügliche Kritik von C. Bertram, in: Die Zeit 9.12.1994, S. 69 .- J.G. Droysen, Historik, Darmstadt 1974 7 , S. 352 (§ 71).]

Selbstverständlich enthält das Buch des Politologen manche bedenkenswerte, weil kühlen Kopfes unternommene Analyse. Der Grundton ist jedoch eine unverhüllte Befürwortung deutscher Macht- und Interessenpolitik. Dabei scheint das eigentliche Faszinosum darin zu bestehen, daß sich mit der 1990 besiegelten Zusammenballung der neudeutschen Machtressourcen eine geradezu unübersehbare Anzahl von erquicklichen Chancen verbindet, dieses Potential auf der Linie "nationaler" Interessen einzusetzen. Der sprachliche Schwulst - das "Schicksal, die Zentralmacht Europas" und "zur Großmacht verdammt" zu sein - und der volkspädagogische, vor allem gegen widerspenstige Intellektuelle gerichtete Duktus des Zuredens, sich endlich dem ehernen Gesetz der Macht zu beugen, können das Liebäugeln mit der künftigen Machtausübung kaum verbergen.

Steigert Schwarz den Begriff der "Zentralmacht" bereits zu "einer objektiven Tatsache", hält sein Kollege Arnulf Baring von der Freien Universität Berlin es noch für die zur Zeit anstehende Aufgabe, endlich "Deutschland als relative Vormacht Europas zu etablieren." Von einem ominösen Fatum geht freilich auch Baring aus, denn die Situation, welche diese Hegemonie seit 1990 begünstigt, "fällt uns [...] jetzt ohne unser Zutun in den Schoß." Deshalb mochte er seinem Verleger Siedler auch nicht widersprechen, als dieser 1991 im Zwiegespräch auftrumpfte: "Tatsächlich ist Deutschland zum erstenmal wirklich wieder die Hegemonialmacht ganz Mittelosteuropas." Um erst gar keinen Zweifel an der Analogie zur Hegemonialstellung des Bismarckreiches aufkommen zu lassen, betont Baring immer wieder die offenbar willkommene "ähnliche Lage", "wie wir sie nach 1871 hatten." Nicht darin lauern die alten Gefahren, sondern "wir [sind] in Gefahr, [...] uns der neuen Aufgabe, die die Situation uns stellt, einer größeren Verantwortung zu verweigern [...] mit eher fadenscheinigen moralischen Ausflüchten." [ Schwarz, Zentralmacht, S. 10; A. Baring, Eine neue deutsche Interessenlage? Köln 1992, S. 28 f., 32; ders., Deutschland, was nun? Berlin 1991, S. 83 (Siedler). Vgl. H.-U. Wehler, Westbindung - oder Nationalismus und Großmachtsucht der Neuen Rechten? in: ders., Die Gegenwart als Geschichte, München 1995, S. 138-43.]

Auch Baring huldigt diesem wiederbelebten Kult der geopolitischen "Mittellage", zumal "die Deutschen" sich "ihren Platz in der Mitte Europas nicht ausgesucht" hätten. Allerdings beschleichen einen böse Ahnungen, wenn man etwa mit dem geopolitischen Imperativ die Aufgaben für die Hegemonialmacht verknüpft findet, sich aktiv um die polnischen Nachbarn zu kümmern, "mit denen wir ja vielfältig verflochten sind, nicht zuletzt durch die gemeinsamen Territorien!" "Weder Deutsche noch Polen können und sollen vergessen, in welchem Maße diese Räume [die deutschen Ostprovinzen] deutsch geprägt sind." Mit den Polen hat Baring offenbar überhaupt seine Schwierigkeiten. Denn in einer atemberaubend realitätsfernen Verkennung der polnischen Mentalität und der nationalpolnischen Traditionen verkündet er, daß Deutschland für die Polen "längst [...] zum bewunderten Vorbild geworden" sei. "Wenn man die Polen ließe, würden sie sich mit großen Mehrheiten der Bundesrepublik anschließen." Da verwundert es einen kaum noch, wenn Baring auf die von Siedler kolportierte Häme, daß in der Zeit der DDR "aus den Menschen dort [...] weithin deutschsprechende Polen geworden" seien, zunächst mit einem enthüllenden Schweigen reagiert, ehe er dann folgerichtig eine "langfristige Rekultivierung, eine Kolonisationsaufgabe, eine neue Ostkolonisation" in den neuen Bundesländern auf die deutsche Innenpolitik zukommen sieht. [ Baring, Deutschland, S. 24, 40, 63, 70; ders., Interessenlage, S. 18. Vgl. die Kritik in: F. Pflüger, Die konservative Revolution entläßt ihre Kinder, Düsseldorf 1994, S. 122, 136.]

Zu diesen neumodischen Großtönern, die in das Horn von Schwarz und Baring stoßen, gehört auch Gregor Schöllgen, ein Geschichtsprofessor in Erlangen, dessen Buch "Angst vor der Macht", der Titelspender, unlängst erschienen ist. [ G. Schöllgen, Angst vor der Macht. Die Deutschen und ihre Außenpolitik, Berlin 1993.] Es handelt von den "Deutschen und ihrer Außenpolitik" hier und heute, und auch ihm geht es darum, daß seine Landsleute ein ungezwungenes, gewissermaßen "natürliches" Verhältnis zur Macht, zu ihrer Macht, zurückgewinnen, nachdem es durch die Erfahrungen mit dem "Dritten Reich" und dem Zweiten Weltkrieg, aber auch durch den verhängnisvollen Einfluß bornierter Publizisten und engstirniger Wissenschaftler insbesondere einer bestimmten Generation von Sozialhistorikern, tief gestört worden sei. Solche Vorwürfe leiden unter einer gleich dreifachen Schwäche.

Erstens unterschätzen sie die Gewalt der Erfahrungen, welche die Deutschen mit der braunen Diktatur, mit dem totalen Krieg, mit der Flucht von rund 15 Mio. Deutschen in den knapp dreißig Jahren nach 1933 gemacht haben. Denn die Fluchtbewegung beginnt 1933 und nicht mit der Vertreibung der Ostdeutschen. Das waren extrem bittere Erfahrungen, aus denen die Überlebenden für sich selbst und für ihre Kinder lernen wollten. Das Resultat war weithin eine in der Tat außerordentlich große Distanz gegenüber staatlicher Machtanwendung, die über den herkömmlichen innenpolitischen Konkurrenzkampf und das politisierte Verwaltungshandeln hinausging. Die Zeit der naiven Machtbegeisterung und herrischen Machtausübung, so schien es, war dahin. Insistiert wurde dagegen nahezu von jedermann auf äußerster Behutsamkeit, ja möglichst auf asketischer Zurückhaltung. Angesichts der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man das eigentlich nur einen produktiven Lernprozeß nennen. Von pathologischem Lernen müßte man sprechen, wenn die Deutschen auf ihrer maßlosen Machtpolitik ungerührt weiter bestanden, sie möglichst bald wieder fortgesetzt, mithin keine ernsthaften Konsequenzen gezogen und keine heilsame Skepsis gegenüber der Macht entwickelt hätten.

Zum zweiten überschätzen solche Vorwürfe den Einfluß insbesondere von Journalisten und Historikern, die ihr Publikum angeblich in die Sackgasse einer verderblichen Aversion gegen jede Form von auswärtiger Politik geführt haben. Unterstellt wird da eine geheime, aber mächtige Meinungsführerschaft, die zu bösen Zwecken mißbraucht worden sei. Der Ton ist schon fast denunziatorisch - im Sinne eines Verrats an den wahren, den außenpolitischen Interessen des Landes, die aus dem Zentrum der geschichtswissenschaftlichen Aufmerksamkeit gewissermaßen verdrängt worden seien. Inhaltlich wird jedoch weder geprüft, woher denn der Einfluß stammte, wenn es ihn überhaupt so gegeben hat, noch wird eine überlegene Gegenkonzeption angeboten.

Wie könnte denn, fragt man sich, eine wirklich moderne Politikgeschichte, wie sie auch Schöllgen fordert, heutzutage angelegt sein, die der Bedeutung der Außenpolitik auf eine angemessene Weise gerecht würde? Das blanke Unvermögen, eine solche Alternative wenigstens einmal als methodischen Entwurf zu skizzieren, um die eigene Kritik glaubwürdiger zu machen, ist das eigentlich irritierende Problem. Übrig bleibt ein schmalbrüstiges Plädoyer mit dem Appell, die Außenpolitik als Politikbereich wieder ernstzunehmen, ihn gerade heute aufzuwerten. Inhaltlich bewegt sich dieses Postulat aber auf einem Niveau, das aufgeschlossene Historiker, wie etwa Hermann Oncken, schon vor 1914 als ziemlich verspätetes Rankeanertum charakterisiert hätten.

Drittens fehlt bisher eine überzeugende Antwort auf die Frage, warum denn die Deutschen überhaupt "ihre Angst vor der Macht" über Nacht vergessen und so geschwind zur angeblichen "Normalität" der Machtpolitik zurückkehren sollten.

Die umstrittene Westbindung hat bisher eine autonome Machtpolitik im Stil der klassischen souveränen Nationalstaaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verhindert. Und eben deshalb polemisiert ein Gutteil der Neuen Rechten für eine fundamentale Umorientierung. [ Vgl. R. Zitelmann u.a. Hg., Westbindung, Berlin 1993.] Zu welchen verlockenden Ufern, darf man fragen, soll der neue Aufbruch erfolgen? Die Neue Rechte, gleich mehr zu einigen dieser illustren Figuren, plädiert zwar vehement für einen Bruch mit der Westbindung einer Vergangenheit, die endlich auch vergehen soll, sie muß sich aber einer Kosten-Nutzen-Abwägung des von ihr selber geforderten Unternehmens stellen. Und da gilt zunächst, daß das wohlverstandene Eigeninteresse auch der neuen Bundesrepublik unverändert für die politische und wirtschaftliche, die militärische und kulturelle Identifizierung mit dem Westen spricht. Die anstehenden, riesigen Probleme, die Integration der ostdeutschen Bundesländer, die Expansion und Konsolidierung der Europäischen Union, die effektive Anbindung Osteuropas, die Stabilisierung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, eine konstertierte Aktion gegen Umweltkatastrophen, alle diese Probleme können, scheint es, vom Westen nurmehr als gemeinsames Problem mit Aussicht auf Besserung angegangen werden. Das Zeitalter der nationalstaatlichen Alleingänge ist für die Länder der europäischen Union und der NATO im allgemeinen vorbei. Das ominöse Schicksal der "Mittellage", das uns da immer konstatiert wird, schreibt Deutschland keineswegs die anachronistischen Optionen des alten Machtstaates vor. Die Konstellation erfordert vielmehr weiterhin die Westbindung. Aber der langjährige Konsens über sie wird von der Neuen Rechten aggressiv in Frage gestellt, obwohl die Wölfe gelegentlich Kreide fressen - Rainer Zitelmann ist ja inzwischen zum Berliner Vordenker der FDP avanciert -, um als "normale Rechte" in einer pluralistischen Gesellschaft anerkannt zu werden.

Die Frage ist: Um wen handelt es sich bei dieser Neuen Rechten, die inzwischen nicht mehr der Wunschtraum einiger irregeleiteter Phantasten, sondern eine Realität ist. Es ist ein relativ kleines, buntes Völkchen, sehr bekenntnisfreudig, das sich als das erste Meinungslager des wiedervereinigten Deutschland anpreist. Die Frage ist, ob es sich noch in der Grauzone zwischen Rechtskonservativismus und Rechtsradikalismus bewegt oder ob nicht einige nurmehr durch ihren Anspruch auf einen verquasten Tiefsinn von ganz rechtsaußen zu unterscheiden sind.

Es gibt eine Gruppe von jungkonservativen Schwarmgeistern, den eben erwähnten Zitelmann, dazu Weißmann, Großheim, Eberhard Straub, Knütter in Bonn und Konsorten, die man alle vereint in dem Sammelband "Westbindung" findet. Man trifft sie aber auch zum guten Teil in einem Sonderheft des "Parlament" vom November 1994, wo sich erstaunlich viele ohne öffentlichen Protest tummeln durften. Überhaupt zeigen solche Sammelwerke die allmählich voranschreitende Erosion der Abgrenzung nach rechts. Man kann nur staunen, welche Autoren sich in solche Projekte einbinden lassen. Mit solchen Pseudokonservativen streiten die Redakteure und Mitarbeiter von Zeitschriften wie "Criticon", "Junge Freiheit", "Mut"; dann kommen noch einige Schreibtischgelehrte hinzu, die sich inzwischen als ehrgeizige politische Gurus aufführen.

Zu solchen Vordenkern des Unheils rechne ich unverändert Ernst Nolte, der sich längst als rechtskonservativer Nationalist entpuppt hat. Die Kontinuität der Unbelehrbarkeit ist in seinem Fall besonders bestechend. Unentwegt streitet er auch in seinen letzten Veröffentlichungen für "das historische Recht" des Nationalsozialismus, aus "legitimer Vernichtungsfurcht dem bolschewistischen Ideologiestaat mit vermutlich weit überschießender Energie" - das muß man sich langsam auf der Zunge zergehen lassen - entgegenzutreten. Die Verantwortung für die Katastrophe wird vor der Tür der Sowjetunion abgeladen, die den "europäischen Bürgerkrieg" ausgelöst, Hitler, wie er sagt, als "bürgerlichen Anti-Lenin" geradezu heraufbeschworen habe. Und noch immer erfährt kein Nolte-Leser, daß nicht das Duell zwischen Rot und Braun das kurze 20. Jahrhundert von 1914 bis 1991 dominiert hat, sondern daß der Sieg der westlichen Demokratien in dieser Epoche zweimal den Ausschlag gegeben hat. Seine Kritiker stehen für Nolte in der fatalen Kontinuität einer verharmlosenden Sichtweise der kommunistischen Diktatur. Und heute: Nolte dauern seine Deutschen, die er weiterhin als Sündervolk stigmatisiert sieht, zumal die selbstzerstörerische Kritik im eigenen Land weiter ins Kraut schieße. Sogar in den Lichterketten gegen den Möllner Türkenmord hat der einzige Repräsentant der "philosophischen Geschichtsschreibung", wie er sich selber genannt hat, in Wahrheit eine bösartige Attacke gesehen, um das endlich heranwachsende Nationalbewußtsein im Keime zu ersticken. [ E. Nolte, Streitpunkte , Berlin 1993/1994 2 .]

Zu den selbsternannten Propheten der Neuen Rechten gehört, wie vorn erwähnt, auch Arnulf Baring, der beglückt an Bismarck anknüpfen möchte mit seinem Wunsch, Deutschland als Vormacht Europas zu etablieren. Dazu gibt es prompt den Beifall eines Göttinger Jungkonservativen namens Kraus, man solle sich endlich mit etwas mehr Selbstbewußtsein auf unsere eigenen langfristigen Interessen als Großmacht in der Mitte Europas besinnen. Das ist ein ehemaliger Rechtsradikaler aus Goslar und Mitarbeiter von "Criticon", wo er mehrfach Jürgen Habermas als den "perfekt Umerzogenen" der Reeducation charakterisiert hat, ein Doktorand von Rudolf von Thadden, für seine Arbeit über einen der Gebrüder Gerlach von der Göttinger Akademie mit dem Preis für eine hervorragende Leistung belohnt. [ H. C. Kraus, in: Westbindung, S. 89.]

Ihren Kampf für die gerechte Sache will die Neue Rechte mit "normaler" Schärfe führen, das klingt dann etwa so: Man müsse gegen die politische Religion des Bekenntnisses zur Westbindung anstürmen, weil die verhängnisvolle Fixierung der "politischen Klasse" und "intellektuellen Kaste" die "politische Utopie" der "totalitären Durchdringung der gesamten Gesellschaft" zum Ziel habe. Das ist Originalton Zitelmann. [ Zitelmann, in: Westbindung, S. 185, 10.] Gegen die "Schuldmetaphysik" und die üblich gewordene "schwarze Legende" der neuen westdeutschen Weltanschauung, die alle Symptome des Wirklichkeitsverlustes besitze, tritt Weißmann als ein neuer Drachentöter an. [ K. Weißmann, in: FAZ 22.4.1994.] Die Antwort kann ziemlich entschieden ausfallen, und sie ist auch deshalb geboten, weil es nicht mehr, modisch gesprochen, um den kulturellen Diskurs einiger aufgeregter Außenseiter geht, vielmehr wird hier ein politischer Machtanspruch angemeldet: Es geht um die Meinungsführerschaft, das, was Weißmann die Eroberung von geistigem Einfluß nennt mit der Absicht, erst die kulturelle und dann die politische Hegemonie über ein möglichst großes Terrain zu gewinnen. Dabei leben die Trommler der Neuen Rechten von ihren Affekten gegen die Westbindung, gegen die Abwertung der Nation, gegen den Verzicht auf Großmachtpolitik. Ihre positiven Ziele dagegen sind schwerer zu erkennen. Das ist ein Gebräu von plakativen, ziemlich dumpfen Ideen, die bisher nirgendwo mit rationalen Argumenten gut verteidigt worden sind.

So wird zum Beispiel immer vollmundig der Primat der Nation gefordert. Aber der Begriff der Nation wird mystifiziert statt genau definiert. Es wird ein Hymnus auf Deutschland als Nationalstaat und Großmacht angestimmt, aber was das genau heißen soll, bleibt offen. Da wird das politische Geraune von der "Mittellage" fortgesetzt, von der Mittlerrolle, der Brücke zwischen Ost und West, geschwärmt. Aber die Mitte sieht von Krakau, Prag und Budapest, von Frankfurt/Oder, von Bonn und von Bern ganz anders aus als bei diesen neuen geopolitischen Strategen. Was soll überhaupt noch "der Osten" heißen, wo doch ganz Osteuropa nichts sehnlicher wünscht, als endlich vorbehaltlos als historischer Bestandteil des Westens akzeptiert zu werden und endlich eine möglichst enge Westbindung auch institutionell zu gewinnen?

Unübersehbar ist jedoch die tiefe Antipathie der Neuen Rechten gegen den Westen, und sie scheint nichts anderes zu sein als ein Rückfall in das antiwestliche Ressentiment des reichsdeutschen Kulturpessimismus seit den 1880er Jahren, der Weimarer "Konservativen Revolution". Unüberhörbar ist auch der Appell dieser rückwärtsgewandten Propheten, zur nationalen, egoistischen Interessenpolitik einer vermeintlichen Großmacht zurückzukehren. Das ist der Rückfall in den neunmalklugen Machiavellismus der Wilhelminer, deren Wirklichkeitsverlust, als Realpolitik drapiert, die Katastrophe Europas seit 1914 herbeigeführt hat. Nicht jeder betreibt dieses Geschäft so tumb wie ein gewisser Eberhard Straub, der den Westen als eine Art Religionsersatz, als eine innerweltliche Kirche, diffamiert. Von diesem hohen Kothurn herab ist dann seine Einsicht ganz folgerichtig, daß der Versailler Vertrag den Westen völlig diskreditiert habe und die Weimarer Republik als Folge des Fehlverhaltens der westlichen Demokratien scheitern mußte. Im übrigen solle der Nationalsozialismus endlich historisiert werden, damit er nicht länger mehr aus der Pathologie der modernen deutschen Geschichte hergeleitet, sondern im Zusammenhang der europäischen Krise des Liberalparlamentarismus behandelt werde. [ E. Straub, in: Westbindung, S. 324, 326, 331, 341.] Das wird uns bei der Erklärung dessen, was Ernst Nolte den Radikalfaschismus genannt hat, also des Nationalsozialismus, des deutschen Vernichtungskrieges im Osten, des Holocaust, einen Riesenschritt weiterhelfen.

Alle Neuen Rechten kultivieren ihre Aversion gegen die These vom deutschen "Sonderweg", mit dem wir jahrelang versucht haben, 1933 und die Folgen zu erklären. Den derzeit erreichten, ziemlich differenzierten Diskussionsstand nehmen sie nicht zur Kenntnis, plädieren aber selber ziemlich ungeniert für einen neuen Sonderweg, den einer frisch gekürten Großmacht, die, wie es heißt, ihren wirklich zwingenden Interessen endlich unbeschwert folgen müsse. Welcher genaue Kurs von welchen Interessen erzwungen wird, das wird wohlweislich nicht gesagt. Da dreht sich unaufhörlich eine Art tibetanischer Gebetsmühle mit alten Worthülsen, und anstelle des klaren Entwurfs regiert, besonders krass in Barings "Deutschland, was nun?", ein atemberaubendes Ensemble von Potenzträumen und Angstphantasien zur gleichen Zeit.

Natürlich kann nach dem langen 19. Jahrhundert und dem relativ kurzen 20. Jahrhundert, das vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis zum Zerfall nicht nur der Sowjetunion, sondern des petrinischen Rußland reicht, nicht geleugnet werden, daß eine Konstellation neu entstanden ist, die sich von Grund auf von der Lage in den vier Jahrzehnten davon unterscheidet. Die latente Bedrohung durch eine auch ideologisch hochgerüstete Supermacht in unmittelbarer Nähe ist zwar entfallen, aber die künftige Machtpolitik Rußlands, das unverändert eine Großmacht bleibt, kann leicht zu einem potentiellen Krisenherd werden. Die Vereinigung der beiden deutschen Neustaaten von 1949, vulgo Wiedervereinigung, hat das ökonomische Potential der neuen Bundesrepublik auf mittlere Sicht direkt, ihr politisches Potential indirekt vergrößert. Vor allem haben sich auch die Erwartungen des internationalen Umfeldes an sie verändert. Und geradezu gegen den Willen Bonns ist die Bundesrepublik zur stärksten Potenz in der Europäischen Union aufgestiegen. Sie ist noch keine Hegemonialmacht im klassischen Sinn, sie ist auch noch keine halbhegemoniale Macht wie in den beiden Jahrzehnten der Reichskanzlerschaft Bismarcks. Aber sie hätte das Potential dazu. Das ist der richtige Kern in der Argumentation von Hans-Peter Schwarz. Und andere Akteure in der internationalen Politik wissen, fürchten oder schätzen das.

Gleichzeitig hat sich der Nord-Süd-Gegensatz weiter zugespitzt, die Entwicklungshilfe der Industrieländer schrumpft, das Interesse schwindet, die inneren Konflikte in der nicht-westlichen Welt - seitdem es keine Zweite Welt mehr gibt, kann man auch nicht mehr von der Dritten sprechen - werden blutiger, heftiger, ausgedehnter, so daß die Intervention der Vereinten Nationen künftig auch immer häufiger mit Truppen von Mitgliederstaaten erfolgen wird. Der Sog, auch deutsche Militärverbände "out of area" im Auftrag der Vereinten Nationen einzusetzen, wird nicht nachlassen, sondern stärker werden. Als humanitäre Hilfe läßt sich das immer ausgeben, und oft ist sie das ja auch, fast immer aber am Rande des offenen militärischen Konflikts oder bald mittendrin.

Die Frage ist: Wie soll sich die neue Bundesrepublik auf diese Konstellation einstellen? Ich versuche, einige Probleme anzuschneiden, die wichtig genug sind, daß man deren Diskussion nicht der Alten oder Neuen Rechten überlassen sollte.

Erstens sollte man möglichst unpolemisch anerkennen, daß die Deutschen in der alten Bundesrepublik aus der Machthysterie zwischen 1914 und 1945 durchaus vernünftige und rationale Konsequenzen gezogen hatten. Das geschah in einem sehr schmerzhaften Lernprozeß, in dem sich Millionen Menschen der Vergangenheit gestellt haben - nicht alle sofort, viele erst seit 1968 oder doch mit größerem zeitlichen Abstand. Im internationalen Vergleich ist es aber ein eindrucksvoller Lernprozeß, der etwa in Japan und Italien, um zwei andere Verlierer des Zweiten Weltkrieges zu nennen, bis heute nicht seinesgleichen hat. Das glänzende Buch von Jan Boruma kontrastiert sehr klar die deutsche Art von "Vergangenheitsbewältigung" mit dem japanischen Umgang mit der eigenen Geschichte; denn es fehlt in Japan bis heute eine offene Anerkennung des mörderischen Charakters seiner Kriegführung von 1932 bis 1945 und der zahllosen Kriegsverbrechen. Eine kritische Zeitgeschichte, die hierzulande zur Hygiene des öffentlichen Bewußtseins immens viel beigetragen hat - Männer wie Karl Dietrich Bracher, Martin Broszat und viele andere sind ja auch immer gleichzeitig Figuren der öffentlichen Debatte gewesen -, existiert dort nicht. Es gibt keinen einzigen Lehrstuhl für Zeitgeschichte. In Italien hat der wohltätige Mythos vom allgemeinen Widerstand gegen Mussolinis Faschismus und Hitlers Nationalsozialismus viel Belastendes verdrängt, so daß dieser Vergleich sehr positive Akzente im Hinblick auf den deutschen Lernprozeß hinterläßt.

Dem entstammt aber auch eine tiefe Skepsis gegen den allzu geschwinden Umgang mit politischer und insbesondere mit militärischer Macht. Dieser Konsens wird von der politischen Pest des Rechtsradikalismus nicht geteilt, aber das ist ja eine Randgruppe unserer Gesellschaft, die damit ebenso fertig werden muß, wie das andere westliche Gesellschaften auch tun müssen. Die Machtskepsis ist wahrscheinlich durch die Welle der antiautoritären Erziehung verstärkt worden. Dann ist sie durch den gesinnungsethischen Protest der Friedensbewegung gegen die Rüstungspolitik der frühen 80er Jahre noch einmal vertieft worden. Diese Einflüsse haben gleichzeitig auch Illusionen genährt, die in einer Welt, die ohne politische Konflikte bis hin zum Krieg realistischer Weise nicht vorstellbar ist, wie Seifenblasen zerplatzt sind. Man braucht nur an das blamable Verhalten der sogenannten Friedensbewegten angesichts des barbarischen Krieges zu denken, der schon seit Jahren den Zerfall des ehemaligen Jugoslawien begleitet.

Trotzdem müssen die Deutschen durch gute Argumente in einer Diskussion, die mit sehr langem Atem geführt werden muß, von den neuen Konstellationen und den neuartigen Anforderungen an sie zuerst einmal überzeugt werden. Man sollte nicht in der Pose des Verfechters neuer Machtpolitik vor sie treten und dabei allzu leicht in die Großmachtallüre und neue Großmannssucht verfallen. Man kann von ihnen nicht die eilfertige Rückkehr zu der vermeintlichen Normalität von Machtpolitik einklagen, die es genausowenig gibt, wie es eine Normalität des Nationalismus gibt. Und diese offene, um Verständnis werbende Diskussion anstelle des apodiktischen Dekretes der Experten, der selbsternannten Machtpropheten oder auch der Dauerpazifisten fehlt hierzulande noch immer.

Die Neue Rechte möchte gerne - das würde vermutlich keiner, der dazugehört, bestreiten - den neuen Machtstatus beweisen, ein wenig die Muskeln spielen lassen in Europa und in Übersee, und eigentümlicherweise möchte sie auch partout im Weltsicherheitsrat mitmischen. Ein Sitz im Weltsicherheitsrat ähnelt aber einem Himmelfahrtskommando. Und jeder, der politisch halbwegs bei Sinnen ist, versucht, sich möglichst lange von diesem Kommando fernzuhalten. Man muß dafür eine Zweidrittelmehrheit der Mitgliedstaaten haben, das heißt, man muß im politischen Kuhhandel Abermilliarden bewegen, um 120 Mitglieder zu gewinnen. Die Kosten würden die Kosten der Hallstein-Doktrin binnen kurzem bei weitem übersteigen. Daher die Frage, ob es politisch nicht viel klüger wäre, gemeinsam auf einen Sitz für die Europäische Union hinzuwirken. Wer abwarten kann, nicht wer drängelt, gewinnt am ehesten Einfluß.

Nun trauert ein Teil der Linken der friedlichen Sondersituation der alten Bundesrepublik nach, sie möchte auch die breite pazifistische Strömung in den eigenen Reihen nicht vergrätzen. Sie schwankt oft zwischen der Anerkennung humanitärer Pflichten und der Sorge vor der Verwicklung in militärische Kämpfe. Am liebsten möchte sie eine Art artifizielle politische Virginität zurückgewinnen, die es um keinen Preis auf der Welt gibt. Also hat sie sich in ihrer Not an das Bundesverfassungsgericht gewandt. Das Grundgesetz läßt jedoch, was jeder wissen konnte, entgegen der nur gewohnheitsrechtlich entstandenen Überzeugung vieler die Teilnahme an einer Aktion der Vereinten Nationen durchaus zu, solange das Parlament zustimmt. Das Bundesverfassungsgericht mußte die Kläger erst einmal auf den Boden der Realität zurückführen.

Die zweite Frage ist: Was ist unter diesen Bedingungen zu tun? Die Bundesrepublik sollte, begleitet von dieser intensiven, im guten Sinne aufklärenden Diskussion, ihren Kurs doppelgleisig fahren. Sie muß, da weit und breit keine attraktivere Alternative sichtbar ist, die europäische Integration energisch vorantreiben. Nur durch die Einbindung in die Europäische Union wird der neue deutsche Großstaat für alle Nachbarn erträglich bleiben, nur so können sich die Nachbarn mit seiner Existenz versöhnen. Diese Integration trägt einmal der Vergangenheit Rechnung, der vielerorts sehr lebendigen Erinnerung, die in diesem Jahr überall wieder hochquellen wird, an die exzessive Machtpolitik deutscher "Herrenmenschen". Sie trägt aber auch der Zukunft Rechnung, da eine europäische Föderation nicht nur ein Höchstmaß an Sicherheit gegen deutsche Alleingänge bietet, sondern die Optionen für eine positive Politik Gesamteuropas vermehrt. Daß die deutsche Wirtschaft den europäischen Markt braucht, ist eine banale Selbstverständlichkeit, beide Vorzüge muß man sich auch finanziell viel kosten lassen.

Im Augenblick ist es ein strukturelles Dilemma der Europa-Diskussion, daß der folgende Punkt nicht diskutiert wird. Die europäische Option muß mindestens gleichwertig sein, wenn man sie mit dem Angebot der weiterexistierenden Nationalstaaten vergleicht, wenn es geht, sogar etwas überlegen. Sie ist noch nicht gleichwertig im Hinblick auf die Sozialpolitik, auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, auf das Arbeitsrecht. Deshalb besteht die Forderung nach einer Sozialcharta, um im Grunde genommen das europäische Angebot genauso attraktiv zu machen wie das, was der westdeutsche Sozial- und Wohlfahrtsstaat zu bieten hat, zu Recht. Diese Diskussion wird von keinem, auch hierzulande nicht, offensiv geführt, man zieht sich vielmehr hinter die Barriere zurück: Wir haben in Maastricht die Weichen gestellt. Das Ergebnis einer solchen Konfliktscheu ist, daß man, wenn wir das Problem plebiszitär lösen müßten, nicht mehr sicher sein kann, ob ein politisch föderiertes Europa in der neuen Bundesrepublik noch mehrheitsfähig wäre.

Der dritte Punkt ist: Die Bundesrepublik hat sich auf die Teilnahme an Aktionen der Vereinten Nationen, auch an militärischen Operationen, einzustellen. Die Mitgliedschaft gebietet das, und das Grundgesetz schließt eine solche Mitwirkung keineswegs aus. Nun gibt es keine trennscharfe Unterscheidung zwischen humanitärem und militärischem Einsatz. Auch Sanitätseinheiten müssen notfalls verteidigt werden, man kann sie nicht über die Klinge springen lassen. Kriegführung im Ausland ist jedoch rechtlich, mental und politisch Soldaten, die aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundeswehr ihren Dienst leisten, nicht ohne weiteres zuzumuten. Die Engländer, die Franzosen, die Amerikaner schicken deshalb aus guten Gründen ihre Berufssoldaten.

Ich meine daher, daß an einer Berufstruppe auch für die Bundesrepublik letztlich kein Weg vorbeiführt. Dieses Urteil wird indirekt durch die allgemeine Abrüstungspolitik der letzten Jahre bestätigt, deren Konsequenz die Mißachtung jeder Wehrgerechtigkeit ist, da ständig weniger Rekruten eingezogen werden. Die Erinnerung an die Verselbständigung des Militärs zwischen 1890 - unter Bismarck kann man das vom älteren Moltke nicht sagen - und 1933 - dann kann man das unter Hitler wieder nicht sagen - kein Gegenargument auf Dauer, obwohl wir als Historiker immer wieder, auch zu recht, die Gefahren des deutschen Militarismus beschworen haben. Mir scheint, daß die Bundesrepublik nicht um Einheiten aus hochtrainierten Berufssoldaten herumkommt, auch und gerade für auswärtige Einsätze. Man mag das Argument für zynisch halten, muß es aber diskutieren. Ich glaube, daß diese Lösung pragmatisch nicht vermeidbar ist. Die Bundesrepublik braucht daneben eine Wehrpflichtigenarmee bis zu der Größe, welche die Abrüstungsvereinbarungen vorschreiben.

Sie braucht außerdem ein allgemeines soziales Dienstjahr für jeden jungen Mann, der nicht zur Bundeswehr will oder muß. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum unentwegt Tausende zurückgestellt werden wegen minimaler physischer Defekte, welche die Bundeswehr aus Angst vor den Rentenforderungen zittern lassen. Sie sind als Zivildienstleistende hochwillkommen. Das muß letztlich auch für jede junge Frau gelten, da die Erinnerung an den Reichsarbeitsdienst und an das Pflichtjahr der unseligen Jahre die Ungleichbehandlung nicht länger rechtfertigen kann. Abgesehen vom Gleichheitsprinzip erkennt man die Wertpräferenzen einer Gesellschaft auch immer daran, wie sie mit ihren Alten und Jungen, ihren Schwachen und Kranken umgeht. Ihre Lage ist es, die im Grunde, da die Bundesrepublik bisher nicht willens ist, die nötigen Milliarden für diese großen, dazu wachsenden Bevölkerungsgruppen aufzubringen, ein solches allgemeines Zivildienstjahr erzwingt. Sonst muß man mit immensen Disparitäten und Ungleichheiten in bestimmten Generationen leben. Das läßt sich alles nicht über Nacht, sozusagen par ordre du Mufti, erzwingen, es muß in einer vermutlich langwierigen öffentlichen Diskussion erörtert, überprüft, vielleicht teilweise verworfen, umformuliert und vorentschieden werden.

Das muß über einen langen Zeitraum ausgetragen werden, abwägend, nicht voller Gier nach Machtbeweisen und voller Enthusiasmus, die Bürde der deutschen Vergangenheit abwerfen zu können. Selbstverständlich ist an diesen Bedingungen der neuen Konstellation seit 1989/90 für die Erben der Folgen von Hitlers Politik gar nichts. Normal wäre eine erinnerungslose Rückkehr zur deutschen Machtpolitik erst recht nicht. Nur eine solche offene Diskussion könnte auch die blamable Wiederholung eines Ganges zum Bundesverfassungsgericht verhindern, denn als Politikersatz ist der Hüter der Verfassung nicht gedacht.

"Machtvergessenheit" oder "Angst vor der Macht" sind ganz irreführende Parolen, hinter denen vermutlich schon wieder zuviel Ehrgeiz steckt, kräftig mitzuhalten. Die gelassene Umstellung auf die neue Lage, die vielleicht, nachdem sie immer wieder in der öffentlichen Debatte einer Kosten-Nutzen-Abwägung unterworfen worden ist, auch zur Anwendung von wirtschaftlicher oder im internationalen Verbund von militärischer Macht führen kann - das ist die künftig anstehende, außerordentlich schwierige und jeweils neu zu lösende Aufgabe. Darüber müssen wir diskutieren. Man darf diese Diskussion nicht der Alten und Neuen Rechten überlassen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juni 1998

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