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TEILDOKUMENT:



Prof. Dr. Uta Meier
Weichenstellung für einen Mentalitätswechsel in der Familienpolitik.
Mehr Aufmerksamkeit und Fürsorglichkeit für die Familie als Herausforderung für Politik und Wirtschaft


[Seite der Druckausg.:9]



Thesen

1. Westliche Industriegesellschaften werden von ihren Wortführern gern als Wissens- und Informationsgesellschaften tituliert. Es hat den Anschein, als garantierten exakte wissenschaftliche Problemanalysen quer durch alle Lebensbereiche ein hochgradig effektives und rationales Handeln in Wirtschaft und Politik. In einem eigentümlichen Gegensatz zu diesem Selbstverständnis vermeintlich hoher Problemlösungskapazitäten der fortgeschrittenen Gesellschaften steht die Tatsache, dass Wirtschaft und Politik nachweislich dazu tendieren, elementare Voraussetzungen gründlich zu übersehen, die das Zusammenleben in einem intakten Gemeinwesen bestimmen.

Diese Einschätzung trifft in besonderem Maße auf das Humanvermögen von Individuen zu, welches als Fundament jeder Gesellschaft fälschlicherweise für quasi „naturwüchsig" gegeben und für offenbar unbegrenzt verfügbar gehalten wird. Aus dieser Geringschätzung resultieren vielfältige „Pathologien des Sozialen", die die Lebensqualität moderner Gesellschaften, aber auch ihre wirtschaftliche und sozialpolitische Entwicklung zunehmend tangieren.

2. Die allgegenwärtige strukturelle Gleichgültigkeit gegenüber der Humanvermögensbildung und -erhaltung begegnet uns gerade auch in der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft. Als Beleg sei an dieser Stelle die nachweisliche „strukturelle Rücksichtslosigkeit" gegenüber dem Leben mit Kindern genannt, die die Sachverständigenkommission zur Erstellung des 5. Familienberichts im Ergebnis ihrer umfangreichen Anhörungen und Expertisen 1994 der bundesdeutschen Gesellschaft attestiert hat. Gemeint ist damit die Gleichgültigkeit gegenüber dem Umstand, ob sich Personen für das Leben mit Kindern entscheiden oder nicht. Im Rückblick der Bewertung bundesrepublikanischer Politik durch die großen Volksparteien kommt Renate Schmidt zu der ernüchternden Feststellung: „Eine Prioritätenssetzung pro Familie fand regelmäßig nicht statt„.

Was damit im Bereich der Kinderbetreuung und -erziehung mit deutscher Gründlichkeit „privatisiert" wurde, gilt jedoch auch für die Sorgearbeit gegenüber der erwerbsfähigen Generation und betrifft schließlich auch die Pflege und Betreuung der alternden Generation.

3. Die Selbstverständlichkeit, mit der Wirtschaft und Gesellschaft auf die körperliche Fitness, emotionale Ausgeglichenheit und Leistungsfähigkeit der Menschen - gewissermaßen zum Nulltarif - zurückgreifen, übergeht den Tatbestand, daß die wesentlich über die Familie vermittelten Human-ressourcen eben nicht „naturhaft" gegeben sind. Vielmehr stellen sie im Kern das Resultat der (unsichtbaren) alltäglichen Fürsorgearbeit von Frauen dar.

Während Familie bis heute für Männer in erster Linie eine Lebensform darstellt, in der sie von Müttern, Großmüttern, Ehefrauen und Geliebten versorgt, betreut und verpflegt werden, ist sie für

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Frauen primär ein Aufgaben- und Verantwortungsbereich mit hohem Verpflichtungsgrad.

Insbesondere die Übernahme der Fürsorge- und Erziehungsarbeit für Kinder geht bei Frauen mit evidenten Nachteilen für den aktuellen Lebensstandard, für ihre beruflichen Wiedereinstiegs- und Karrierechancen und ihre Altersicherheit ein-her. Wir haben es hier mit einem strukturellen Mangel an Geschlechtersolidarität zu tun, zumal Frauen inzwischen in den meisten Bildungs- und Qualifikationsbereichen gleichgezogen haben.



4. Die Bildung des Humanvermögens kennzeichnet zum einen die Gesamtheit der Kompetenzen aller Mitglieder einer Gesellschaft, unabhängig von Alter und Gesundheitszustand oder ihrer sozialen Position. Zum anderen wird damit das Handlungspotenzial des Individuums umschrieben, d. h. all das, was es in die Lage versetzt, sich in einer hochkomplexen Gesellschaft zurechtzufinden. Dazu gehört seine Bindungs- und Konfliktfähigkeit, um Familie leben zu können und in der Gesellschaft zu bestehen. Ohne Zweifel fallen alle gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten, die es Familien erleichtern, diesen Humanvermögensbildungsprozess zu gestalten, in die vielleicht bedeutendste sozialpolitische Rubrik der „Hilfe zur Selbsthilfe„.

Pierre Bourdieu hat aus gutem Grund die herausragende Bedeutung der Herkunftsfamilie für die Reproduktion von kulturellem und sozialem Kapital analysiert. Sein Erkenntnisinteresse richtete sich darauf, Mechanismen der intergenerationellen Weitergabe von Bildung, Kultur und Sozialbeziehungen über die elterliche Familie zu untersuchen. Die Begriffe „kulturelles und soziales" Kapital implizieren aber auch, den derzeit in unverhältnismäßiger Weise vernachlässigten gesellschaftlichen Bedeutungsgehalt der zunächst familial vermittelten kulturellen Dispositionen bzw. Fertigkeiten eines Menschen sowie seiner Beziehungen des gegenseitigen Austausches und Unterstützens in den Blick zu nehmen.

5. Es ist im Grunde ernüchternd, dass sich Diskussionen um die Zukunft von Bildung und Arbeit nach wie vor fast ausschließlich um Inhalt und Ausrichtung von marktrelevanten und verwertbaren beruflichen Fachkompetenzen drehen. Demgegenüber mangelt es an der Einsicht, dass Bildung auch Ausbildung für ein Leben jenseits abhängiger Erwerbsarbeit zu sein hat. Damit bleibt jener Teil der Humanver-mögensbildung unbeachtet, der in familialen Austauschprozessen und durch die gelebte Solidarität zwischen den Generationen scheinbar „selbstverständlich" erbracht wird und gewissermaßen erst die Basis für die Überlebensfähigkeit und Kultur einer Gesellschaft, aber auch für sämtliche ihrer Teilbereiche von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik darstellt.

Obwohl alle Lebensbereiche von diesen vornehmlich von Frauen erbrachten Leistungen profitieren, gewährt ihnen die Gesellschaft keine entsprechende Anerkennung. Diese Geringschätzung widerfährt bekanntlich auch jungen Vätern, sofern sie sich für die zeitweise Betreuung ihrer Kinder entscheiden (wollen). Ihre Zahl ist allerdings konstant gering: Weniger als 2 Prozent der jungen Väter machen von ihrem Recht Gebrauch, zumindest einen Teil des Erziehungsurlaubs in Anspruch zu nehmen.

6. Die wesentlich von Frauen übernommenen Tätigkeiten der Daseinsvorsorge sind erst seit dem aufkommenden Industriezeitalter zu einem „blinden Fleck" und scheinbar wertlos geworden: Bis zu diesem Zeitpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung umfasste „Arbeit" dagegen sämtliche Tätigkeiten zur Daseinsvorsorge im Lebenszusammenhang von Männern, Frauen und Kindern. Sie wurden im Zuge von Industrialisierung und Verstädterung räumlich und zeitlich getrennt. Le-

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diglich die außerhäusig geleistete, entlohnte (Erwerbs-)arbeit geriet fortan als wertschaffende gesellschaftliche Arbeit in den Blick.

Die Sachverständigenkommission des 5. Familienberichts verwies zurecht auf die grotesken Folgen dieser Entwicklung. Sämtliche Aufwendungen für die nachwachsende Generation, für die Reproduktion der im Erwerbsleben stehenden Generation und die häusliche Pflege von Kranken, Behinderten und alten Menschen verloren das Prädikat, Arbeit zu sein. Es handelt sich zudem um jene Tätigkeiten der Fürsorge und Erziehung, die im Zuge des Industrialisierungsprozesses der weiblichen Hälfte der Gesellschaft zugeschrieben und als in der Privatsphäre geleistete „Arbeit aus Liebe" etikettiert wurden.

7. Wir sind gegenwärtig ZeitzeugInnen des Zerfalls eines Grundprinzips der industriellen Moderne: Die hochgradige Spezialisierung der Kenntnisse des Einzelnen wurde zum typischen Charakteristikum moderner Industriearbeit. Personifiziert begegnet sie uns hier zu Lande als deutscher Facharbeiter am Fließband bei Volkswagen oder als Professor für Rasenforschung. Es handelt sich zugleich um die Spezies der abwesenden Väter.

Das Prinzip der hochgradigen Spezialisierung als Lebensberuf bedurfte des Pendants der Haus- und Fürsorgearbeit leistenden Ehefrau und Mutter. In der Bundesrepublik Deutschland war dieses Lebensmodell vor allen Dingen in der 60er und 70er Jahren verbreitet. Der inzwischen eingetretene tiefgreifende Strukturwandel unserer Gesellschaft in Richtung Entstandardisierung und Pluralisierung hat in den darauffolgenden Jahrzehnten zu völlig neuen Bedingungen für individuelle und familiale Biografieverläufe geführt. Die gesellschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik haben darauf bisher kaum reagiert. Sie sind derzeit nicht geeignet, die Vielfalt von familialen Lebensformen oder auch von unterschiedlichen Biografieverläufen zu moderieren und zu unterstützen.

8. Gleichwohl ist einiges in Bewegung geraten. Geschlechterverhältnisse haben gegenwärtig wieder die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erlangt. Die Europäische Union hat mit dem Konzept des Gender-Mainstreaming ein wichtiges Instrument der Geschlechterpolitik auf den Weg gebracht, das auch bei den konzeptionellen Überlegungen für eine familienfreundliche Gesellschaft weiterführt. Es zielt darauf ab, politische und wirtschaftliche

Partizipationschancen von Frauen und Männern gerecht zu verteilen und somit die Herausbildung geschlechtergerechter Identitäten in allen gesellschaftlichen Teilbereichen zu forcieren, die in eine europäische Wohlfahrtsgemeinschaft mit gleichen sozialen BürgerInnenrechten für Frauen und Männer münden soll. Das Instrument Gender-Mainstreaming schlägt sich auch in der EU-Familienpolitik nieder, indem sie als Frauen- und Männerpolitik definiert wird, für die öffentliche Institutionen ebenso wie Eltern verantwortlich sind. Betreuungs- und Fürsorgearbeit fällt nicht länger allein in den Zuständigkeitsbereich von Frauen. Vielmehr werden Frauen und Männer als Erwerbstätige mit Betreuungsaufgaben für Kinder und Familienangehörige definiert. Daraus ergeben sich neue Anforderungen an die Gestaltung einer familienfreundlichen Gesellschaft unter Einschluss sämtlicher Institutionen. Mit der Zuschreibung von Erwerbs- und Betreuungsarbeit an Frauen und Männer verändern sich die normativen Rahmenbedingungen für die Realisierung von geschlechteregalitären BürgerInnenrechten: Erwerbs- und Betreuungsarbeit wird gleichermaßen „universalisiert".

9. Die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit und -demokratie ist zugleich eine Frage der wirtschaftlichen Vernunft: Die Zahl der europäischen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird sich in den nächsten Jahrzehnten weiter verringern. Zugleich werden sich europäische Industriegesellschaften zunehmend in moderne Dienstleistungsgesellschaften transformieren. Der Ausbau des tertiären Sektors wird mit einer verstärkten Integration von Frauen in den Erwerbsarbeitsmarkt einhergehen. Deshalb braucht es Bedingungen, die es erlauben, die beruflichen Qualifikationen, die Fähigkeiten und Talente der weiblichen Hälfte der Europäischen Union umfassend zu nutzen.

Andererseits hat die „strukturelle Freistellung" der Männer von Betreuungs- und Fürsorgearbeit zu einer flächendeckenden Alltagsvergessenheit von Mandats- und Entscheidungsträgern und zu einer ungerechtfertigten Abwertung von weiblich konnotierter Betreuungs-, Fürsorge- und Sozialisationsarbeit geführt, ohne die eine Gesellschaft allerdings nicht (über)-lebensfähig ist. Hier hat die in der Bundesrepublik Deutschland beklagte „strukturelle Rücksichtslosigkeit" gegenüber dem Leben mit Kindern und den sie betreuenden Personen ihre Hauptursache.

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10. Die politisch geforderte Rückkehr der Väter in Familie und Gesellschaft als kompetente Partner ihrer Frauen und Kinder wäre auch ein Weg, um die heute teils erheblichen Konflikte zwischen Männern und Frauen beim Übergang zur Elternschaft abzubauen. Sämliche Indikatoren wie Gemeinsamkeit, Sexualität, Konflikte und Streit weisen auf eine starke Beeinträchtigung der Paarbeziehungen nach der Geburt eines Kindes hin. Wenn konstruktive Konfliktlösungen nicht gelingen, sind Trennung oder Scheidung die Folge, zumal dann, wenn das Minutenmanagment von Frauen zwischen Beruf und Familie an rigiden Barrieren scheitert. Deshalb gehören zügige und flexible Rückkehrmöglichkeiten in den Beruf bei gleichzeitig vorhandenen qualitativ guten Betreuungsmöglichkeiten sowie flexible Arbeitszeiten zum A und O einer familiengerechten Erwerbsarbeitswelt. Zugleich stellen sich vor diesem Hintergrund neue Anforderungen an die Vermittlung von alltagsrelevanten Bildungsinhalten im Rahmen von Schule: Sie muss bei Jungen und Mädchen zur (selbst)kritischen Auseinandersetzung mit traditionellen Geschlechterrollenzuschreibungen befähigen und Unterschiede wie Perspektiven in den Lebensplanungen, aber auch im konkreten Lebensalltag von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern, Müttern und Vätern aufzeigen.

11. Familienfreundliche Arrangements erhöhen nachweislich die Motivation und Arbeitszufriedenheit der MitarbeiterInnen in Unternehmen. Sie erleichtern dem Arbeitgeber aber auch die Rekrutierung von Personal und haben sich als wirksames Instrument zur Senkung der Fluktuation von qualifizierten MitarbeiterInnen erwiesen. Personengebundene Faktoren wie Kreativität, Wissen, Innovationsfähigkeit und Engagement der Beschäftigten können folglich durch eine familienbewusste Personalpolitik für die Unternehmen gewonnen und gehalten werden. Außerdem lassen sich die in der Familie erworbenen sozialen Kompetenzen wie Empathie, Kommunikationsfähigkeiten und Haushaltsmanagement durchaus sinnvoll im betrieblichen Ablauf zur Geltung bringen (Stichwort: Familienqualifikationen). Somit erweist sich eine familienfreundliche Erwerbsarbeitswelt als wettbewerbsrelevanter Standortfaktor und steht damit unternehmerischen Interessen keineswegs diametral entgegen. Im Gegenteil. Unternehmenskulturen, die auf eine Balance zwischen wirtschaftlichen Unternehmensinteressen und den Bedürfnissen der Beschäftigten nach Zeit für Familie setzen, auf eine Balance zwischen Arbeits- und Fürsorgeethik, werden sich als zukunftsfähig erweisen.

Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen zudem die Chance, alternierende Telearbeitsplätze zu schaffen, die bei entsprechenden Rahmenbedingungen durchaus die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter und Väter unterstützen könnten.

12. Es ist an der Zeit, Familien- und Erwerbsarbeitswelt nicht länger als völlig getrennte Lebensbereiche zu sehen, die angeblich nichts miteinander zu tun haben. Familiengerechte Erwerbsarbeitsverhältnisse und Zeitstrukturen, die das Zusammenleben in familialen Lebensformen ermöglichen, sind eine notwendige Investition in das soziale und kulturelle Kapital unserer Gesellschaft. Es sollte die RepräsentantInnen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zutiefst beunruhigen, wenn demnächst 30 Prozent der bundesdeutschen Frauen ohne Kind(er) bleiben, obwohl sie sich in ihrer Lebensplanung eigentlich ein Leben mit Kindern und einer sinnvollen Berufsarbeit gewünscht haben.

Deshalb ist ein grundlegender Mentalitätswechsel in großem Stil von Nöten, der sich von der Vorstellung, Familie sei Privatsache, gründlich und auf Dauer verabschiedet.

Wir brauchen eine vorausschauende Politikgestaltung, die es allen Gesellschaftsmitgliedern unabhängig von ihrem Geschlecht ermöglicht, sich sowohl in Ausbildung und Beruf als auch für Familie und gemeinnützige Arbeit zu engagieren, aber auch Zeit für Kommunikation und politische Belange zu haben. Erst dann werden auch die entsprechenden Voraussetzungen für eine lebendige und gleichberechtigte Elternschaft bestehen. Die von Frauen heute schon in sehr viel stärkerem Maße gelebten Patchworkbiografien sind in diesem Sinne als Zukunftsmodelle eines vielseitigen verantwortlichen Erwachsenendaseins zu werten, die allerdings zur gesellschaftlichen Norm angehoben und sozialpolitisch entsprechend unterstützt werden müssen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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