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[Seite der Druckausgabe: 8 / Fortsetzung]


1. Einführung in das Tagungsthema: Politik für Stadtteile und Stadtteilzentren - Erfahrungen aus NRW

Seit einiger Zeit werden stadtentwicklungspolitische Diskussionen hauptsächlich von dem Problem der Gefährdung innerstädtischer Funktionen bestimmt, unter anderem im Zusammenhang mit Bevölkerungsrückgang und abnehmender Kaufkraft im Kernstadtbereich als Negativfolgen anhaltender Suburbanisierungstendenzen sowie der Expansion großflächiger Einzelhandels-, Dienstleistungs- und Freizeiteinrichtungen auf der „grünen Wiese".

Ein vergleichsweise neues und durch zunehmende Brisanz gekennzeichnetes Thema sind dagegen die aufgrund von Deindustrialisierung und (Dauer-) Arbeitslosigkeit wachsenden sozialen Probleme eines Teils der Bevölkerung. Die Polarisierung der Gesellschaft findet ihren Niederschlag unter anderem in der sozialräumlichen Fragmentierung städtischer Räume als Ergebnis zunehmender Segregationsprozesse. Wachsende gesellschaftliche Desintegration bestimmter Bevölkerungsgruppen korrespondiert mit der Herausbildung benachteiligter Stadtteile, die zunehmend aus dem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kontext der Gesamtstadt herausfallen.

Vor diesem Hintergrund konzentriert sich Stadtentwicklungspolitik in Verbindung mit einem neuen Steuerungsmodus der sektoralen Integration zunehmend an Stadtteilen, die - so der Moderator - dadurch eine Schrittmacherrolle bei der Modernisierung unserer Stadtgesellschaft spielen.

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1.1 Räumliche Konzentration sozialer und ökonomischer Probleme

Nicht nur in den USA, sondern auch in Europa lassen sich Tendenzen einer zunehmenden Konzentration von Armut und Benachteiligung in bestimmten Stadtteilen als sozialräumliche Komponente fortschreitender gesellschaftlicher Polarisierung feststellen. Dies gilt auch für Deutschland, wenngleich es hier bisher noch nicht zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wie in den USA, Großbritannien oder Frankreich gekommen ist.

In Deutschland finden sich einzelne Stadtbereiche mit Arbeitslosenquoten von weit über 20%. Dies gilt besonders für (ehemals) industriell monostrukturierte Regionen wie das Ruhrgebiet, die im Zuge umfangreicher Deindustrialisierungsprozesse kurzfristig eine große Zahl von Ar

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beitsplätzen verloren haben. Die Konzentration von Arbeitslosigkeit, der damit verbundene Verlust von Kaufkraft für den örtlichen Einzelhandel, der Wegzug einkommensstärkerer Haushalte sowie die Vernachlässigung von Bausubstanz und Infrastruktur führen in einigen Stadtteilen zu „Abwärtsspiralen" der Entwicklung und gefährden den sozialen Zusammenhalt. Der Wegfall des gesellschaftlichen Integrationsfaktors Arbeit läßt soziale Netze zerreißen und bedroht das friedfertige interkulturelle Zusammenleben im Stadtteil.

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1.2 Ressortübergreifende Politik für Stadtteile in NordrheinWestfalen

Das Land Nordrhein-Westfalen hat als Reaktion auf diese Entwicklungen im Jahr 1993 das integrierte Handlungsprogramm für „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" beschlossen. Dabei handelt es sich um ein ressortübergreifendes Präventivkonzept zur sozialen Stabilisierung und Entwicklung von Stadtteilen, die auf Grund ihrer städtebaulichen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen und ökologischen Situation einer besonderen Erneuerung bedürfen. Gegenwärtig sind 28 Stadtteile in 22 nordrhein-westfälischen Kommunen in das Programm einbezogen (vgl. Abbildung 1), die Aufnahme weiterer Stadtteile bzw. Städte ist aufgrund der offenen Programmstruktur vorgesehen.

Abbildung 1: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf (Quelle: ILS) Abbildung 1: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf(Quelle: ILS)

Bei „Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf" lassen sich grob zwei Gebietstypen unterscheiden: zum einen hochverdichtete altindustrielle Innenstadt- bzw. Innenstadtrandlagen, die baulich-städtebauliche Defizite aufweisen und besonderen Umweltbelastungen (Lärm, Schadstoffe)

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ausgesetzt sind, zum anderen hochverdichtete Wohnsiedlungen der 60er und 70er Jahre, die größtenteils am Stadtrand liegen und nur über eine begrenzte öffentliche Infrastruktur verfügen.

Die in Nordrhein-Westfalen praktizierte Politik der Stadtteilerneuerung berücksichtigt zunächst die Entwicklungsunterschiede innerhalb einer Stadt und setzt dann mit ihren Maßnahmen in Stadtteilen mit den vergleichsweise größten Entwicklungsrückständen - d.h. einem besonderen Bedarf an infrastruktureller Versorgung, städtebaulicher Nachbesserung, sozialer Unterstützung und Beratung, ökologischer Revitalisierung usw. - an.

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1.3 Lokale Handlungsprogramme und Handlungsfelder

Voraussetzung für die Förderung im Rahmen des Handlungsprogrammes der Landesregierung ist die Entwicklung integrierter Handlungskonzepte für entsprechende Stadtteile seitens interessierter Kommunen. Diese Konzepte sollen bei den verschiedenen Problemen in den jeweiligen Stadtteilen ansetzen und besonderes Augenmerk auf die Berücksichtigung bzw. Förderung der lokalen Eigenkräfte und Initiativen lenken.

Die Zusammenarbeit mit Bürgern, privaten Investoren und sozialen Netzen im Stadtteil hat aus Sicht des Moderators große Bedeutung, da Stadtteilerneuerung als Gemeinschaftsinitiative aller relevanten Akteure, also von Verwaltung, Stadtrat, Vereinen, Verbänden, Initiativen, Selbsthilfegruppen, Unternehmen, Handwerksbetrieben, Einzelpersonen usw. verstanden wird. Für diese Gemeinschaftsinitiative müssen verschiedene Formen der Zusammenarbeit gefunden werden. Eine organisatorische Klammer - beispielsweise in Form von Entwicklungsgesellschaften und/oder Stadtteilbüros bzw. Projektgruppen - ist ebenso wichtig wie eher fließende Zusammenarbeitsformen verschiedener Akteure wie Stadtteilkonferenzen zur Beteiligung von Bürgern und lokalen Gruppen.

Die im Rahmen des Handlungskonzeptes „Stadtteile mit besonderem Erneurungsbedarf" erstellten integrierten örtlichen Handlungskonzepte, die ausdrücklich vom Rat der jeweiligen Stadt beschlossen sein müssen, werden von allen Ressorts des Landes übergreifend und mit Priorität gefördert. Dabei geht es weniger um die Bewilligung zusätzlicher Projekte - also die Bereitstellung von mehr Fördergeldern als bisher - als vielmehr um die stärkere Kombination bisheriger Fördermöglichkeiten mit der ausdrücklichen Absicht, „Synergieeffekte" über „Mehrzielprojekte" zu erzielen.

Integrierte Stadtteilerneuerung - so der Moderator - ist mehr als nur städtebauliche Planung. Die sozialen Probleme der gefährdeten Stadtteile lassen sich mit den klassischen Stadterneuerungsmaßnahmen allein kaum lösen. Um den sozioökonomischen Entwicklungen langfristig gerecht zu werden, müssen alle relevanten lokalen Politikfelder einbezogen und untereinander verknüpft werden. Entsprechende Handlungsfelder reichen von der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik über Wohnungspolitik, Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung, Umwelt- und Gesundheits-, Sozial- und Kulturpolitik, Kriminalprävention bis hin zum Stadtteilmanagement und zu Maßnahmen zur Imageverbesserung.

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Der Moderator bezeichnete integrierte Handlungskonzepte, die einen orientierenden entwicklungspolitischen Rahmen für eine stadtteilorientierte Verbindung von Politik-/Handlungsfeldern bilden, als Vorreiter einer neuen Planungskultur. Die Besonderheit dieser Form der Stadtteilerneuerung liegt darin, daß sie nicht bloß negative soziale Folgen kompensatorisch aufzufangen versucht, sondern - beispielsweise durch Entwicklung neuer Aufgabenfelder und Erschließung neuer Infrastrukturen - dazu beiträgt, die Stadt strukturell umzugestalten. Beispiele dafür sind eine stärkere Einbeziehung des Potentials von Migrantinnen und Migranten in die Stadtentwicklung, eine verstärkte präventive Wohnungspolitik für Wohnungsnotfälle oder die Verknüpfung von Struktur- und Arbeitsmarktpolitik bei der Wohnumfeldverbesserung. Besondere Bedeutung hat das neue kommunale Handlungsfeld „lokale Ökonomie", das sich die stadtteilorientierte Entwicklung und Förderung von Kleingewerbe, Einzelhandel, Handwerk sowie gemeinwesenbezogenen Unternehmen (z.B. Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften) im Verbund mit strukturpolitischen und gemeinwesenbezogenen Aufgabenstellungen zum Ziel setzt.

Aus Sicht des Moderators ist die Wirksamkeit der Stadtteilerneuerung davon abhängig, ob es gelingt, die damit verfolgten struktur-, sozial- sowie beschäftigungspolitischen Ziele und Maßnahmen zu bündeln. Die bisher in den Stadtteilen gemachten Erfahrungen zeigen, daß eine Atmosphäre des Vertrauens und der Kooperationsbereitschaft als Voraussetzung für eine derartige Entwicklung notwendig ist. Beschäftigungsinitiativen beispielsweise sind auf eine gute Zusammenarbeit mit Verwaltung, Arbeitsamt, Handwerk, Verbänden usw. angewiesen. Die Verwaltungen stehen vor der umfassenden Aufgabe, ein Klima der Erneuerung zu schaffen, was sich nur im Zusammenspiel mit Bürgerinnen und Bürgern erreichen läßt. Dafür können sie unter anderem Bürgerhäuser und Stadtteilzentren als „Katalysatoren" einbeziehen, Möglichkeiten zur Äußerung von Anregungen und Ideen im Rahmen von Stadtteilforen anbieten oder zur konkreten Teilnahme an Beteiligungsprojekten auffordern, um nur einige Beispiele zu nennen.

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1.4 Rahmenbedingungen für integrierte Maßnahmen der Stadtteilerneuerung

Die Steuerung der Stadtteilerneuerung setzt neue Verwaltungsstrukturen voraus, wobei integrative Ansätze auf allen Ebenen eine große Rolle spielen. An dem nordrhein-westfälischen Handlungsprogramm für „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf" sind daher alle fachlich betroffenen Ressorts der Landesregierung beteiligt und zur Koordinierung bzw. Programmsteuerung in einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Federführung des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen (MASSKS) zusammengeschlossen.

Auch auf der Ebene der Kommunen bedarf es neuer Formen und Strukturen der Zusammenarbeit und Steuerung. So wurden in „Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf" ämter- und dezernatsübergreifende Arbeits- und Projektgruppen gebildet bzw. verwaltungsexterne Entwicklungsgesellschaften zur Steuerung des Prozesses der Stadtteilerneuerung eingeschaltet oder sogar fachübergreifende Verwaltungseinheiten dezentral vor Ort eingerichtet. Es zeigt sich, daß diejenigen Formen und Strukturen, die eine Zusammenarbeit im Stadtteil und in der

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Kommune fördern, von Fall zu Fall sehr unterschiedlich bzw. stark lokalspezifisch ausgeprägt sein können. Eine gemeinsame Grundbedingung integrierter Handlungskonzepte ist jedoch die Vernetzung aller wesentlichen Akteure im Stadtteil. Meist wird diese Aufgabe durch neu geschaffene Stadtteilbüros bzw. Stadtteilprojekte erfüllt, die zudem örtliche Präsenz gewährleisten (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Vertikale und horizontale Zusammenarbeit beteiligter Ebenen (Quelle: ILS) Abbildung 2: Vertikale und horizontale Zusammenarbeit beteiligter Ebenen (Quelle: ILS)

Die wesentlichen Koordinaten der Stadtteilerneuerung in Nordrhein-Westfalen lauten zusammengefaßt:

  1. Sektorale Integration: ressortübergreifende Bündelung von Erneuerungsmaßnahmen anstelle sektoraler Ansätze.

  2. Räumliche Integration: Sozialraumorientierung und Wohnungsnähe als Prinzip der Planung.

  3. Aktivierung und Einbindung der im Stadtteil vorhandenen Potentiale: Betrachtung des Stadtteils als „Lebensort", bei dessen Gestaltung die Bürgerschaft und ihre Organisationen einbezogen werden.

  4. Entwicklung neuer Kooperations- und Organisationsstrukturen sowie Herstellung eines Klimas der Erneuerung.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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