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Diskussion des Vortrages von Hans Mommsen

Michael Schneider

Zunächst möchte ich Ihnen, Herr Mommsen, wie ich glaube, in Ihrer aller Namen herzlich für den Vortrag danken. Es ist Ihnen - wie nicht anders zu erwarten war - gelungen, den Problemhorizont auszuleuchten sowie Ihre eigene Position und die Unterschiede zu den Thesen Goldhagens so differenziert darzustellen, daß damit die kontroversen Punkte, aber auch die Übereinstimmungen markiert wurden. Angesichts der Vielgestaltigkeit des hier entfalteten Argumentationsrahmens will ich versuchen, für die Diskussion die wichtigsten Thesen und kontroversen Punkte kurz in das Gedächtnis zu rufen:

1. Zunächst einmal geht es um die Frage: Wer waren die Täter? Wie groß war ihr Zahl? Was waren ihre Motive? Nach Daniel Goldhagens Befund waren es ganz „normale Deutsche", die - zu Tausenden, wenn nicht zu Hunderttausenden - ohne Skrupel, ja aus Überzeugung mordeten, eben weil sie als Antisemiten von der Richtigkeit und Notwendigkeit ihres Tuns durchdrungen waren. Dabei schließt er - um es pointiert zu formulieren - aus der „Normalität der Mörder" auf die „Mordbereitschaft oder Mordlust der Normalen", also „der" Deutschen.

Auch Hans Mommsen ortet die Täter nicht nur in der Führung der NSDAP, nicht nur im engsten Kreis um Hitler und die SS-Spitze. Vielmehr gehörten zu den Tätern - darauf schon frühzeitig hingewiesen zu haben, ist eines der Verdienste von Hans Mommsen - nicht nur SS- und SA-Männer, nicht nur KZ-Wächter, sondern auch Beamte der öffentlichen Verwaltung, des Transportwesens, Polizeibeamte und auch Soldaten. Der Kreis der Täter war also größer, als es manche Gegner der „Kollektivschuldthese" wahrhaben wollen; aber auch wenn man die Masse der Täter nach Zehn- oder Hunderttausenden zählen muß, rechtfertigt das - so verstehe ich Hans Mommsens Argumentation - nicht, nahezu alle Deutschen zu Tätern zu erklären.

2. Sodann geht es um die folgende These Daniel Goldhagens: Wenn auch nicht alle Deutschen zu Tätern wurden, so habe doch die große Mehrheit die Verfolgung und auch die Ermordung der Juden unterstützt oder sie als Mitwisser zumindest gebilligt. Dieser Punkt ist aufs engste mit der These Daniel Goldhagens verbunden, die Bereitschaft, wenn nicht der Wille zur Vernichtung der Juden sei seit dem 19. Jahrhundert tief in der deutschen Gesellschaft verankert gewesen. Für ihn ist die „Endlösung der Judenfrage" ein „nationales Projekt" der Deutschen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit Anhänger eines „eliminatorischen Antisemitismus" gewesen seien. Als Belege dienen Goldhagen nicht nur antisemitische Publikationen, sondern auch Vielzahl und Verhalten der Täter - und der Zeugen oder Mitwisser. Denn zu nennenswerten Protesten oder gar Widerstandsmaßnahmen gegen die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden kam es - anders als in der Frage der „Euthanasie" - nicht, obwohl sich Ausgrenzung und Verfolgung der Juden vor aller Augen vollzogen.

Dem hält Hans Mommsen entgegen: Die Gewaltaktionen gegen die Juden hatten keine massenhafte Unterstützung der Deutschen; es gab keinen „Volkszorn" auf die Juden. Das Regime sah sich vielmehr gezwungen, bei der Ermordung der Juden die Öffentlichkeit so weit wie möglich auszuschließen. Auch wenn über die Maßnahmen der „Endlösung der Judenfrage" weder gesprochen noch geschrieben werden durfte, gab es allerdings eine „untergründige Kenntnis", aus der sich jedoch bei den meisten Deutschen kein Bild der Gesamtaktionen ergeben habe.

3. Umstritten ist schließlich die Frage, ob die Vernichtung der Juden von langer Hand vorbereitet war, ob man also die Ankündigungen der Vernichtung - zum Beispiel in Hitlers „Mein Kampf" - als „Programm" oder eher als „Metapher" für eine noch situationsabhängig zu formulierende Politik verstehen kann oder muß. Daniel Goldhagen interpretiert die „Endlösung der Judenfrage" als eine zwingende Folge des deutschen „eliminatorischen Rassenantisemitismus" des 19. Jahrhunderts, der in den entsprechenden Ankündigungen und Drohungen der Nationalsozialisten konkretisiert worden und schließlich in die Tat umgesetzt worden sei. Für Hans Mommsen steht der Mord an den europäischen Juden hingegen am Ende eines Prozesses der „kumulativen Radikalisierung" der dreißiger Jahre, in dem es radikalisierten Randgruppen gelang, öffentliches Klima und staatliches Handeln zu bestimmen.

4. Am schmerzlichsten für uns Deutsche mag wohl die Frage sein, ob der Ausbruch manifester Gewalt bis hin zum Massenmord ein ausschließlich deutsches Problem sei. Daniel Goldhagen geht in seiner Studie durch die Gegenüberstellung von „Wir", den „westlichen Demokraten", einerseits und „den Deutschen" andererseits offenbar von dieser Annahme aus. Ist aber angesichts der immer wieder aufbrechenden Gewalt nicht eher zu befürchten, daß die „Endlösung der Judenfrage" - trotz ihrer Singularität - ein Beispiel für die Brüchigkeit der Decke aufgeklärter Humanität ist, unter der auch in zivilisiert scheinenden modernen Gesellschaften Terror und Gewaltbereitschaft lauern?

Ich hoffe, daß ich mit diesen Bemerkungen nicht die Diskussionsbereitschaft erstickt, sondern Ihnen vielmehr Zeit und Gelegenheit gegeben habe, sich zur Wortmeldung zu entschließen.

Niels Hansen

Die instruktiven Ausführungen von Professor Mommsen bringen die Problematik, wie ich glaube, in die ihr gebührenden Proportionen, und es ist wichtig, daß das Referat veröffentlicht wird. Dazu in aller Kürze zwei Bemerkungen: Leider haben nicht nur die Funktionseliten, sondern allgemein auch ein Teil der intellektuellen Eliten in den schlimmen Jahren versagt, zum Beispiel bereits anläßlich der Relegierung auch der jüdischen Universitätsprofessoren aufgrund des sogenannten „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" 1933. Es liegt mir aber auch daran, den aus Deutschland vertriebenen Politologen Franz Neumann zu zitieren, der in seinem 1942 zum erstenmal in New York und London erschienenen klassischen Werk „Behemoth - Struktur und Praxis des Nationalsozialismus" schreibt: „Nach meiner persönlichen Überzeugung ist das deutsche Volk, so paradox das auch sein mag, noch das am wenigsten antisemitische von allen." Im Diskurs nach der Katastrophe galt es verständlicherweise als verpönt, insoweit Vergleiche zwischen Deutschen und anderen zu ziehen, und Theodor Heuss hat durchaus zu Recht vor einer „schrecklichen Aufrechnerei" gewarnt. Angesichts der heutigen Themenstellung und des ihr zugrundeliegenden Buches scheint mir die Aussage Neumanns, auf die lediglich kurz hingewiesen werden soll, immerhin relevant.

Ignatz Bubis

Sicher werden Sie damit einverstanden sein, die (Adolf) Stoecker und (Johann Gottlieb) Fichte zu den geistigen Wegbereitern des eliminatorischen Antisemitismus zu rechnen. Jedoch möchte ich Ihnen, Herr Mommsen, in zweierlei Hinsicht widersprechen.

Ich habe Sie so verstanden, als ob die Bildung von Ghettos etwas damit zu tun gehabt hätte, daß in Polen Wohnungen für Deutsche freigemacht werden mußten. Aus der Erfahrung heraus sehe ich das ganz anders. Die Bildung von Ghettos diente dem Zweck, die Juden zu konzentrieren, um sie besser unter Kontrolle zu halten, sie der Zwangsarbeit zuzuführen und später zu vernichten. Wir können keinen anderen Sinn erkennen, wenn wir an das Warschauer Ghetto denken.

Und in noch einem Punkt will ich Ihnen widersprechen. Sie meinen, selbst hohe Funktionäre hätten sehr oft das Ausmaß der Verbrechen nicht gekannt. Hierin sehe ich einen Widerspruch insofern, als sie sich schon dafür interessierten. Hätten sie nichts gewußt, hätten sie sich dafür auch nicht zu interessieren brauchen. Ich sehe das ganz anders. Ich meine, das hat vielmehr mit einem Verdrängungsprozeß zu tun. Ich möchte nur ein einfaches Beispiel anführen: Hans Filbinger hat einmal gesagt, er habe nur ein Urteil gesprochen. Zwei Tage später erfuhren wir jedoch von weiteren Urteilen. Als er sagte, er habe es wirklich nicht gewußt, habe ich ihm geglaubt. Hier liegt das Problem. Man hat gehandelt, es jedoch so verdrängt, daß man später noch nicht einmal selber etwas wußte. So kommen die vielen angeblichen Nichtwisser zustande.

Hans Mommsen

Die Frage der Ghettobildung haben Sie, Herr Bubis, an sich richtig dargestellt. Ursprünglich sollten die Gettos die Funktion haben, als Sammelstellen zu fungieren. Das gilt für die Zeit, in der wesentliche Teile des Apparates noch an den Madagaskar-Plan glaubten. Insofern ist Ihre Beschreibung vollkommen exakt. Auf die Entscheidung, geschlossene Gettos zu bilden, deren Anlage zu forcieren, wirkte jedoch das Folgende ein: Jene Hunderttausende von Volksdeutschen, die sich bereits auf dem Treck befanden, wollte man im Warthegau ansiedeln, die Polen indes aus ihm aussiedeln; für sie wurden Wohnungen gebraucht. Daher wurde die Aussiedlung der Juden aus den Großstädten im Generalgouvernement in die Gettos vorangetrieben. Das wollte ich zum Ausdruck bringen.

Die eigentlichen Exponenten des Regimes fallen natürlich nicht unter die Kategorie, die ich beschrieben habe. Da stoßen wir auf einen Mechanismus, die Dinge zu verdrängen. Ich sage immer, die Verdrängung vollzieht sich von oben nach unten, nicht umgekehrt.

In Hinsicht auf die Professoren haben Sie recht, noch mehr in Hinsicht auf die deutschen Studenten der Weimarer Zeit. Ihre Haltung entsprach dem dissimilatorischen Antisemitismus der deutschen Oberschicht. Die Professoren machen keine Ausnahme. Nur sollten wir etwas vorsichtiger sein, wenn wir generalisieren. Es gab selbstverständlich auch Professoren, die sich anders verhielten. Aufs Ganze gesehen, folge ich Ihnen, Herr Hansen. Die „Selbstreinigung" der deutschen Universitäten von Juden war ein sehr schmerzloser, freiwilliger Vorgang. Franz Neumann ist ganz wichtig. Ob er jedoch zwei Jahre später dieselbe Sache so dargestellt hätte, nachdem er vom Holocaust erfahren hatte, möchte ich ungeachtet seiner entschieden marxistischen Position in Zweifel ziehen.

Niels Hansen

Diese Meinung enthalten auch spätere Ausgaben. In der (offenbar letzten) Ausgabe des Werkes von 1963, bei der es sich um einen Reprint der - ergänzten und auf den neuesten Stand gebrachten - zweiten Auflage von 1944 handelt, finden wir den zitierten Satz wörtlich wieder.

Hans Mommsen

Ich möchte noch eine Bemerkung machen, die das Verhältnis der Deutschen zu anderen Völkern betrifft. Zwar hat Herr Kollege Goldhagen einen Preis für komparative Politologie bekommen. Aber er hat noch nicht einmal verglichen, welchen Verlauf die Verfolgung der Juden in anderen Ländern nahm. Im Zusammenhang mit der hitzigen Debatte, die Goldhagen ausgelöst hat, ist mir eine Hypothese in den Kopf gekommen: Jedes Volk, jeder Nationalstaat durchlebt, so scheint mir, eine gewisse Hochphase des Antisemitismus; hernach können sie besser mit ihm umgehen. Erzählte ich Ihnen etwas über den ungarischen Antisemitismus im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, würden Sie nicht glauben, welche Gewalt von ihm ausgegangen ist. 1918 sagte niemand, der Antisemitismus gefährde die Deutschen. Vielmehr nahm man an, er gefährde die Franzosen. Die Deutschen, eine in mancher Hinsicht zu spät gekommene Nation, haben das Problem des Antisemitismus im 19. Jahrhundert noch nicht hinreichend aufgearbeitet. Es kam der nationalsozialistischen Agitation entgegen, daß die Emanzipation der Deutschen nicht abgeschlossen worden war. Für schwierig halte ich es, Parallelen zu anderen Völkern zu ziehen. An ihnen gemessen, sind die deutschen Verhältnisse eben anders.

Volkmar Tunsdorf

Vor 1933 gehörte ich dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, einer Organisation zur Verteidigung der Demokratie in der Weimarer Republik, an. Ich bin in Breslau, in München und in Berlin zur Schule gegangen. In der Klasse merkten wir nicht, wer unter den Mitschülern Katholik, Protestant oder Jude war. Hätte es nicht den Religionsunterricht gegeben, hätten wir es überhaupt nicht gewußt. Unter der ganzen freiheitlich gesinnten Jugend der Weimarer Zeit war Antisemitismus ein fremder Begriff. Im Reichsbanner haben wir uns mit der SA und mit der SS herumgeschlagen. Für uns waren die Nazis keine Deutschen, sondern diejenigen, die den deutschen Namen entehrten. Sie waren das Ärgste, was es in Deutschland gab. Aus Abscheu vor diesem Gesindel bin ich am 15. Mai 1933 emigriert. Der Holocaust ist etwas Entsetzliches und wird mich bis an mein Lebensende verfolgen. Auch in Österreich, wohin ich emigriert bin, habe ich mich mit den Nazis herumschlagen müssen.

Ein Wort will ich dagegen sagen, daß die Deutschen „ein Volk von Tätern" seien. Das Reichsbanner hatte dreieinhalb Millionen Mitglieder, auch noch nach 1933. Waren das die Täter? Millionen befanden sich in den Konzentrationslagern. Waren das Täter? Hunderttausende sind emigriert. Waren das Täter? Oder die Helden und Märtyrer des Widerstandes, die ihr Leben gegeben haben? Waren das Täter? Oder die Unzähligen, die die innere Emigration gewählt haben? Waren das Täter? Ich bin gegen die Kollektivbezeichnung, die Deutschen, die Amerikaner, die Russen, die Juden. Immer gab es doch auch ein „anderes Deutschland", vorher und nachher.

Peter Andersch

Ich bin Jahrgang 1929, habe also alles als Hitler-Junge miterlebt. „Ein Volk von Tätern" ist sicher nicht richtig. Aber nach dem Vortrag von Herrn Mommsen ist uns doch wohl allen klar geworden: Das deutsche Volk war in dieser Zeit ein Volk voller Täter. Wir haben von den Funktionseliten gesprochen. Wir haben von den 200.000 bis 300.000 Leuten in den Polizeibataillonen gesprochen, die brave Familienväter waren. Und es gibt die Gesinnungstäter, deren klammheimliche Sympathie alle diese Prozesse überhaupt erst ermöglicht hat. Herr Mommsen hat von den Führungseliten in Bürokratie und Militär gesprochen, die von vornherein keinen Widerstand geleistet haben. Es geht ja nicht nur um das Ende, um die Vernichtung. Sie wurde doch mit Rassegesetzen, infolgederen es zu einer systematischen Ausgrenzung der Juden gekommen ist, planmäßig vorbereitet. Auch sie haben in Deutschland keinen Sturm des Protestes hervorgerufen. Und deswegen stelle ich die These auf: Die Deutschen waren in dieser Zeit ein Volk voller Täter.

Harry Kley

Ich komme aus London, habe jedoch früher in Bonn gelebt. Meine Eltern und meine Großeltern sind in Auschwitz umgekommen. Von den 200.000 bis 300.000 Mann, die dort im Osten als Einsatztruppen fungierten, nannte sich nicht einer einen Täter. Vielleicht können Sie mir sagen, wer der Täter war, der meine Eltern umgebracht hat? Außerdem verstehe ich auch diese Diskussion über Goldhagen nicht, der ein Buch geschrieben hat. Da war einer, der hieß Adolf Hitler. Der hat auch ein Buch geschrieben, in dem jeder Jude ein Täter war.

Hans Mommsen

Ich vermag nicht wie ein Kriminalist der Frage nachzuspüren, wer was an welcher Stelle getan hat. Diese tragische Geschichte, an die Sie erinnern, müßte, wenn ich Ihre Frage beantworten wollte, im einzelnen analysiert werden. Dann ließe sich wohl schon Näheres über die Verantwortung der jeweiligen Gruppierungen sagen. Mit Recht machen Sie deutlich, daß es sich selbstverständlich um einen Komplex handelte, der die Kommunen ebenso einschloß wie die Bereitstellung von Wohnraum und dergleichen. Die schrittweise Isolierung, die Deportation gehen nicht nur auf kleine, geheimnisvolle Eliten zurück, sondern auf die Bürokratie im ganzen. Und die andere Frage lautet eigentlich nicht so sehr, was Hitler in „Mein Kampf" geschrieben hat. Sie lautet vielmehr, warum Hitler von der Mehrheit der Nation akzeptiert worden ist, obwohl womöglich viele das ablehnten, was er in „Mein Kampf" geschrieben hatte.

Michael Schneider

Das Thema „Die Deutschen und der Holocaust" ist zum einen zu umfassend, die Antworten auf die vielfältigen damit verbundenen Fragen sind zum anderen, wie auch der Verlauf der Diskussion gezeigt hat, zu unterschiedlich, als daß ich mit einem Schlußwort auch nur den Versuch wagen könnte, allseits anerkannte Ergebnisse oder gar Konsens festzuhalten. Statt dessen möchte ich versuchen, einige subjektive Eindrücke von der bisherigen Debatte um die Thesen Daniel Goldhagens zu formulieren: Zunächst einmal: Auch wenn es seit Jahrzehnten Forschungen zum Holocaust gibt, halte ich es für grundsätzlich berechtigt, auch alte Fragen neu zu stellen. Jede Zeit formuliert ihre eigenen Fragen, jede gibt ihre eigenen Antworten auf die Geschichte. Und manche Antworten müssen wiederholt werden, weil oder wenn sie in Vergessenheit zu geraten oder verdrängt zu werden drohen.

Sodann möchte ich festhalten, daß ich die Frage nach den Motiven der Täter, die Goldhagen in den Mittelpunkt seiner Darstellung stellt, für berechtigt halte. Ich finde es einleuchtend, daß man nicht davon ausgehen darf, daß die Täter in ihrer Mehrheit gegen ihren Willen, gegen ihre Überzeugung gehandelt hätten. Doch die Annahme eines Geflechts, einer Vielfalt von Motiven scheint mir allemal realistischer zu sein als eine monokausale Begründung, die allein auf einen spezifisch deutschen, „eliminatorischen Antisemitismus" abhebt.

Diese eindimensionale Argumentation scheint mir auch im Hinblick auf andere Thesen der Arbeit Daniel Goldhagens problematisch zu sein: Kann man wirklich die politische Kultur Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert auf den Antisemitismus reduzieren? Müßte man nicht, wenn man den deutschen Antisemitismus als „eliminatorisch" heraushebt, wenigstens ansatzweise vergleichende Betrachtungen anstellen? Sind der Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei und die Machtübernahme der Nationalsozialisten nur auf die Attraktivität der antisemitischen Polemik zurückzuführen? Muß man nicht die Geschichte des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik (mit) heranziehen?

Bei all diesen Fragen bin ich jedoch sicher, daß die geschichtswissenschaftliche Forschung - wenn in den Medien der Wirbel um die „Goldhagen-Debatte" abgeflaut ist - in der Lage sein wird, dank fortschreitender Erweiterung des Blickfeldes und der Differenzierung der Deutungsmuster bald zu neuen, konsensfähigen Antworten zu kommen. Dann wird man erkennen, daß Goldhagen und seine Kritiker in einer Reihe von Punkten entweder nicht so weit auseinander liegen oder ihre Thesen sich kaum widersprechen. Dazu ein Beispiel: Schaut man - wie Hans Mommsen - auf den Gesamtprozeß des Mordes an den Juden, so drängt sich der Eindruck von bürokratischer Effizienz und kalter Planung auf. Blickt man jedoch - wie Daniel Goldhagen - auf die Ausführung des Mordens, so treten vielfach persönliche Grausamkeit und Haß, treten der Wille oder die Bereitschaft hervor, die Opfer zu erniedrigen und zu quälen. Diesem Unterschied in der Interpretation entspricht ein unterschiedlicher Begriff der „Vollstrecker": Während Hans Mommsen an die Planer und Bürokraten denkt, sieht Daniel Goldhagen auf die, die die Mordtaten ausgeführt haben. Beide Ansätze scheinen mir indes bei genauerem Hinsehen sehr wohl miteinander vereinbar zu sein.

Das Bemühen um differenzierte Erklärungen und die Vermeidung von Pauschalurteilen bedeuten freilich nicht, daß Schuld und Verantwortung der Deutschen vermindert würden. Die Täter waren Deutsche. Und: Ohne das „Dritte Reich" hätte es keine „Endlösung der Judenfrage" - also auch keine Beteiligung von Angehörigen anderer Nationen - gegeben. Ich halte es jedoch für eine unzulässige Generalisierung, von „den" Deutschen als den Tätern zu sprechen. Gerade Hans Mommsen hat mit seinen Arbeiten den Blick dafür geschärft, wie breit der Kreis der Täter eigentlich war.

Schon dieser Hinweis unterstreicht die Tatsache, daß - gemessen an den Frontstellungen des „Historikerstreits" - Daniel Goldhagen und die meisten Sozialhistoriker, die bisher mit kritischen Anmerkungen und Vorbehalten gegen die Thesen Goldhagens hervorgetreten sind, auf derselben Seite stehen: Übereinstimmend erklären sie den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Mord an den europäischen Juden primär aus Kontinuitäten der deutschen Geschichte, die von Daniel Goldhagen jedoch auf den Antisemitismus eingeengt werden. Überdies sind sie sich einig in der Überzeugung, daß es nicht darum gehen kann und darf, einen Schlußstrich unter die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen zu ziehen.

All denen, die - beflügelt von der deutschen Vereinigung - geglaubt haben, sie könnten den Zeitpunkt bestimmen, wann Deutschland aus dem „Schatten der Vergangenheit" heraustreten kann, mag die Aufnahme des Buches von Goldhagen im Ausland die Irrigkeit ihrer Annahme zeigen. Doch das genauer zu beleuchten, ist die Aufgabe der folgenden Podiumsdiskussion.


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