Deutsch-Amerikanischer Transatlantischer Dialog:

Zukunft der Arbeitsgesellschaft
Zukunft der Sozialpolitik

Eine Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung
am 25. und 26. Mai 2000 in Berlin


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Zusammenfassung und Schlußfolgerung

1.        Zukunft der Arbeitsgesellschaft - Zukunft der Sozialpolitik:
           eine transatlantische Problemskizze
1.1     Amerikanische Arbeits- und Sozialpolitik im Umbruch:
           Perspektiven für die gesellschaftlichen Akteure
1.2     Wandel von Arbeit und Herausforderungen
          für die deutsche Sozialpolitik

2.       Die Zukunft sozialer Sicherungssysteme
2.1     Das fragile amerikanische Sozialversicherungssystem
2.2     Reformaussichten des sozialen Sicherungssystems in Deutschland
2.3     Die Standpunkte der Sozialpartner und der Politik

3.       Neue Formen der Arbeit und Arbeitsrecht
3.1     Hochmoderne Arbeitsformen, Stillstand im amerikanischen
          Arbeitsrecht und alternative Konfliktlösungsmechanismen
3.2     Deutsches Arbeitsrecht und Betriebsverfassung
          unter Anpassungsdruck
3.3    Die Standpunkte der Sozialpartner

4.      Die Zukunft der Arbeitsbeziehungen
4.1    Die USA als Vorreiter einer Differenzierung
          von Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen
4.2    Deutsche Arbeitsbeziehungen unter Innovationsdruck:
          ein Krisen- oder Zukunftsszenario?
4.3    Hat die Zukunft in Deutschland schon begonnen?

Moderatoren, ReferentInnen,
TeilnehmerInnen der Podiumsdiskussion

Tagungsplanung und -organisation

Verfasser der Broschüre

Impressum


Vorwort

Der Aufbruch von der Industrie- in die Informationsgesellschaft hat unwiderruflich begonnen. Die Informations- und Wissensarbeit nimmt an Bedeutung zu und ist vielleicht sogar dabei, zur wichtigsten Form der Erwerbsarbeit zu werden. Die Schlagworte Informatisierung, Globalisierung, Individualisierung und Virtualisierung kennzeichnen den sich vollziehenden Wandel der Arbeitsgesellschaft. Die Arbeitsorganisation wandelt sich bis hin zu neuen Formen der selbständigen Arbeit und stellt das bislang gängige Verständnis des Arbeitsverhältnisses in Frage. Das für eine Industriegesellschaft typische Modell abhängiger Erwerbsarbeit ist nicht mehr allein gültig. Neue Formen ersetzen zumindest teilweise die hergebrachten Formen der Arbeit. Die zugehörigen sozialen Sicherungssysteme und die Ausprägungen der Arbeitsbeziehungen werden sich diesem Wandel nicht entziehen können.

In welche Richtung soll und kann dieser Wandel jedoch gesteuert werden? Ein Erfahrungsaustausch über die Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland soll es erleichtern, hierauf Antworten zu finden und bei der Bewältigung zukünftiger Herausforderungen voneinander zu lernen. Deutsche und amerikanische Wissenschaftler sowie Sozialpartner und Politiker trugen ihre Analysen und Gestaltungsvorschläge auf einer Gemeinschaftsveranstaltung der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung vor.

Nachdem der erste transatlantische Dialog zur Zukunft der Arbeitsgesellschaft im April 1999 den Themenschwerpunkten Bildungspolitik, Mitbestimmung und Tarifpolitik gewidmet war, standen bei den Vorträgen und Diskussionen nun die Themen soziale Sicherungssysteme, Neue Formen der Arbeit und Arbeitsrecht sowie die Zukunft der Arbeitsbeziehungen im Vordergrund. Den vorliegenden Tagungsbericht erstellte der Sozialwissenschaftler Ralph Greifenstein.

Die Veranstalter möchten sich an dieser Stelle nochmals bei allen Beteiligten an dieser internationalen Konferenz für ihre konstruktiven Beiträge bedanken. Besonderer Dank gilt der Franziska- und Otto-Bennemann-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung, die diese Konferenz maßgeblich unterstützt hat.

Peter König und Hajo Lanz,
Wirtschafts- und sozialpolitisches Forschungs- und Beratungszentrum
der Friedrich-Ebert-Stiftung


Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Ist es reine Spekulation oder hat es einen gewissen Realitätsgehalt, daß der klassische Arbeitnehmerstatus und das kollektive Arbeitsrecht in 30 Jahren nur noch ein Forschungsgegenstand der Historiker sein wird? Werden Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in der heutigen Form noch ihre Funktion haben? Wird soziale Sicherung in einer neuen Gesellschaft nur noch durch Aktienpakete und ihren Renditen finanziert? Von solchen Visionen, wie die Zukunft ausfallen wird, kursieren recht viele. Der transatlantische Dialog hat daher, trotz aller Prognoseschwierigkeiten und -unsicherheiten, versucht, ausgehend von der heutigen Realität in den USA und in Deutschland die Grundlinien der Zukunft auszuloten, denn nur dann besteht die Chance, sie auch mit Werten und Zielen zu gestalten und nicht einer willkürlichen Entwicklung zu überlassen. Die grundlegenden Problemstellungen einer Gesellschaft können nicht länger ausschließlich national beantwortet werden, sondern die Antworten müssen international ausgerichtet sein. Wenn dies gelingen soll, müssen die Aufgaben bekannt sein, die richtigen Fragen gestellt werden und von Erfahrungen gegenseitig gelernt werden. Das hat der deutsch-amerikanische Dialog bewiesen.

Sehr deutlich ist dabei der Wandel von der Industriegesellschaft zur Informations-, Wissens- oder Dienstleistungsgesellschaft geworden. In die weltweite Wirtschaft ist damit Bewegung gekommen. Technologien, Ideen, Konzepte und Dienstleistungen werden weltweit ausgetauscht, Finanzmärkte integriert. Die USA und Deutschland sind auf diesem gesellschaftlichen Neuland von denselben Herausforderungen und Transformationsprozessen betroffen. Dazu gehören die alternde Bevölkerung, die Probleme in den sozialen Sicherungssystemen, speziell der Rentenversicherung, die Reaktionen der Bildungspolitik und der Wandel der gesellschaftlichen Institutionen, die den Arbeitsmarkt steuern. Es gibt deutliche Unterschiede in der Frage, mit welchen Politikkonzepten diese Herausforderungen diesseits und jenseits des Atlantiks bewältigt werden. Der transatlantische Erfahrungsaustausch hat auf diesen Feldern aber auch gezeigt, daß es sehr große Ähnlichkeiten gibt und wie im Prinzip eine globale Konvergenz der Entwicklungen stattfindet.

Die Zukunft der Sozialpolitik besteht danach vor allem darin, die Verlierer des Wandels zu schützen. Das heißt nichts anderes: Sozialpolitik muß den Wandel unterstützen, um ihn in sozialverträglichen Bahnen zu halten. Häufig wird aber eine starke Polarisierung zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Modell vorgenommen. Dabei gilt das europäische Modell als harmonisch, sozial ausbalanciert, gerecht und das amerikanische Modell als hart und herzlos, als ein weniger soziales Politikkonzept. Beide Bilder stimmen nach dem Abgleich deutscher und amerikanischer Erfahrungen nicht mit der Realität überein. Dies sollte festgehalten werden, um künftig solche Polarisierungen zu vermeiden, die nur unnötig den Blick auf den Wesenskern der Entwicklung verstellen und verhindern, daß gegenseitig voneinander gelernt werden kann. Vielmehr ist zu fragen, welche Chancen in diesen Entwicklungen liegen, aber auch, welche Gefahren diesseits und jenseits des Atlantiks abzuwehren sind.

Der deutsch-amerikanische Dialog hat abseits von Klischees gezeigt, wie nationale Kulturen, historische Erfahrungen und ökonomische Rahmenbedingungen die Zukunft der Sozialpolitik beeinflussen. Soziale Sicherung wird in den USA natürlich anders verstanden als in Deutschland. In den USA ist sie eher eine Unterkategorie der Wirtschaftspolitik, in Deutschland mehr ein Teil der Gesellschaftsverfassung. Daher unterscheiden sich auch die sozialen Sicherungssysteme. Die amerikanische Basissicherung in der Altersversorgung würde hierzulande zwar unzweifelhaft (noch) nicht akzeptiert werden, aber es ist keineswegs ausgemacht, ob dies für alle Zeiten so bleiben kann. In beiden Ländern zeigt sich nämlich, daß die sozialen Sicherungssysteme aufgrund der demographischen Entwicklung in Schwierigkeiten geraten und die prognostizierten Finanzierungsschwierigkeiten ein hohes gesellschaftliches Gefahrenpotential bergen. Damit die Rentenversicherungssysteme nicht kollabieren, müssen einerseits die Finanzierungsgrundlagen überprüft werden. Diese Überprüfung muß allerdings dem jeweiligen gesellschaftlichen Anspruchsniveau standhalten können, um eine ausreichende Akzeptanz zu finden. Andererseits sind die sozialen Sicherungssysteme ergänzungsbedürftig, vor allem ist im Bereich der Altersversorgung die betriebliche Säule ausbaufähig.

In den USA wie in Deutschland sind darüber hinaus massive Veränderungen in den Arbeitsbedingungen und in den Formen der Arbeitsorganisation festzustellen, die die Arbeits- und Lebenslage der Beschäftigten verändern. Lebenslanges Lernen ist zu einer zentralen Anforderung geworden, um mit dem rapiden Wandel Schritt halten zu können. Dazu gehört auch, sich auf eine neue Flexibilität in den Beschäftigungsverhältnissen einzustellen. Hier stellt sich aber auch die Frage: Wieviel Wandel verträgt der Mensch eigentlich und welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit die Erwerbstätigen auf ihn angemessen reagieren können? In beiden Ländern ist die staatliche und die betriebliche Bildungspolitik gefordert, diesen Qualifizierungsdruck aufzufangen und die lebenslange Beschäftigungsfähigkeit der Menschen sicherzustellen.

Ähnliches gilt für die unterschiedlichen industriellen Beziehungen und die betrieblichen Arbeitsbeziehungen zwischen Management, Arbeitnehmern und Interessenvertretungen. Auch sie sind nicht mehr dieselben wie früher.
Die amerikanischen Gewerkschaften stecken in einer Krise. Dem amerikanischen Management geht es vor allem um die Maximierung der "Shareholder Values". In Deutschland arbeiten die Sozialpartner dagegen in einer kooperatistischen Tradition auf der Grundlage von Mitbestimmung und Tarifautonomie zusammen. In beiden Ländern steigt aber die Bedeutung der betrieblichen Verhandlungsarena als Austragungsort von Interessenkonflikten und als Gestaltungsterrain von kollektiven wie individuellen Arbeitsbedingungen. Dies bringt neue Bewegung in die Arbeitsbeziehungen und hat z.B. zwei wesentliche Konsequenzen. Das deutsche Flächentarifvertragswesen erodiert zusehends und in den USA verändern sich die Verfahren betrieblicher Konfliktschlichtung. In Deutschland müssen daher die Betriebsräte gestärkt und unternehmensnahe Lösungen gefördert werden. In den USA werden alternative Formen der betrieblichen Konfliktlösung implementiert. Dabei dürfen die amerikanischen Gewerkschaften allerdings nicht ins Abseits geraten. In beiden Ländern gilt daher die Herausforderung, daß sich die Gewerkschaften als Dienstleister, als Lieferanten und Quelle von Handlungsinformationen und -wissen für Betriebsräte und Arbeitnehmer verstehen müssen, auch um neue Gewerkschaftsmitglieder - vor allem in der "New Economy" - zu gewinnen.

Vor allem muß aber das jeweilige nationale Arbeitsrecht darauf reagieren und steht somit ebenfalls auf dem Prüfstand. Die arbeitsrechtlichen Regulierungen sind in beiden Ländern veraltet. In dem Sinne, als daß sie nicht mehr zu den neuen Arbeits- und Betriebsformen passen, denn ihr Ursprung ist die alte Industriegesellschaft. In den USA und in Deutschland besteht erheblicher Reformbedarf und damit die Aufgabe, ein vernünftiges Maß an Regulierung auszuloten, daß dezentrale Regulierungsspielräume eröffnet und mit prozeßbezogenen Rechten betriebliche und tarifvertragliche Lösungen sowie situative Konfliktregelungen begünstigt.

Damit ist auch die Politik gefordert. Wirtschaftlicher und sozialer Wandel braucht politische und rechtliche Rahmenbedingungen, die ihn zielgerichtet fördern. Dabei geht es auch darum, den Sozialstaat im Umbruch wetterfest zu machen und eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu verhindern, die aus den Gewinnern und den Verlieren des Wandels besteht. Diese Anforderung ist im transatlantischen Dialog überdeutlich geworden. Politik und Sozialpartner müssen bereit sein, gemeinsam an den notwendigen Reformen mitzuwirken und Verantwortung zu übernehmen. Dies signalisieren sie, trotz aller Unterschiede in ihren interessenorientierten Konzepten.

Über die Ober- und Unterziele, mit denen die Zukunft gestaltet werden muß, wurde im deutsch-amerikanischen Dialog also weitgehend Konsens erzielt, wenngleich die Suche nach Übereinstimmungen aufgrund der pfadabhängigen nationalen Entwicklungen ein keineswegs leichtes Unterfangen war. Meistens handelt es sich jedoch um instrumentelle Details, zu denen Divergenzen bestehen, weniger um die grundlegende Richtung, in die die sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitspolitik gelenkt werden sollten. Die Ergebnisse des transatlantischen Dialogs geben daher Anlaß zu einem vorsichtigen Optimismus, daß die richtigen Weichen für die Zukunft gestellt werden können - ohne länderspezifische kulturelle Traditionen auf den politischen Gestaltungsfeldern vollends zugunsten der Globalisierung und ihrer Sachzwänge aufzugeben.


1. Zukunft der Arbeitsgesellschaft - Zukunft der Sozialpolitik:
eine transatlantische Problemskizze

Mit welchen Wertvorstellungen Arbeit künftig gestaltet wird, welche Rolle der Arbeitsmarkt und die Sozialpolitik dabei spielen und wie die arbeitsmarktregulierenden Institutionen darauf reagieren, sind ungeklärte Fragestellungen. Die verschiedenen nationalen Kulturen, historischen Erfahrungen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen in den USA und Deutschland bieten Orientierungsmarken, wie die Zukunft der Sozialpolitik aussehen könnte - oder wie sie gestaltet werden müßte.

1.1 Amerikanische Arbeits- und Sozialpolitik im Umbruch: Perspektiven für die gesellschaftlichen Akteure

Im folgenden soll im Rahmen einer ersten Bestandsaufnahme ein Update amerikanischer Arbeits-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik erfolgen, das insbesondere die neuen Herausforderungen an die gesellschaftlichen Akteure deutlich macht, die den gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel gestalten.

Die Ausgangssituation

Auch in den USA hat sich "Arbeit" im Verlauf der Geschichte zu einem eigenständigen Politikfeld entwickelt. Die amerikanische und die europäische Tradition, wie sich Arbeits- und Sozialpolitik von anderen politischen Sphären absonderte, sind dabei durchaus vergleichbar.

Im späten 18. Jahrhundert und beginnenden 19. Jahrhundert tauchten in Europa und in den USA sozialpolitische Theorien auf, die von fortschrittlichen Wissenschaftlern (besonders in den USA) und von sozialdemokratischen Politikern (besonders in Europa) entwickelt und lanciert wurden. Die Einsicht lautete: Arbeit ist mehr als nur eine Ware. Arbeit und Beschäftigung haben eine humanistische Komponente und Arbeit ist ein gesellschaftliches Gut, das die familiale Versorgung sichert und soziale Identität stiftet. Wenn Arbeit aber nicht nur Ware ist, sind die politischen Gestaltungsanforderungen auf diesem Feld andere als im Bereich von Gütern und Dienstleistungen.

Zu dieser Erkenntnis addierten sich die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der neuen Industriegesellschaft. Sozialstrukturen veränderten sich, berufliche und familiale Lebenszusammenhänge grenzten sich voneinander ab und die gesellschaftlichen Rollen spreizten weiter auseinander. Interessenkonflikte zwischen Arbeitern und Managern standen auf der Tagesordnung. Die Konflikte und Interessendivergenzen erforderten neue Institutionen, Rechte und Verfahren, um sie zu lösen. Als eines der sicherlich zentralsten Rechte ist in diesem Zusammenhang in den USA das Recht auf Vereinigungsfreiheit politisch anerkannt worden, das erst die Voraussetzungen für die Arbeitnehmer schaffte, in kollektiven Zusammenschlüssen bzw. Organisationen ihre Arbeitsbedingungen zu gestalten und nicht einfach nur ertragen zu müssen.

Weiterführende Rechte beschrieben anschließend auch bestimmte Mindeststandards von Arbeit, unter denen kein Arbeitnehmer beschäftigt werden darf. In den einzelnen historischen Etappen bestehen zwischen den USA und den europäischen Nationen allerdings erhebliche Unterschiede, was unter solchen Mindeststandards verstanden wird. Während es sich in den USA meistens tatsächlich um Mindestbedingungen handelt, sind solche Grundstandards in Europa weitaus höher anzusiedeln.

Die Unterschiede sind auf die historischen, sozio-kulturellen und ökonomischen Ursprünge zurückzuführen, aus denen sie entstanden sind. Amerikanische Politikmuster, so wie man sie heute kennt, basieren teilweise auf der großen Depression von 1930 und wurzeln in den industriellen Beziehungen des New Deal der 30er Jahre (vgl. Kapitel 3.1). Sozialpolitik wird in den USA in dieser Tradition als eine Unterkategorie der Wirtschaftspolitik verstanden. In den europäischen Ländern, speziell in Deutschland, ist sie dagegen ein Teil der Gesellschaftsverfassung, der demokratischen Grundstrukturen und gesellschaftlichen Institutionen, die im Zuge der Wiederaufbaupolitik nach dem II. Weltkrieg entstanden sind.

Die amerikanische, aber auch die europäische Gesellschaft sind heute aber an einem Scheideweg angekommen. So könnte eine erste, zeitgenössische Diagnose lauten. Daher ist zu prüfen, was sie in den letzten (zwei) Jahrzehnten dorthin geführt hat.

Weltweit, aber wiederum mit besonderer Intensität in den USA, dominiert seit den 80er Jahren der wirtschaftliche Blickwinkel den politischen Diskurs. Vorreiter waren die USA (mit Ronald Reagan) und auch Großbritannien (mit Margaret Thatcher). Im Zuge der Globalisierung erfaßt dieses Politikphänomen aber auch zunehmend die anderen Teile der Welt, so auch Europa und damit letztlich Deutschland.

Es sind aber nicht allein die Politikkonzepte der federführenden politischen Akteure, die einen Perspektivwechsel einleiten, sondern Erscheinungen wie die wachsende Bedeutung der Börse, die Internationalisierung der Finanzmärkte, die Bedeutung des Internationalen Währungsfonds (IWF), die gestärkte Funktion der Weltbank oder der europäischen Zentralbank. Zusammen bestimmen sie heute soziale und politische Ziele weltweit mit. Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen für die Positionierung der Arbeitspolitik im Verhältnis zur Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie damit für die Balance zwischen wirtschaftlichen und sozialen Zielen. Die Frage nach der Zukunftsorientierung dieser Balance ist daher zu stellen.

Ein, sehr scharf überspitztes, Gebot könnte lauten: Ein Rückschritt zu der frühkapitalistischen Ansicht, in der Arbeit eben nur als Ware auf dem Arbeitsmarkt begriffen wurde, ist politisch abzuwehren. Dieses Gebot erfordert eine Rückbesinnung auf historische Wurzeln und das heißt, nach den gesellschaftlichen Erfahrungen aus dem früheren Übergang in die Industriegesellschaft, daß Arbeit schützenswerte menschliche Werte beinhaltet. Dieser Schutz muß heute aber auf ein neues Fundament gesetzt werden.
Wenn Arbeits-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik neu gedacht wird, muß mehreres berücksichtigt werden:

(1) Die Suche nach den Schnittmengen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen muß die neue, veränderte Wirklichkeit der Arbeitswelt zum Bezugspunkt haben. Dazu gehört z.B., in Rechnung zu stellen, daß die modernen Arbeitnehmer ausgeprägte Beteiligungs- und Gestaltungsbedürfnisse haben.

(2) Im Zeitalter der Globalisierung kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Entwicklungen allein mit nationalen Politiken isoliert kontrolliert, gesteuert und gestaltet werden können. Nationale Kapitalmärkte, Produktmärkte und Arbeitsmärkte sind in ein internationales Marktgeschehen integriert. Darauf muß die Politik reagieren, trotz aller nationaler oder förderaler Interessenlagen. (In Europa ist eine Förderalismusdebatte entbrannt. Themen, wie die Diskussion über Konzepte einer "Weltregierung in einer Weltwirtschaft", haben dort z.B. noch wenig Chancen.)

(3) Neue Arbeitszeitmodelle, neue Informations- und Kommunikationstechnologien und neue Arbeitsformen führen zu Veränderungen im Verhältnis von Arbeit und Freizeit, z.B. zu einem gleitenden Übergang von Arbeit und familialen Lebenszusammenhang. Die vormals klare Trennung der Sphären verschwimmt zusehends. Die Dienstleistungsgesellschaft muß auf die damit verbundenen neuen Bedürfnisse Rücksicht nehmen und es muß darüber nachgedacht werden, wie Arbeit und Familie künftig zusammenpassen.

(4) Die Typen von Beschäftigungsverhältnissen ändern sich, sie diversifizieren immer stärker. Die New Economy mit ihren neuartigen Arbeitsverträgen und neuen Arbeitnehmertypen oder auch die Diskussion über den "Arbeitskraftunternehmer" sind Beispiele dafür. Die vormals mehr auf Standardisierung der Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen ausgerichtete Arbeitspolitik muß auf diese Vielfalt Rücksicht nehmen und kann nicht nur normierte Antworten bereithalten (vgl. Kapitel 4.1).

(5) Das Wissen und die Fähigkeit, mit neuen Technologien zu arbeiten, sind zu wichtigen ökonomischen Ressourcen geworden. Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen für den Erwerb und die Aktualisierung der notwendigen beruflichen Fähigkeiten zu verbessern, auch für ein lebenslanges Lernen.

Arbeitgeber, Gewerkschaften, Arbeitsmarktinstitutionen und Politik sollten auf diese Herausforderungen ganzheitlich reagieren. Daher müssen die neuen Anforderungen an die gesellschaftlichen Akteure in den USA exakter bestimmt werden.

Arbeitgeber

Was Unternehmensverantwortung in den USA bedeutet, scheint zunächst einfach zu beantworten zu sein: die Maximierung der "Shareholder Values".

Der Handlungsdruck, die damit verbundenen Ziele umzusetzen, hat sich in den vergangenen Jahren verschärft und das Verhalten der amerikanischen Manager maßgeblich bestimmt. In den USA werden gesellschaftspolitische Forderungen an Unternehmensverantwortung, wie die Garantie von Minimallöhnen, soziale Sicherheit der Beschäftigten und Anerkennung ihres Organisationsrechts, zwar nicht ausgeblendet, aber die Grenzlinien zwischen den Unternehmer- und Arbeitnehmerinteressen sind scharf gezogen, wobei erstere die letzteren dominieren. Wie die Interessenlagen ausbalanciert sind, hängt nämlich weitgehend vom Management ab, im Gegensatz zur deutschen Situation, wo multiplere Verantwortlichkeiten durch die Mitbestimmungsgesetze festgezurrt sind.

Die Folgen des amerikanischen Modells der "Shareholder-Value" Maximierung sind bekannt. Die USA hat z.B. eine ungleiche Einkommensverteilung bzw. Lohndifferenzierung wie kaum eine andere Industriegesellschaft. Die Einkommensspreizung hat in den letzten zwanzig Jahren erheblich zugenommen. Die "Stakeholder" besitzen viel zu geringe gesellschaftspolitische Definitionsmacht, um ihren Interessen in den Betrieben und Unternehmen deutlicher zu artikulieren.

Eine Fragestellung lautet in den USA daher, mit welchem zukunftsfähigen Konzept die Interessen neu ausbalanciert werden können und arbeitnehmerorientierte Wertvorstellungen stärker in die unternehmerische Verantwortlichkeit einfließen. Dies ist eine Streitfrage, die sich keineswegs alle gesellschaftlichen Akteure stellen, sondern zumeist nur progressive Intellektuelle, weniger aber die amerikanischen Politiker. Umso mehr gilt es aber, fortschrittliche Arbeitgeber auf diese Aufgabenstellung zu verpflichten und normative Koalitionen mit ihnen zu bilden, denn das Management ist der zentrale Akteur, der in den USA einen Perspektivenwechsel einleiten könnte.

Gewerkschaften

Es ist schon lange kein Geheimnis mehr: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad nimmt in den USA dramatisch ab. Kleine Unternehmen, neu gegründete Firmen, Betriebe mit hohem Anteil an Teilzeitarbeit, der Dienstleistungssektor oder Betriebe, die hochqualifizierte Arbeitnehmer beschäftigen, werden zunehmend zu gewerkschaftsfreien Zonen. Die Gewerkschaften fassen auch in der "New Economy" nicht schnell genug Fuß, um ihre Mitgliederzahl zu erhöhen und ihre Organisation damit zu stärken. (Dieses gewerkschaftliche Organisationsproblem ist allerdings nicht nur ein amerikanisches. Weltweit stehen die Gewerkschaften unter Druck und auch in Deutschland sinken die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften.)

Hat in den USA schon der Todeskampf der Gewerkschaften begonnen? Erste Anzeichen bzw. Warnhinweise scheinen auf diese alarmierende (Fehl-) Entwicklung hinzuweisen. Darum müssen neue Strategien entwickelt werden, die Gewerkschaften nachhaltig zu stärken. In demokratisch verfaßten Gesellschaften sollten die Arbeitnehmer über stabile Institutionen verfügen, die mit ausreichender Durchsetzungskraft ausgestattet sind, um ihre Interessen umzusetzen. (Die nächste Generation von Interessenvertretung könnte auch etwas anders aussehen als die heutige. Im Übergang zur Industriegesellschaft wurden die mittelalterlichen Stände aufgelöst und sie wichen modernen Handwerksvertretungen. Möglicherweise wird es Parallelen zu dieser Entwicklung beim Eintritt in die Wissens- und Informationsgesellschaft geben. Doch diese Perspektive ist noch völlig ungeklärt.)

Die sinkenden gewerkschaftlichen Handlungschancen in den USA zeigen, daß die amerikanischen Gewerkschaften modernisiert werden müssen. Die Gewerkschaften haben sich zu ihrem Nachteil zu stark auf Kollektivverhandlungen, d.h. auf Tarifverhandlungen konzentriert. Das heißt nicht, daß Kollektivverhandlungen obsolet sind, aber die Gewerkschaften können den Fokus der Gewerkschaftspolitik nicht länger nur auf die Lohnpolitik richten. Moderne Gewerkschaften müssen auch Konzepte aufzeigen können, wie Arbeit unter den neuen ökonomischen und technisch-organisatorischen Rahmenbedingungen ausgestaltet wird, z.B. durch Team- und Gruppenarbeit, wie alternative Arbeitszeitflexibilisierungsmodelle eingerichtet werden und wie bildungspolitische Initiativen zur lebenslangen Fortbildung die Erwerbsfähigkeit der Beschäftigten sichern.

Zusätzlich müssen alternative Formen der Ver- und Aushandlung von Arbeitsbedingungen von den Gewerkschaften unterstützt werden. Es geht um eine andere, ergänzende Art und Weise, wie die Beschäftigteninteressen im Betrieb repräsentiert werden. Wenn eine zunehmende Individualisierung der Beschäftigten festgestellt wird, dann sollten den Arbeitnehmern auch direkte Mitspracherechte angeboten werden.

Als letztes müssen sich die Gewerkschaften der Zukunft auch auf flexible, sozusagen "verflüssigte" Mitgliedschaften einstellen. Die Zeiten, in denen die Formel galt: einmal Gewerkschaftsmitglied, immer Mitglied, scheinen vorbei zu sein. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft wird sich mehr an den verschiedenen Phasen eines neuen Erwerbszyklus orientieren, mit z.B. häufigerem Branchenwechsel, Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Weiterbildung etc. Diese Herausforderungen müssen die amerikanischen Gewerkschaften energisch aufgreifen, wenn sie ihre Vertretungsmacht nicht gänzlich verlieren wollen.

Intermediäre Arbeitsmarktinstitutionen

Die Bedeutung von Institutionen, die den Arbeitsmarkt aktiv steuern, nimmt in einer Gesellschaft und Wirtschaft, in der Mobilität eine herausragende Rolle spielt, zu. Immer mehr Institutionen (private Vermittlungsdienste, Beratungseinrichtungen, öffentliche-kommunale Bildungseinrichtungen, regionale Trainingszentren etc.) widmen sich in den USA diesem Aufgabenfeld.

Wenn amerikanische Experten aber nach Deutschland blicken, meinen sie ein Land zu erkennen, das über eine besonders gut ausgebaute bildungs- und arbeitsmarktpolitische Infrastruktur verfügt, um die Voraussetzungen zu schaffen, die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungsprozesse zu flankieren oder z.B. den Übergang vom Wohlfahrtssystem in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Die amerikanischen Institutionen gelten demgegenüber als schwach, denn sie operieren nicht zeitnah genug, um den ökonomischen und technologischen Wandel zu unterstützen. Ihre Steuerungsfunktion ist auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt begrenzt. Daher müssen neue Konzepte für ihre Reorganisation und Modernisierung gefunden werden. In den USA stellt sich aber das Problem, wer diese realisieren kann.

In Deutschland werden solche Innovationsprozesse von den Sozialpartnern unterstützt, gefördert oder initiiert, z.B. im Rahmen des Bündnisses für Arbeit. Ungleich schwieriger ist die Situation in den USA. Dort ist Sozialpartnerschaft häufig eher ein Fremdwort. Umso mehr wird aber in Zukunft die interessenübergreifende Innovationsfähigkeit von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Politik auf dem Prüfstand stehen, denn auch in den USA werden solche kooperativen Strategien benötigt, um Bildungs- und Arbeitsmarktoffensiven in Gang zu setzen.

Politik

Auch die Politik ist daher aufgefordert, die Voraussetzungen zu schaffen, damit neue Formen von Arbeit und sozialer Sicherung auch künftig harmonieren. In der amerikanischen Kultur bzw. Gesellschaftsverfassung sind die politischen Interventions- bzw. Gestaltungsmöglichkeiten aber begrenzter als in Europa. Das heißt: Wirtschaft und Politik sind weitaus mehr voneinander abgegrenzte Handlungssphären. Das Regierungshandeln beschränkte sich infolge weitgehend darauf, arbeits- und beschäftigungspolitische Minimalstandards zu setzen.

Trotz dieses eingegrenzten politischen Aktionsraums ist ein Update von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf der Grundlage eines neuen Sets von Regularien notwendig. Die amerikanischen Politikmuster müssen grundlegend überprüft werden, und zwar insbesondere unter zwei Handlungs- und Gestaltungszielen:
 

Politik muß Interessen zusammenbringen, als Regulator oder Mediator von gesellschaftlichen Interessen dienen. Die zukünftige amerikanische Regierungspolitik sollte daher ein Transmissionsriemen und ein Katalysator sein, der die "Best Practice" auf diesen Handlungsfeldern politisch unterstützt. Das setzt eine schnelle Reaktionsfähigkeit auf den Wandel in der Arbeitswelt voraus und bedeutet, daß Politik durch Wissenschaft und Forschung unterstützt werden muß. Die Politikberatung wird im ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationsprozeß zu einem immer bedeutsameren Handlungsfeld.

Ein vorläufiges Fazit lautet daher: Die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen sind in den USA auf den neuesten Stand zu bringen mit dem Ziel, einen vernünftigen Rahmen für eine zukunftsfähige Arbeits- und Sozialpolitik zu schaffen. Dabei sind auch die Rollen der amerikanischen "Sozialpartner" erneut auszuloten, trotz aller kulturellen Widerstände und Probleme, die dieses Vorhaben zu einem schwierigeren Unterfangen machen, jedenfalls im Vergleich zu Deutschland. Dieses Update erfordert auch, zu überprüfen, welche Institutionen der "Old Economy" und welche traditionellen Rollenmuster, die Gewerkschaften und Arbeitgeber dort spielten, noch zeitgemäß sind oder wie sie in der "New Economy" modernisiert werden können.

Die Furcht vor einem Kulturbruch sollte aber neue Experimente in der amerikanischen Gesellschaft nicht verhindern.


1.2 Wandel von Arbeit und Herausforderungen für die deutsche Sozialpolitik

Deutschland und die USA stehen vor ähnlichen, wenn nicht denselben Herausforderungen, um die Folgen des technischen Wandels und der Globalisierung der Märkte zu bewältigen. Diesseits und jenseits des Atlantiks gibt es aber erhebliche Unterschiede: Die Arbeitsmarktperformanz ist eine ganz andere, Sozialpolitik bedeutet hierzulande vielfach etwas anderes als in den USA und auch die Rolle des Staates ist eine andere. (Vergleicht man z.B. die Arbeitsmarktentwicklung, so zeigt sich folgendes: Die Zahl der Erwerbstätigen hat sich in den USA von 1991 bis 1999 um fast 18 Millionen erhöht, die Arbeitslosenquote ist auf 4,2% gesunken. Anders in Deutschland: im gleichen Zeitraum gingen 1,7 Millionen Arbeitsplätze verloren und die Arbeitslosenquote stieg auf 9%.)

Hinter der deutschen Arbeitsmarktbilanz verbirgt sich ein ganz bestimmter Wandel. In Deutschland ist ein eindeutiger Tertiärisierungstrend (wie in allen OECD Ländern) zu verzeichnen und der Arbeitsplatzabbau konzentriert sich daher auf den primären und sekundären Sektor.

Das bedeutet in Zahlen ausgedrückt:
 

Neu ist der offenkundige Wandel der sektoralen Beschäftigtenstruktur also nicht, neu ist aber das enorme Tempo, mit dem er sich vollzieht. (Streng genommen haben die Dienstleistungen noch stärker zugenommen, da es auch außerhalb des Dienstleistungssektors, insbesondere im produzierenden Gewerbe, sehr viele "Dienstleister" gibt. Dazu gehören etwa Entwicklungsingenieure, Marketingfachleute, Kundenberater, Rechts-, Finanz- und Steuerexperten.)

Eigentlich dürfte der Wandel niemanden überrascht haben. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts prognostizierten Sozialwissenschaftler die Ablösung der Industrie als den wichtigsten Arbeitgeber. Die Produktivität zeigte eine relativ eindeutige Tendenz, schneller als die Nachfrage an Industrieprodukten zu steigen, was regelmäßig zur Freisetzung von Arbeitskräften führte. Wissenschaftler (wie Jean Fourastié) prognostizierten mit Weitblick schon damals ein Wachstum von Dienstleistungen, denn sie erwarteten, daß der geringere Anstieg der Produktivität im Dienstleistungssektor das wesentliche Wachstum in den Industrienationen generieren wird. Derartige Prognosen gaben dem Leitbild der Dienstleistungsgesellschaft und den Vorstellungen über post-industrielle Gesellschaftsformen bereits erste Konturen.

Verständigt man sich heute auf den modernen Begriff der Wissensgesellschaft, wird damit zugleich ihr wesentlicher Kern angedeutet. In der Industriegesellschaft stellte das Sachkapital den dominierenden Produktionsfaktor dar. Demgegenüber ist in der Wissensgesellschaft der zentrale Produktionsfaktor das Humankapital, verstanden als Wissen der Menschen. Wissen wird im internationalen Wettbewerb immer systematischer und intensiver genutzt und die rasanten informations- und kommunikationstechnischen Fortschritte bieten immer mehr Möglichkeiten für die Gewinnung und Nutzung neuer Erkenntnisse. Daraus resultiert ein exponentielles Wissenswachstum - die Zukunft scheint also längst schon begonnen zu haben. Die Frage lautet nur, wohin sie führen wird.

Ihre Richtung soll im folgenden für den Wandel der Arbeitsinhalte und Formen  sowie der Sozialpolitik ausgelotet werden, um daraus ebenfalls Schlußfolgerungen für die notwendigen Reaktionsmuster der gesellschaftlichen Akteure in Deutschland zu ziehen.

Wandel der Arbeitsinhalte und der Arbeitsformen

Der Arbeitsplatzabbau im primären und sekundären Sektor wird weitergehen. Zu den Verlierern des Strukturwandels werden neben der Landwirtschaft Teile des Produzierenden Gewerbes gehören. (Der Dienstleistungssektor ist aber nicht en bloc als Gewinner auszumachen. Seine Entwicklungsperspektiven sind differenziert zu betrachten. Beschäftigungsrückgänge sind vor allem in staatlichen Einrichtungen, aber auch bei Bahn und Post sowie in geringerem Umfang bei den Finanzdienstleistern und bei den Banken zu erwarten. Gewinnen werden dagegen Dienstleistungen aus dem Bereich Hotel- und Gaststättengewerbe, Gesundheitswesen, Bildungs-, Kultur und Verlagsbereich sowie das sehr breite Spektrum von Dienstleistern wie Anwaltskanzleien, Beratungsunternehmen, Call-Center, Ingenieur- und Planungsbüros, Softwarehäuser, Werbeagenturen etc.)  Aus diesem Strukturwandel folgt aber noch mehr.

Die Leistungsstruktur bzw. -schwerpunkte der Unternehmen werden sich verschieben und die Grenzen traditioneller Branchengliederungen überschreiten. Die Umweltindustrie oder der Mediensektor sind nur zwei Beispiele zu neuen Wirtschaftszweigen, die sich gegen herkömmliche Kategorisierungen sperren, da sie quer zu ihnen liegen.

Auch die Arbeitsplatzstruktur verändert sich. Nicht nur, weil die Zahl der Arbeitsplätze in den einzelnen Sektoren und Branchen mit unterschiedlichem Tempo wächst oder schrumpft, sondern vielmehr, weil sich mit dem technischen Fortschritt Art und Inhalt der Tätigkeiten auf den jeweiligen Arbeitsplätzen verändern. Manuelle Tätigkeiten in der Produktion werden weiter an Bedeutung verlieren, ebenso einfache Tätigkeiten in den kaufmännischen Bereichen und in der Verwaltung. Im Gegenzug werden dispositive sowie planende, steuernde und beratende Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen. Mit diesem Trend werden gleichzeitig die alten Abgrenzungen zwischen Fertigungs- und Dienstleistungstätigkeiten zunehmend verwischt. (Diese Entwicklung wird auch die Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten immer mehr verwischen, die lange Zeit darüber definiert waren.)

Damit ändern sich die Qualifikationsstruktur und die Qualifikationsanforderungen. Im Bereich der formalen Abschlüsse in der schulischen und beruflichen Ausbildung sind die Anforderungen in der Vergangenheit schon deutlich gestiegen. (So zeigt bereits ein Vergleichszeitraum Mitte der 80er Jahre bis Mitte der 90er Jahre (alte Bundesländer): Während 1985 noch 25% der Erwerbstätigen über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügten, lag ihr Anteil 1995 nur noch bei 17%. Demgegenüber erhöhte sich der Anteil der Erwerbstätigen mit einer beruflichen Lehre oder einem Fachschulabschluß von 65 auf 69% und der von Fachhochschul- oder Hochschulabsolventen von 10 auf 14%.)  Diese Entwicklung wird anhalten. Qualifikation ist zudem nicht mehr statisch zu sehen. Das einmal erworbene Wissen und Können garantiert keine dauerhafte Beschäftigung; um die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten ist lebenslanges, ständiges Dazu- oder auch Umlernen erforderlich.

Gerade im Zusammenhang mit der deutschen Alterspyramide ist hiermit ein besonderes Problemfeld angesprochen. Deutschland gilt als eine alternde Gesellschaft. Ein Blick auf das Durchschnittsalter der Erwerbstätigen verrät, wie sich der Alterungsprozeß kontinuierlich im Erwerbspersonenpotential niederschlägt. Die am stärksten besetzten Altersgruppen von Erwerbstätigen sind heute die 30 bis 39-Jährigen, 2010 folglich dann die 40 bis 49jährigen. Entsprechend weit liegt ihre Erstausbildung zurück. Dies ist aber besonders brisant in einer Zeit, in der allerorts davon gesprochen wird, daß sich die Halbwertzeit des beruflichen Wissens und Könnens immer weiter verkürzt. Nimmt man die formale Erstausbildung zum Maßstab, würde demzufolge eigentlich ein ständig sich verjüngender, anstelle eines alternden Mitarbeiterstamms in den Unternehmen gebraucht.

Zum Strukturwandel gehört fernerhin, daß selbständige Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen werden und daß das Normalarbeitsverhältnis, d.h. die unbefristete, arbeits- und sozialrechtlich abgesicherte Vollzeitbeschäftigung, erodiert und durch andere Beschäftigungsformen ersetzt wird. (Auch dieser Trend läßt sich bereits durch Kennziffern belegen. 1985 waren 74%, 1995 noch 67% der Erwerbstätigen (alte Bundesländer) in einem unbefristeten abhängigen Vollzeitbeschäftigungsverhältnis tätig. Umgekehrt waren 1985 15% befristet eingestellt oder teilzeitbeschäftigt, 1995 bereits schon 22%. Der Anteil der Selbständigen (ohne Landwirtschaft und mithelfende Familienangehörige) hat sich in diesem Vergleichsraum von 7% im Jahre 1985 auf 9% im Jahre 1995 erhöht.)  Das Normalarbeitsverhältnis erodiert aus vielfältigen Ursachen. Dabei spielen Konjunkturschwankungen, größere technisch- organisatorische Flexibilitätsspielräume bei der Gestaltung der Arbeitsprozesse und hohe Abgabenlasten bei regulärer Vollzeitbeschäftigung eine wichtige Rolle. Wie einschneidend der Umbruch erfolgt, hängt ebenfalls von den arbeits-, sozial- und tarifrechtlichen Rahmenbedingungen ab. Dies erschwert Vorhersagen, trotzdem bleibt eins offenkundig: Erwerbsbiographien, in denen sich Phasen der Vollzeitbeschäftigung mit solchen der Teilzeitbeschäftigung, selbständiger Arbeit, Arbeitslosigkeit oder auch Phasen der beruflichen Weiterbildung und Umschulung abwechseln, werden keine Seltenheit mehr sein.

Damit sind aber die Herausforderungen für die Sozialpolitik benannt.

Herausforderungen für die Sozialpolitik/ neue Weichenstellungen

Die weltweite Liberalisierung der Märkte und die "New Economy" schaffen Raum für eine ungeahnte wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik. Zugleich stellen sie jedoch überkommene Besitzstände und das noch auf die Bedingungen der Industriegesellschaft zugeschnittene System der sozialen Sicherung immer mehr in Frage. Die Sozialpolitik steht im Prinzip vor einer doppelten Herausforderung:

Diese doppelte Herausforderung zu bewältigen, scheint angesichts der deutschen Rahmenbedingungen aber kein einfaches Vorhaben zu sein.

In den 90er Jahren ist die Sozialpolitik nämlich in Schwierigkeiten geraten. Zum einen sind die Folgekosten der deutschen Vereinigung dafür verantwortlich. Zum anderen ist die Abgabenlast aber auch aufgrund der strukturellen Beschäftigungsprobleme gestiegen. Ein Teufelskreis ist entstanden. Die Abgabenlast steigt und Arbeit verteuert sich, damit werden noch größere Beschäftigungsprobleme geschaffen, wodurch der sozialstaatliche Interventionsbedarf steigt. (Die Palette sozialer Leistungen ist in Deutschland umfangreich und teuer. Nimmt man zu den umlagefinanzierten Einkommensersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung sowie der Transfers der Renten-, Kranken-, Unfall- und Pflegeversicherung noch die steuerfinanzierten Aufwendungen für Sozialhilfe, Pensionen, Familienzuschläge und Beihilfen für Beamte, Kriegsopferversorgung, Kinder- und Erziehungsgeld, Jugendhilfe, Ausbildungsförderung, Wohngeld, öffentlichen Gesundheitsdienst und Förderung der Vermögensbildung hinzu, so wird in Deutschland fast jede dritte erwirtschaftete Mark für soziale Leistungen ausgegeben.) In Deutschland steht zudem eine gestiegene Zahl von Leistungsempfängern einer gesunkenen Zahl von Beitragszahlern gegenüber. Mit fortschreitender Alterung der Bevölkerung tendiert das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den beiden Gruppen dazu, sich noch weiter zu verschlechtern.

Die Sozialpolitik scheint allmählich überfordert. Was kann getan werden? Um gegenzusteuern, werden häufig defensive Strategien thematisiert: die Begrenzung des internationalen Wettbewerbs, eine internationale Angleichung der Sozialstandards oder die gleichmäßigere Verteilung von Arbeit. Diese Strategien scheinen untauglich, um das Problem zu beheben:
 

Prüft man alternativ die Möglichkeiten zur Umfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme, findet sich aber auch hier kein Allheilmittel: Denkbare Lösungswege müssen also ganz woanders gesucht werden.

Handlungsempfehlungen

Ein sozialpolitisches Krisenmanagement schafft nur kurzzeitige Abhilfe. Es muß mehr getan werden, als nur die Symptome zu kurieren. Darauf zielen die nachstehenden Handlungsempfehlungen ab:

Diese Perspektiven und Aufgabenstellungen machen Reformen im Sozialversicherungssystem nicht überflüssig, wenn sie z.B. in der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung aus demographischen Gründen notwendig sind. Je mehr jedoch die Beschäftigung und nachhaltig die Beschäftigungsfähigkeit gefördert wird, desto besser können die deutschen sozialen Sicherungssysteme vor einer weiteren Erosion geschützt werden.


2. Die Zukunft sozialer Sicherungssysteme

Erste sozialpolitische Handlungsempfehlungen konnten für beide Länder schon skizziert werden. Der Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme sind als politische Handlungsebene und gesellschaftlicher Gestaltungsraum keine Auslaufmodelle - weder in den USA noch in Deutschland. Die Unterschiede in den Systemen sozialer Sicherung und das, was unter sozialer Absicherung verstanden wird, sind nicht nur zwischen den USA und Europa, sondern bekanntlich auch innerhalb Europas sehr verschieden. Prognosen über die Zukunft sind zudem durch eine große Irrtumswahrscheinlichkeit geprägt. Trotzdem muß versucht werden, neue Wege in die Zukunft zu markieren. Daher stehen nunmehr die sozialen Sicherungssysteme zur Prüfung an.

2.1 Das fragile amerikanische Sozialversicherungssystem

Das amerikanische System der sozialen Sicherung beruht auf zwei Säulen. Auf einem öffentlichen System und einem privaten System. Das Grundprinzip des öffentlichen Systems mit seinen Pflichtbeiträgen ähnelt dem deutschen Rentensystem. Das private System beruht dagegen auf freiwilligen Beiträgen, die sich in einem Pensionsplan akkumulieren, d.h. auf einem privaten Konto angespart werden, um den Ruhestand bedarfsorientiert finanzieren zu können.

Das öffentliche System besteht aus verschiedenen Einzelbausteinen. (Das Programm ist ein Vermächtnis der Nixon-Regierung. Am Ende der Nixon-Legislaturperiode wurde der Versuch unternommen, eine nationale negative Einkommenssteuer einzuführen, bekannt geworden als "Family Assistence Plan". Dieser Versuch scheiterte allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Anschließend initiierte der amerikanische Kongreß aber einen nationalen Leistungsplan für Ältere, den "Supplement Security Income Plan". Er kann als einer der größten Erfolge der amerikanischen Sozialpolitik nach dem II. Weltkrieg angesehen werden und gehört zu den wesentlichen sozialen Errungenschaften.)

Das sogenannte "Supplement Minimum Cash Benefit" ist eine Bedürftigkeitszahlung bzw. Transferleistung für ärmere Personen. Es handelt sich um ein nationales sozialpolitisches Versicherungsprogramm und ist festgeschrieben im "National Health Insurance Plan", auch genannt "Medicare" Gesundheitsprogramm. Die Anspruchsberechtigung basiert nicht auf Erwerbsarbeit. Einige Bundesstaaten ergänzen die finanzielle Ausstattung dieser wohlfahrtsstaatlichen Leistung, um das soziale Sicherheitsnetz für die Älteren weiter zu verbessern, die im Erwerbsleben keine ausreichenden Rentenansprüche erwerben konnten. Dieses Programm zeigt Wirkung: In den USA sind die Armutsraten bei den älteren Bürgern in den letzten 20 Jahre stärker gefallen als bei den übrigen Bevölkerungsgruppen.

Eine weitere Komponente des öffentlichen Systems ist die allgemeine Grundsicherung bzw. -leistung für erwerbstätige Personen. Arbeitnehmer, die in den Ruhestand gehen, erhalten Renten, die materiell nach den Phasen des Erwerbslebens bzw. der Einkommensgeschichte gestaffelt sind. Vor dem Erreichen des Ruhestandsalters von derzeit 65 Jahren müssen im Falle eines vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben allerdings prozentuale Abschläge in Kauf genommen werden. (Allerdings wird in den USA inzwischen über eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre nachgedacht.) Doppelverdiener haben eine Wahlmöglichkeit zwischen den Renten der Ehepartner: Entweder wird die selbst erworbene Rentenleistung gezahlt oder die Hälfte der Rentenleistung des Ehegatten. Die Wahl orientiert sich in der Praxis regelmäßig daran, wer das höhere Lebensarbeitseinkommen realisierte. Verstirbt ein Ehegatte, wird die höchste erreichte Rentenleistung zur Grundlage der Rentenauszahlung.

Die Berechnung der Rentenbasis, die Rentenformel, beinhaltet eine hohe Erstattungsrate für die ersten erzielten Einkommen aus der Erwerbsbiographie. Sie werden zu 90% als Rentenleistungen ersetzt. Die übrigen Rentenfaktoren errechnen sich dagegen aus den Durchschnittsverdiensten, die die amerikanische Sozialverwaltung berechnet. Danach erhalten die unteren Einkommensgruppen prozentual zu ihrem erzielten Erwerbseinkommen höhere Rentenzahlungen als die Mehrverdiener. Die Charakteristik des Systems liegt demnach in den proportional hohen Rentenleistungen bei den unteren Einkommen, bereits geringeren (etwa ein Drittel) im mittleren Einkommenssegment und geringsten Rentenleistungen bei den Spitzenverdienern, jeweils in Relation gesetzt zu ihrem tatsächlich erzielten Erwerbseinkommen. Dieser Umverteilungsaspekt kennzeichnet das öffentliche amerikanische Rentensystem.

Das Rentensystem wird über Steuern finanziert. Dieses steuerfinanzierte Modell sieht vor, daß Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von weniger als 76.000 Dollar mit einer 15%igen Steuer beitragspflichtig sind und die Steuerrate zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geteilt wird (also 7,5%). Ungefähr 11% davon fließen in einen Pensionsfond, der Rest in einen Behindertenfond sowie in das oben genannte "Medicare" Programm.

Wie ist dieses amerikanische Alterssicherungssystem gegenwärtig zu bewerten bzw. welches sind die zentralen Herausforderungen?

Dabei ist zunächst eins zu berücksichtigen: Die gegenwärtigen Probleme der sozialen Sicherung in den USA sind dort weniger eine Folge des wirtschaftlichen und technologischen Wandels, sondern entstammen vor allem aus einer demographischen Schieflage in der Altersstruktur der Bevölkerung.

Das öffentliche System stützt sich, wie aufgezeigt, auf Transferzahlungen von der jungen zur älteren Generation. Der, wenn man so will, "Gewinn" daraus ist für die Geringverdiener aufgrund des Umverteilungsschemas wesentlicher größer als für die höheren Einkommensgruppen. Davon unterscheidet sich das private Vorsorgesystem, in das der Staat im Prinzip überhaupt nicht regulierend mit umverteilungspolitischen Leitvorstellungen interveniert. Etwas weniger als die Hälfte der amerikanischen Haushalte verfügen darüber hinaus über Eigenkapital (Investmentfonds, Aktien). Dieser Bereich ist empirisch schwer zu erfassen, die Tendenz ist aber ansteigend. Etwa 43% verfügen z.B. über steuerbegünstigte Rentensparpläne. Das angesparte Rentengeld wird erst nach der Auszahlung und auch nur ab einer bestimmten Höhe besteuert. Die meisten Rentenzahlungen in den USA stützen sich auf eine Kombination der beiden Säulen. Aber es gibt etwa Eindrittel von Arbeitnehmern, die neben den öffentlichen Rentenleistungen keine weiteren Pensionen erhalten und für die eine staatlich organisierte soziale Sicherung daher eine besonders wichtig Existenzgrundlage darstellt.

Wie schon festgehalten, wird die amerikanische Bevölkerung immer älter und gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Im Jahre 2025 wird die prognostizierte Anzahl von Menschen, die älter als 65 sind, dramatisch ansteigen. Die Zahl der Arbeitnehmer, die dann die Renten über die Steuern finanzieren müssen, wird dagegen nur geringfügig zunehmen. Die Finanzierung des öffentlichen Systems wird für Beschäftigte und Arbeitgeber also teurer werden. Dieses Problem wird derzeit in den USA ausgeblendet, da im Sozialfond, aus dem diese Renten finanziert werden, die Summe der Einnahmen die Ausgaben übersteigt. Grund zur allgemeinen Beunruhigung und Verunsicherung gibt es noch nicht. Der gegenwärtige Status quo läßt vielmehr eher Wünsche nach einer Ausweitung der Sozialleistungen aufkommen. Diese Sichtweise ist äußerst kurzsichtig, denn aufgrund der demographischen Entwicklung ist folgendes Szenario absehbar.

Im Jahre

Das gegenwärtige Wirtschaftswachstum führt dazu, daß aber auch die Wirtschaft dieses gefahrvolle Krisenszenario schlichtweg verdrängt. Betrachtet man aber noch einmal die Finanzierungsstruktur des Systems, führen höhere Durchschnittslöhne einerseits zu höheren Verbindlichkeiten in der Zukunft. Andererseits sinkt mit steigenden individuellen Löhnen aber die persönlich zu erwartende Rentenleistung und die Erwerbstätigen (aus der Gruppe ansteigender mittlerer Einkommen) müssen sich eine zusätzliche Altersversorgung aufbauen, da sie nur einen geringen Prozentsatz der eingezahlten Beiträge zurückerhalten.

In den USA ist daher eine Debatte darüber dringend notwendig, wie eine zusätzliche Finanzierung sozialer Sicherheit künftig gestaltet werden kann. Individuelle Sparpläne, Investitionen am Aktienmarkt etc. garantieren keinesfalls, daß die zu erwartenden Endsumme zur Finanzierung einer bedarfsorientierten Zusatzrente ausreicht.

Um dem Dilemma zu entgehen, gäbe es unterschiedliche Möglichkeiten. Eine Möglichkeit wäre z.B., schlichtweg die Steuern anzuheben, um die Renten zu finanzieren. Damit könnte der Sozialfond aufgestockt werden. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, das staatliche System mehr zu privatisieren und zusätzliche Pflichtbeiträge bzw. Pflichtsparraten in Investitionsfonds einfließen zu lassen. Sämtliche Lösungsmuster haben aber eins gemeinsam. Sie sind ein teuerer Transfer und stellen für die junge Generation eine hohe Belastung dar.

Diese Lösungen sind auch politisch nicht salonfähig. Angesichts der gegenwärtigen steuerlichen Belastung ist kaum Spielraum für zusätzliche Pflichtbeiträge zu erkennen, die eine ausreichende gesellschaftliche Akzeptanz finden würde. Erhöhte Kosten des Faktors Arbeit durch neue steuerliche Belastungen sind wirtschaftspolitisch nicht besonders opportun. Im Prinzip müßte es daher eine dritte Säule geben, die sich irgendwo zwischen dem privaten und öffentlichen System positioniert.

Die Debatte über die Zukunft der sozialen Sicherung steht in den USA also noch am Anfang, im Prinzip ist sie noch gar nicht richtig in Gang gekommen. Die Zukunftsprobleme werden verdrängt. Gebraucht werden aber, genauso wie in Deutschland, mehr als nur kosmetische Systemkorrekturen. In Zukunft geht es auch in den USA um eine fundamentale Reform des Systems der sozialen Sicherung. Noch ist die Zeit dafür da, denn die Finanzierungsbasis des amerikanischen Systems steht heute auf einem gesunden Fundament, das aber angefangen hat, brüchiger und fragiler zu werden als in der Vergangenheit.

2.2 Reformaussichten des sozialen Sicherungssystems in Deutschland

Zum Verständnis des Zustands, in dem sich die deutschen sozialen Sicherungssysteme befinden und zur Sichtung ihrer Zukunftsperspektiven werden im folgenden einige wesentliche Veränderungen in den politischen Antrieben zur Sozialstaatlichkeit benannt, das deutsche Modell einer europäisch vergleichenden Betrachtungsweise unterzogen, die Sozialstaatsaktivität am Beispiel der betrieblichen Altersversorgung überprüft sowie Veränderungstrends herausgearbeitet, die in Vorschläge zu den Zentralelementen einer langfristig orientierten Sozialstaatsreform münden. (Der Sozialstaat beinhaltet selbstverständlich mehr als die Sozialversicherungssysteme. Der Fokus der Analyse soll aber auf der Sozialversicherung und dort vor allem auf dem Rentenversicherungssystem liegen.)

Politische Antriebe zur Sozialstaatlichkeit - eine historische Einordnung

Die Geschichte des deutschen Sozialstaats hat eine der ältesten europäischen Traditionen, wenn auch nicht die längste. Der Aufbau eines systematischen, staatlich gelenkten sozialen Sicherungssystems wird in Deutschland meist als eine Bismark’sche Überlieferung interpretiert. Zur deutschen Sozialstaatskonzeption gehört aber auch die Adenauer’sche Tradition. Die wichtigsten konzeptionellen Elemente, Einzelsysteme und die Leistungsformeln des heutigen deutschen Systems gehen weitgehend auf die Gesetzgebung der 50er und 60er Jahre zurück. Der deutsche Sozialstaat der 50er und 60er Jahre weist in einer historischen Einordnung die stärkste Tendenz auf, die Sozialversicherungssysteme auszubauen. Dazu gaben politische Antriebe den Anstoß, die sich unter den heutigen Rahmenbedingungen entscheidend verändern.

In den 50er Jahren befand sich die alte BRD, als ein deutscher Teilstaat, in einer wirtschaftlichen und politischen Systemkonkurrenz. Diese Konkurrenz hat die Politikmuster mitbestimmt. Sie bezogen ihre Legitimation stark auf die Sozialstaatsidee. Hinzu kam, daß in den 50er und 60er Jahren die positive Wechselwirkung zwischen einem ausgebauten Sozialsystem und der Stabilität eines demokratischen Systems außer Frage stand. Dieses Bewußtsein, dieser gesellschaftliche und politische Konsens war eine Reaktion auf die deutschen Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise und ihren Folgen.

Die ehemaligen politischen Antriebe sind heute weitgehend bedeutungslos geworden. Die Systemkonkurrenz ist infolge des Zusammenbruchs des realsozialistischen Ostblocks entfallen. Der Legitimationsbedarf als ein deutscher Teilstaat besteht nicht mehr. Die negativen Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise sind inzwischen verdrängt. Die Erfahrungen mit einer relativ großen Unterbeschäftigung hat das politische System dagegen weitgehend störungsfrei verarbeitet.

Trotzdem treffen veränderte politische Impulse heute aber auf das Profil eines deutschen Sozialstaats, wenn man die Sozialversicherung zum Bezugspunkt nimmt, welches sehr stark durch die Ausgangslage in den 50er und 60er Jahren geprägt ist. Dies hat Folgen.

Der deutsche Sozialstaat ist im Prinzip arbeitnehmerorientiert. Die Vollbeschäftigung hat ihm ihren Stempel aufgedrückt. Grundsätzlich waren zu Vollbeschäftigungszeiten alle arbeitsfähigen und erwerbsbereiten Personen auch in der Lage, wirtschaftliche Leistungen zu erarbeiten. Davon blieb das Sozialversicherungssystem nicht unberührt. Die Folge ist ein relativ starkes kollektivvertragliches System, mit einer gewissen entdifferenzierenden bzw. ausgleichenden Funktion in den Einkommensunterschieden aus den Erwerbseinkommen.

Weitere Folgeerscheinungen der Reformen in den 50er und 60er Jahren addieren sich hinzu. Der Sozialstaat der 50er Jahre hat die Elemente von Mindestsicherung in den Kernsystemen der sozialen Versicherung eliminiert. Im deutschen Rentensystem entfiel nach dem II. Weltkrieg diese Mindestabsicherung. Ferner ist das System der 50er und 60er Jahre stark beeinflußt von den vorangehenden Katastrophenerfahrungen mit der privaten Vorsorge. Die Rentenreform der Adenauer Ära hob daher (1956/ 57) die Rentenniveaus, sozusagen von einem auf den anderen Tag, auf circa 70% an.

Elemente deutscher Sozialpolitik im europäischen Vergleich

Statistische Vergleiche verdeutlichen gleich in mehrfacher Hinsicht, wo sich Deutschland gegenwärtig in der europäischen sozialpolitischen Landschaft positioniert.

Übersicht 1: Sozialleistungsquoten im Vergleich in %

Jahr             D         F          GB           NL
1962         17,6     16,3         —         13,8
1970         21,5     18,9       14,3        19,6
1975         29,7     22,9       20,1        26,7
1980         28,8     25,4       21,5        30,1
1985         28,4     28,8       24,3        31,7
1990         25,4     27,7       23,1        32,5
1996         30,5     30,8       27,7        30,9
(Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Statistisches Taschenbuch ’99,
Bonn 2000, Tab. 9.18.)

In Beziehung zu anderen Ländern mit durchaus vergleichbarer Wirtschaftsleistung wie Frankreich, Großbritannien und Niederlande zeigt sich: Alle europäischen Länder haben in der Vergangenheit deutliche Anstiege in den Sozialleistungsquoten aufzuweisen. Das Niveau ist in etwa vergleichbar, was allerdings in Deutschland manchmal auch anders wahrgenommen wird, wenn die harten empirischen Fakten aus der Diskussion ausgeblendet werden.

Übersicht 2: Einnahmen des Sozialschutzes in % (1996)

                                     Beiträge
         Insgesamt     Versicherte     Arbeitgeber     Staatliche Zuweisungen     Sonstige
                                                                                                               Einnahmen

D         67,6                 28,5             39,1                     30,0                              2,4
F         77,9                 28,0             49,9                     20,2                              1,9
GB      39,1                 14,4             24,7                     48,5                             12,3
NL       67,6                 44,4             23,2                     16,4                             16,0
Quelle: Eurostat-ESSOSS, Volks- und Finanzwirtschaftliche Berichte des Bundesministeriums
 für Finanzen (März 2000)

Auch im Bereich der Einnahmen fallen die Unterschiede nicht allzu drastisch aus. Nur in Großbritannien liegt die staatliche Zuweisung höher. Alle europäischen Länder haben sehr starke Beitragsbelastungen zu bewältigen und versuchen daher, die Arbeitskosten abzusenken, teilweise auch durch die Anhebung der staatlichen Zuweisung zu kompensieren. Bei den sonstigen Einnahmen fällt allerdings eins auf, nämlich die relativ hohen Anteile in Großbritannien und in den Niederlanden. Dies sind Einnahmen aus Kapitalanlagen, insbesondere aus der betrieblichen Altersversorgung.

Übersicht 3: Betriebliche Altersversorgung von 5 ausgewählten europäischen Ländern im Vergleich

Land         Reichweite bei Beschäftigten      Betrieblicher                         Besteuerung
                der Privatwirtschaft                    Alterssicherungsanteil            vor-/nachgelagert
                (Größenordnung in %)               Größenordnung in %)

D                     25                                             5                                 unterschiedlich

GB                  50                                            30                                 nachgelagert

NL                   95                                            32                                 nachgelagert

F                     90                                            21                                 nachgelagert (soweit
                                                                                                           nicht steuerbefreit)
CH                  90                                          (>50)                               nachgelagert
Quelle: D. Döring: Systemlogik der Alterssicherung.
(Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung), Frankfurt a.M., 2000.
(In der Schweiz ist die betriebliche Komponente als obligatorisches System erst im Aufbau (seit 1985); deshalb spiegeln die heutigen Anteile eher eine anders geartete Situation der betrieblichen Altersversorgung in der Vergangenheit. Bei den Aufwendungen liegen gegenwärtig die Aufwendungen für die betriebliche Ebene (Pflicht- und freiwillige Renten, Risikovorsorge) deutlich über den Beiträgen für die AHV/IV (28 zu 23 Mrd. CHF nach Schmid 1998, S. 1158). Langfristig dürfte der Anteil der zweiten Komponente höher als der AHV/IV-Anteil liegen.)

Die Daten aus dem Sektor der privaten Wirtschaft zeigen deutliche Unterschiede im Deckungsgrad. Diese ergeben sich in der Regel dadurch, daß das deutsche System in der privaten Wirtschaft ein freiwilliges System ist. Diese freiwillige Unternehmensleistung zeigt hierzulande einen rückläufigen Trend, während in den anderen Ländern durchweg heute Obligatorien (gesetzlich geregelt für die Mehrzahl der Beschäftigten, z.B. in der Schweiz) oder quasi-obligatorische Systeme (allgemeinverbindliche Tarifverträge, wie z.B. in Frankreich) vorherrschen.

Daraus kann bereits abgeleitet werden: Die aktuelle deutsche Diskussion ist im Grunde zu stark auf die Frage der Eigenvorsorge fixiert und blendet im Vergleich zu den anderen Sozialstaaten in Europa einen wichtigen Vorsorgebaustein aus, nämlich die betriebliche Säule der Alterssicherung. Darauf wird später noch mehrmals zurückzukommen sein.

Übersicht 4: Vermögensprofile von Pensionsfonds in 5 ausgewählten europäischen Ländern

Land             Vermögen in % des BIP     Anlagetendenzen     Unternehmensexterne
                    1992            1997                                            Anlage vorgeschrieben

 D                 6,5               5,6                 Anleihen                 nur teilweise

GB               61,7            89,9                 Aktien                        ja

F                   3,1              4,6                 Anleihen, Geld        Hauptsystem für non-cadre
                                                                                          ist umlagefinanziert

NL               75,5            88,5                 Aktien, Immobilien       ja

CH              59,7            83,7                 Anleihen                     ja

Quelle: D. Döring: Systemlogik der Alterssicherung.
(Expertise für die Hans-Böckler-Stiftung), Frankfurt a.M., 2000.
(Wegen der andersartigen Struktur der BAV in Deutschland sind die deutschen Ziffern u.U. missverständlich. Das Hauptsystem für non-cadre in Frankreich gilt für Beschäftigte in nicht herausgehobener Stellung; daneben Cadre-System früher nur für Leitende, heute jedoch stärker ausgeweitet. Die amtlichen Schweizer Ziffern für den Wert des Anlagevermögens bewerten dies sehr niedrig (Schmid 1998, S. 1157); in Marktpreisen würde es das BIP weit übersteigen.)

Die Gewichtung von Umlage- und Kapitaldeckung ist in den jeweiligen nationalstaatlichen Systemen höchst unterschiedlich. Es sind zwei Extreme auszumachen: ein geringer Vermögensbestand von Pensionsfonds in Deutschland und Frankreich gegenüber Großbritannien, Niederlande und Schweiz mit höheren Beständen. (In Frankreich ist betriebliche Altersversorgung (noch) überwiegend umlagefinanziert.)  Dieser Vergleich ist ein deutlicher Beleg für die unterentwickelte deutsche Situation.

Der deutsche Sozialstaat ist nun mit grundlegenden Veränderungen konfrontiert. Bereits einige wesentliche Veränderungen veranschaulichen exemplarisch die Notwendigkeit von Kurskorrekturen und sollten nochmals ins Gedächtnis gerufen werden:
 

Diese Veränderungen treffen auf ein relativ leistungsstarkes sozialstaatliches System, aber zugleich auf ein vergleichsweise schwach entwickeltes System der betrieblichen Altersversorgung. Darin liegt eine wesentliche Problematik.

Folgerungen

Aus der vorangegangenen Zustandsbeschreibung lassen sich in thesenhafter Form unterschiedliche Schlußfolgerungen ziehen, aus denen die künftigen Anforderungen an das Sozialversicherungssystem transparent werden:

(1) Eine erste Perspektive könnte wie folgt lauten: Das heutige Modell von Sozialversicherung markiert noch überwiegend die Ab- und Versicherung abhängiger Arbeit. Das deutsche System der Sozialversicherung wird aber nur eine ausreichende Kompetenz in der Erzeugung sozialer Sicherheit wie auch eine ausreichende Stabilität in der Finanzierung haben, wenn es zu einer Erwerbstätigenversicherung, die eine umfassende Versicherung von Erwerbstätigkeit beinhaltet, weiterentwickelt wird. Im Bereich der selbständigen Arbeit existiert mehr ein Flickenteppich von Regelungen, die eine Vielzahl neuer selbständiger Tätigkeiten ausschließen. Das Ziel sollte aber nicht das Aufbürden neuer Belastungen sein, sondern im Vordergrund müßte die bessere Harmonisierung bestehender Sozialversicherungs- und neuer Erwerbsstrukturen stehen.

(2) Das System der Ehezentrierung wird nur schwer aufrechtzuerhalten sein. Das System der abgeleiteten Sicherung ist modernisierungsbedürftig. In diesem Zusammenhang wären auch Wahlchancen im Rahmen des Systems der abgeleiteten Ansprüche zu schaffen, wie z.B. in den USA (vgl. 2.1). Auf längere Sicht könnte eine eigenständige Mindestversicherungspflicht aller, d.h. auch der Nichterwerbstätigen, in den sozialpolitischen Zielkatalog aufgenommen werden, die eine persönliche Beitragsverantwortung einschließt.

(3) Der offenkundige Prozeß der Veränderung der Erwerbslandschaft wird mit einer stärkeren Differenzierung der Erwerbseinkommen verbunden sein. In den USA ist dieser Differenzierungsprozeß bekanntlich schon weit fortgeschritten, aber auch in Deutschland ist aufgrund von Forschungen zur langfristigen Einkommensentwicklung davon auszugehen, daß die Einkommensspreizung zunimmt. Die bestehende Sozialversicherung muß daher auch auf die Anspruchsgrundlage kleiner Einkommen zugeschnitten werden, um eine sozialverträgliche und gesellschaftlich akzeptable Mindestabsicherung zu gewährleisten.

(4) Zum überwiegend umlagefinanzierten System gibt es kaum tragfähige, breitenwirksame Alternativen. Dann muß es aber eine flankierende Strategie geben, auch der Tarifpartner, in einem absehbaren Zeitraum energisch eine ergänzende, tariflich fundierte Zusatzsicherung (mit voller Kapitaldeckung) in den einzelnen Branchen aufzubauen.

(5) Last, but not least: Sozialpolitik ist nicht nur Sozialversicherung, die gesellschaftliche Entwicklungstrends sozialverträglich abfedert. Ein langfristiges Ziel ist daher auch die arbeitsmarktpolitische Reintegration der erwerbsfähigen Personen (vgl. Kapitel 1.2). Das bedeutet: Die berufliche Bildung und die Arbeitsförderung müssen wieder mehr als zentrale Instrumente der Sozialpolitik anerkannt werden.

Damit sind die wesentlichen Weichenstellungen für das deutsche Sozialsystem aufgezeigt und die Richtung bestimmt, in die der deutsche Sozialstaat seinen neuen Weg suchen sollte. Im Anschluß daran bleibt zu fragen, ob die Sozialpartner und die Politik mit diesem Weg auch einverstanden sind.

2.3 Die Standpunkte der Sozialpartner und der Politik

Soziale Sicherungssysteme, beitragsfinanzierte Sozialversicherung und steuerfinanzierte Leistungsgesetze sind ein Teil des Sozialstaats genauso wie die Mitbestimmung und die Tarifautonomie. Politik und Sozialpartner sind aufgerufen, dieses filigrane System des Sozialstaats den ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen ständig anzupassen. Da der derzeitige Anpassungsdruck hoch ist, muß auch ausgelotet werden, welche Perspektiven die (deutschen) Sozialpartner und Politiker vorschlagen, um Ventile in das System einzubauen, die daraus etwas Druck ablassen.

Gewerkschaften

Auch bei den deutschen Gewerkschaften hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß Korrekturen am System der sozialen Sicherung auf der gewerkschaftspolitischen Tagesordnung stehen müssen. Gewerkschafter betonen allerdings, daß der Bedarf nach sozialer Sicherung nicht geringer geworden, aber schwieriger abzusichern und zu organisieren ist. Dies darf in der Diskussion über die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nicht miteinander vermischt oder verwechselt werden. Aus der Erkenntnis, daß Solidarität unter den Bedingungen veränderter Betriebsformen, sozialer Beziehungen und Arbeitsanforderungen schwieriger zu organisieren ist, sollte also nicht leichtfertig der Trugschluß gezogen werden, daß auch die Gestaltungsnotwendigkeiten abgenommen haben.

Häufig wird in der Beurteilung sozialpolitischer Regulierungsnotwendigkeiten aber nur die Oberflächenstruktur der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft zur Grundlage gemacht, die Tiefenstruktur dagegen vernachlässigt. Natürlich hat sich die Oberflächenstruktur der sozialen Beziehungen, der Lebensverhältnisse und Lebenslagen maßgeblich verändert und dieser Prozeß setzt sich fort. Die gesellschaftliche Tiefenstruktur aber, und damit ist die Anforderung gemeint, Arbeitskraft unter möglichst vernünftigen Bedingungen im Rahmen der ökonomischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse langfristig verwerten zu müssen, hat sich damit nicht verändert. Einschätzungen über die Zukunft des Sozialstaats und Ansprüche an sozialstaatliches Handeln müssen von einer eher oberflächlichen Betrachtungsweise ökonomischer und gesellschaftlicher Strukturen auch immer wieder auf diese Tiefenstruktur eingehen. Oberflächen- und Tiefenstruktur sind demnach in ihrem verzweigten Zusammenhang zu sehen: die demographischen Entwicklungen, die Veränderung der Lebensformen und die Veränderungen in der Arbeitswelt. Ist das soziale Sicherungssystem nach gewerkschaftlicher Auffassung darauf schon ausreichend vorbereitet? (Unstrittig ist in einer gewerkschaftlichen Bewertung, daß die Trennung zwischen vorleistungs- bzw. beitragsorientierten Sicherungssystemen und stärker fürsorgerisch-bedarfsorientierten Systemen aufrechterhalten bleiben sollte, allerdings ohne das Element der sozialen Grundsicherung dabei zu negieren. Diese Abgrenzung ist aus gesellschaftlichen Akzeptanzerfordernissen unumgänglich.)

Im Bereich der betrieblichen Altersversorgung ist es das offenbar nicht. Die deutsche Sozialversicherung war schon immer ein sehr gegliedertes System mit einer Vielfalt unterschiedlicher Sicherungssysteme. Das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung sichert nicht allein die Altersversorgung, sein Anteil an der gesamten Alterssicherung liegt bei rund 75%. Wie oben aufgezeigt, ist Deutschland im europäischen Vergleich im Bereich der betrieblichen Altersversorgung zurückgeblieben. Deshalb erwarten auch die Gewerkschaften eine Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge. Sie wird ein wichtiges tarifpolitisches Gestaltungs- und Handlungsfeld der Zukunft sein.

Dies setzt allerdings voraus, daß auch die politischen Rahmenbedingungen stimmig sind, unter denen dieses Vorhaben umgesetzt werden kann. Hier eröffnet sich aus gewerkschaftlicher Sicht in der Tat ein Problemfeld. Zwiespältig ist, wenn in der gegenwärtigen politischen Kontroverse einseitig die Frage der dritten Säule unter dem Gesichtspunkt eines obligatorischen oder fakultativen Aufbaus diskutiert wird, während der Bereich der zweiten Säule ins Hintertreffen gerät.

Nach gewerkschaftlicher Bewertung wäre es ordnungspolitisch falsch, die dritte Säule obligatorisch zu organisieren und gleichzeitig die zweite Säule, die betriebliche Ebene, nicht verbindlich, kollektiv auszugestalten und zu regulieren, sondern ihrer urwüchsigen Entwicklung zu überlassen. In der Vergangenheit war der Aufbau der betrieblichen Altersversorgung in starkem Maße von der sozialen bzw. personalwirtschaftlichen Orientierung der einzelnen Unternehmen abhängig. Tarifpartner und Politik sind also gefordert, auch auf diesem Terrain neue Wege zu beschreiten, um die Beliebigkeit in der Entwicklung der zweiten Säule zugunsten einer besser regulierten, konzeptionellen Ausrichtung zu ersetzen, die die Tragfähigkeit des Fundaments der sozialen Sicherung erhöht.

Abseits der Problemstellung, die betriebliche Altersversorgung zu kultivieren, ergeben sich aus gewerkschaftlicher Perspektive aber noch weitere Innovationserfordernisse. Die veränderten Lebensformen und die veränderten Verhältnisse im familiären Bereich unterstreichen eine weitere nachhaltige Zukunftsaufgabe im sozialen Sicherungssystem: die eigenständige Alterssicherung (der Frauen). Wenn das traditionelle Modell des Alleinernährers und damit Erwerbers von Rentenansprüchen sowie dauerhafte familiale Lebenszusammenhänge zunehmend brüchig werden, müssen neben der abgeleiteten Sicherung alternative Absicherungsinstrumente geschaffen werden.

Eine eigenständige Alterssicherung hätte einen weiteren Vorteil. Sie fördert die gesellschaftliche Zielvorstellung, familiäre Aufgaben gemeinschaftlich, partnerschaftlich wahrzunehmen und nicht geschlechtsspezifisch aufzuteilen.

Bleibt noch die Frage nach der Finanzierbarkeit der sozialen Sicherung. Diese stellt sich nach gewerkschaftlicher Ansicht allerdings nicht nur als eine demographische Problemstellung. Ihre Beantwortung wird in Zukunft auch davon abhängen, welche Prognosen zum Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung in den kommenden 30 Jahren zutreffen. Je höher es liegen wird, umso eher können die bestehenden sozialen Sicherungssysteme ohne folgenschwere Einschnitte finanziert werden. Die Frage, wie soziale Sicherung zu finanzieren ist, stellt sich möglicherweise ganz anders, wenn die Frage nach dem verfügbaren Einkommen erstmals mit größerer Prognosesicherheit beantwortet werden kann.

Arbeitgeber

Die krisenartigen, finanziellen Probleme in den sozialen Sicherungssystemen hängen nach der Bewertung der Arbeitgeber im wesentlichen mit der demographischen Entwicklung zusammen und müssen deshalb auch vor diesem Hintergrund gelöst werden. Nach neueren Modellrechnungen steigt der gesamte Sozialversicherungsbeitragssatz (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung), der heute bereits ein Rekordniveau erreicht hat, aufgrund der demographischen Entwicklung bis zum Jahre 2030 noch um weitere 3-9 %. Diese Tatsache kann eine Suche nach Lösungswegen nicht ausblenden.

In den USA wird schon darüber nachgedacht, wie das Problem gelöst werden kann: ob durch eine Anhebung der "Sozialsteuer" oder durch eine Einschränkung des Leistungsniveaus (vgl. Kapitel 2.2). Wie die Lösungsansätze ausfallen, hängt davon ab, auf welche gesellschaftliche Akzeptanz sie im betroffenen Land treffen werden. In Deutschland sind aufgrund der hohen Abgabenlast bereits heute erhebliche Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung zu registrieren, die in Fluchtbewegungen bis hin zur Schwarzarbeit münden. (Vergleichsdaten stimmen ernüchternd. Im Rahmen aller OECD-Länder rangiert die Bundesrepublik bei den Bruttoverdiensten in der obersten Spitzengruppe und findet sich bei den Nettoverdiensten dagegen fast an der untersten Stelle wieder. Die Spanne zwischen Brutto- und Nettoverdiensten ist in kaum einem anderen OECD-Land so groß wie in der Bundesrepublik.)  Eine steigende Abgabenlast würde die Fluchtbewegungen verschärfen. An diesem Sachzwang kommt eine Reform der Sozialversicherung nicht vorbei.

Nach Auffassung der Arbeitgeber ist der Lösungsweg damit vorgezeichnet. Es gibt keine andere Wahl, als über Leistungseinschränkungen im Rentenniveau und mehr Eigenverantwortlichkeit in der privaten Altersversorgung nachzudenken. Auch wenn es schmerzlich ist, sollte langfristig von der Vorstellung einer lebensstandardsichernden Rentenversicherung Abstand genommen und die Weichen für eine Basissicherung, unter Aufrechterhaltung des Äquivalenzprinzips ohne Verstärkung von Umverteilungselementen, gestellt werden. (Eine solche Argumentation reizt selbstverständlich regelmäßig zum Widerspruch. Häufig wird dagegengehalten, daß eine Basissicherung nur weitere obligatorische Zusatzversicherungssysteme erforderlich macht.)  Das setzt voraus, daß der Abstand zur Sozialhilfe deutlich ist. Dieses Abstandsgebot zwischen erster Säule der Altersvorsorge und Sozialhilfe beinhaltet aus der Arbeitgebersicht, daß ein langfristiges Rentenniveau von knapp über 60% eingehalten werden muß. Die aufgerissenen Versorgungslücken müssen durch private Versicherungssysteme, aber auch mit Hilfe der betrieblichen Altersversorgung geschlossen werden, also durch die zweite und dritte Säule.

Daher sollten im Bereich der betrieblichen Altersversorgung zwei Aufgabenstellungen aufgearbeitet werden:

Darüber hinaus ist die nachgelagerte Besteuerung besonders wichtig, also ein in Großbritannien, Frankreich, Niederlande und Schweiz bereits üblicher Besteuerungsmodus. Damit würde für die Arbeitnehmer ein wesentlicher Anreiz und die Bereitschaft geschaffen, über Entgeltumwandlung in die betriebliche Altersversorgung einzusteigen.

Unmißverständlich machen die Arbeitgeber allerdings klar: Die Errichtung dieser zweiten Säule betrieblicher Altersvorsorge im Sozialversicherungssystem muß auf der Grundlage beidseitiger Freiwilligkeit - sowohl der Arbeitnehmer wie auch der Arbeitgeber - erfolgen.

Politik

Auf der Agenda der Bundesregierung stehen verschiedene Innovationen im Sozialversicherungssystem, die politisch ausgehandelt und mit angemessenem Augenmaß für gesellschaftliche Interessen angegangen werden sollten.

Daß an der betrieblichen und privaten Altersvorsorge kein Weg vorbeiführt, darüber existiert inzwischen durchaus ein breiterer, parteiübergreifender Konsens. Zu prüfen ist daher, wie das umlagefinanzierte System durch (teil-) kapitalgedeckte Elemente ergänzt werden kann. Das vielfach beschworene Krisenszenario des sozialen Sicherungssystems, speziell im Bereich der Rentenversicherung, ist nach einer politischen Verortung aber etwas nuancierter zu betrachten.

Mit der letzten großen Rentenreform wurden erhebliche Belastungen aus der demographischen Entwicklung bereits abgefangen. Nach dem Fall der Mauer und der deutschen Vereinigung wurde indes ein großer Teil der Kosten der deutschen Einheit über die sozialen Sicherungssysteme finanziert. Die Folgen sind die aufsehenerregenden Finanzierungsschwierigkeiten in der Rentenversicherung. Die Politik zieht sich trotzdem nicht auf eine rückblickende Sachzwangargumentation zurück, sondern greift jetzt den neuen Handlungsbedarf auf.

Das Altersstrukturdilemma erfordert aber noch andere Lösungen. Die Frage, wie künftig qualifizierte Frauen besser in das Erwerbssystem integriert werden können (Kinderbetreuung, familienfreundliche Arbeitszeitflexibilisierungen), zeigt z.B. eine von mehreren Optionen auf, das Erwerbspersonenpotential zu erhöhen. (Dazu müßten auch mehr Teilzeitarbeitschancen für Frauen geschaffen werden. Teilzeitarbeit ist aber durchaus mit einem Armutsrisiko verbunden. Wenn Teilzeitarbeit als gesellschaftliches Modell voran gebracht werden soll, müßte das Konzept sozialpolitisch flankiert werden, z.B. durch Rentenausgleichsbeträge. Teilzeitarbeit wird dann nicht ausreichend attraktiv sein, wenn sich Rentenansprüche quasi millimetergenau nach dem erzielten Erwerbseinkommen bzw. den geleisteten Beiträgen richten.)

Mit gebotener Differenziertheit ist aus politischer Sicht auch die Frage nach dem Rentenzugangsalter zu bewerten. Das reale Eintrittsalter liegt heute vielfach unter 60 Jahren. Dies wird sich der deutsche Sozialstaat künftig kaum mehr leisten können. Jenseits der Frage nach den formalen Altersgrenzen lautet die entscheidende Herausforderung aber: Wenn die Menschen länger im Erwerbssystem verbleiben sollen, müssen sie qualifiziert und die Arbeit muß so organisiert werden, daß auch ältere Arbeitnehmer nicht nur Erwerbschancen haben, sondern motiviert sind, diese auch zu nutzen. Nur dann kann der Drang nach vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbssystem begrenzt werden. (In diesem Zusammenhang wird sich künftig auch die Frage nach den Auswirkungen von Lebensarbeitszeitkonten stellen, das heißt, inwieweit Arbeitszeitguthaben für eine vorgezogene Verrentung eingesetzt werden oder für andere Vorhaben, z.B. im Bereich Qualifizierung. Noch ist dies aber lange kein Massenphänomen, aber ein Zukunftsfeld für die Tarifpolitik.)  Demzufolge muß über zeitgemäße, auf ältere Arbeitnehmer zugeschnittene Personaleinsatzkonzepte und Personalentwicklungsmaßnahmen mehr diskutiert werden.

Weitere politische Überlegungen, das Sozialversicherungssystem zu sanieren, zielen auf eine Versicherungspflicht für alle Erwerbstätigen ab.  (Eine erwerbstätigenorientierte soziale Sicherung wirft natürlich auch das Problem auf, daß damit von den heutigen Beitragszahlern wieder neue Ansprüche erworben werden, die später finanziert werden müssen.) Dieser Ansatz hat gegenüber weiterführenden Vorstellungen zu einer Mindestversicherungspflicht der Nichterwerbstätigen zunächst Priorität. (Eine eigenständige Alterssicherung von (Hausfrauen oder -männern) muß natürlich auch finanziert werden. Andererseits könnten die zurückgehenden Kosten im Rahmen der Hinterbliebenenversorgung dieses zusätzliche Finanzvolumen teilweise kompensieren.)  Im politischen Visier stehen dabei nicht diejenigen Selbständigen, die durch berufständische Versorgungswerke gut abgesichert sind, sondern vielmehr die Gruppe von Selbständigen, die das künftige Armutspotential im Alter bilden könnten. Besonders junge, selbständige Existenzgründer verschieben die Frage der Alterssicherung auf eine ferne Zukunft und werden später unangenehm überrascht, wie schnell sie sich auf diese Zukunft zubewegt haben. In Deutschland existieren aber noch typische Auffassungen von Selbständigkeit, die sich nicht mit einer verbindlichen Alterssicherung vertragen. Sie müssen durch Aufklärungsarbeit überwunden werden.

Noch steht dies nicht auf der Agenda der Bundesregierung. Politik darf nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Zunächst ist die Frage zu klären, wie eine ergänzende kapitalgedeckte Altersabsicherung aufgebaut werden kann, die auch eine gezielte Förderung von unteren Einkommenssegmenten beinhaltet. Diejenigen, die weniger verdienen, können aber nicht einfach nahtlos in ein System kapitalgedeckter Eigenvorsorge integriert werden. Sie dürfen aber auch nicht an den gesellschaftlichen Rand gedrängt werden. Dieses Ziel gilt es vorrangig zu berücksichtigen.

Nicht zu übersehen ist dabei ferner, daß die betriebliche Altersversorgung auch geschlechtsspezifisch zu fördern ist, denn erwerbstätige Frauen (in Westdeutschland) verfügen nur zu etwa 13% über eine betriebliche Altersversorgung.

Politisch gewollt ist auch der Einstieg in eine nachgelagerte Besteuerung. Sie kann angesichts des Staatshaushalts aber nicht in einem großen Wurf umgesetzt werden.

Die Politik hat durchaus Bündnispartner bei den Gewerkschaften und den Arbeitgebern, um die genannten Vorstellungen umzusetzen. Trotz der Krisenszenarien ist daher ein - vorsichtiger - Optimismus durchaus angebracht, die Zukunft des Sozialstaats und der sozialen Sicherungssysteme meistern zu können.

3. Neue Formen der Arbeit und Arbeitsrecht

Die Welt der neuen Arbeitsformen hat zwei gegensätzliche Pole. Den einen bilden die neuen Formen individualisierter, hochflexibler Arbeit, den anderen die sogenannten prekären Arbeitsverhältnisse. In der Mitte behaupten sich dagegen noch die Arbeitsformen der "Old Economy". Darauf muß das Arbeitsrecht, die Betriebsverfassung reagieren. Arbeitsrechtliche Regulierungen greifen zum Teil nicht mehr. Daher stellt sich die Frage nach der Erosionswucht, die das Arbeitsrecht getroffen hat, und nach ihren Konsequenzen in den USA und in Deutschland.

3.1 Hochmoderne Arbeitsformen, Stillstand im amerikanischen Arbeitsrecht und alternative Konfliktlösungsmechanismen

Ein historischer Rückblick zeigt, wie sich Wirtschaft, Erwerbstätigenpotential und damit schließlich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahrzehnten in den USA veränderten. Der Startpunkt ist wiederum der "New Deal" der 30er Jahre. Im Zeitraffer ergibt sich folgendes Bild.

Nach dem New Deal bis Anfang der 60er Jahre

Der Grundstock bzw. die wichtigsten Grundprinzipien des amerikanischen Arbeitsrechts und Arbeitsschutzrechts wurden etwa im Zeitraum von 1935 bis 1963 entwickelt. Das beinhaltet im einzelnen:
 

Kennzeichnend für die Zeit ist ferner, daß die Arbeitnehmer vor allem in der Fertigung, im Verkehrswesen und im Bergbau beschäftigt waren. Diese „Blue Collar Workforce„ bestand überwiegend aus angelernten Arbeitern. Der internationale Handel war noch begrenzt und der amerikanische Anteil betrug zirka ein Drittel der Weltproduktion.

Die amerikanischen Gewerkschaften befanden sich auf ihrem Höhenflug: 1954 erreichte der gewerkschaftliche Organisationsgrad seinen historischen Höchststand (mit 35 %), der nie wieder erreicht werden sollte. Im Gegenteil: Der Organisationsgrad sank danach stetig ab.

60er und 70er Jahre

Die sechziger und siebziger Jahre markieren einen weiteren historischen Einschnitt. Das politische Klima driftete in den sechziger Jahren mit der Wahl von Präsident Kennedy und später Johnson nach links. Dieser politische Richtungswandel stärkte die Rechte des Einzelnen gegenüber den Kollektivrechten. Das 1964 verabschiedete "Civil Rights Act" beinhaltet z.B. ein Diskriminierungsverbot. Jede Diskriminierung eines Individuums aufgrund Rasse, Farbe, Religion, Geschlecht oder Nationalität sollte damit verhindert werden. (Ein Schwerbehindertengesetz wurde allerdings erst 1990 eingeführt.)  Zugleich entstanden neue soziale Bewegungen. Die Bürgerrechtsbewegung forderte das Establishment heraus, auch die Frauenbewegung erschütterte die etablierte Ordnung und der Vietnam-Krieg begründete die Anti-Kriegsbewegung. (In gewissen Maße basieren die politischen und kulturellen Auseinandersetzungen, die gegenwärtig geführt werden, auf diesen Bewegungen. Die heutige Gegenreaktion richtet sich gegen die Liberalisierung der Gesellschaft, die in den sechziger Jahren eingeleitet wurde.)

Hinzu kam die beginnende Globalisierung, der Höhepunkt des kalten Krieges und das angehende Computerzeitalter. Die Computerisierung von Produktion und Verwaltung leitete zugleich eine Differenzierung des Arbeitskräftepotentials ein. Zugleich stieg die Frauenerwerbstätigkeit und die geburtenstarken Jahrgänge betraten den Arbeitsmarkt. Die bürokratische Personalverwaltung veränderte sich mit einem neuen Human Ressource Management zu einem modernen Personalmanagement.

80er und 90er Jahre

Die nächste Zäsur bilden die 80er und 90er Jahre. Ein politischer Rechtsruck ging mit der Wahl von Präsident Reagan durch die USA. In der sogenannten "Reagan Revolution" wurde der Versuch unternommen, viele Innovationen aus den 60er Jahren rückgängig zu machen. Gleichzeitig nahmen die Widerstände der Arbeitgeber gegen die Gewerkschaften zu. (Im Jahre 1981 erreichte diese Entwicklung ihren Kulminationspunkt mit der Entlassung von streikenden Fluglotsen durch Präsident Reagan.)  Die Gewerkschaftsbewegung wurde erheblich geschwächt und der gewerkschaftliche Organisationsgrad sank. Derzeit liegt der durchschnittliche Organisationsgrad nur noch bei 12%, im gewerblichen Sektor sogar nur bei ca. 9%. Im öffentlichen Sektor sind dagegen 37% der öffentlich Bediensteten organisiert. Im Schnitt sind aber fast 90% der Arbeitnehmer unorganisiert.

In den 80er und 90er Jahren unternahm das Management enorme Anstrengungen, die Flexibilität der Unternehmen durch technisch-organisatorische Umstrukturierungsmaßnahmen zu steigern, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Arbeitszeiten sind im Zuge dieser Wettbewerbsorientierung angestiegen und in den USA hat inzwischen der Begriff des "überarbeiteten Amerikaners" Karriere gemacht. (OECD Statistiken zur Jahresarbeitszeit belegen, wie in den USA zwischen 1980 und 1997 die Jahresarbeitszeit deutlich angestiegen ist und bei ca. 1800 Stunden liegt. In Deutschland ist sie dagegen gesunken und liegt bei ca. 1500 Stunden.)

Dieser Zeitraum markiert auch die nächste Veränderungsstufe in der Sozialstruktur der Erwerbsbevölkerung. Der demographische Aufbau der Bevölkerung leitete die allmähliche Überalterung der erwerbsfähigen Personen ein. Zugleich bewegt sich die Frauenerwerbstätigkeit in den USA heute auf einem sehr hohen Niveau, das in den europäischen Ländern nur von der schwedischen Rate übertroffen wird, in Deutschland aber z.B. erheblich geringer liegt.

Inzwischen ist auch das Internetzeitalter herangebrochen. Besonders fortgeschritten ist die Nutzung in den USA. (1998 verfügten bereits 26% der Amerikaner über einen Internetzugang, in den OECD Ländern (ohne die USA) nur 7%.)  Ein Ausdruck des technischen Wandels sind vor allem aber die Beschäftigungsraten in der High-Tech Industrie. Dort waren 1996 über 1,2 Millionen Menschen beschäftigt. Inzwischen arbeiten mehr Menschen in der amerikanischen Computerindustrie als in der Automobilindustrie. Früher war die Automobilindustrie eine bedeutende Schlüsselindustrie, jetzt verliert sie gegenüber der neuen High-Tech Industrie immer mehr an Boden.

Das Arbeitskräftepotential hat sich von den un- und angelernten Arbeitskräften der fünfziger Jahre in Richtung hochqualifizierter Arbeitnehmer entwickelt, die in der High-Tech Industrie beschäftigt sind. Dem steht aber eine defizitäre amerikanische Bildungspolitik gegenüber, d.h. es wird angesichts der Veränderungen am Arbeitsmarkt zuwenig in die Bildung und Ausbildung investiert, um den Bedarf der Industrie an solchen hochqualifizierten Arbeitnehmern stillen zu können.

Der wirtschaftsstrukturelle Wandel bleibt auch für die Arbeitsorganisation nicht ohne Folgen. Moderne Arbeit wird in vielen Produktionsstätten in Hochleistungsarbeitssystemen reorganisiert. Teamarbeit ist modern geworden und jeder amerikanische Manager, der etwas auf sich hält, setzt auf diese Arbeitsform. Die Begeisterung für solche Arbeitssysteme hält bei vielen amerikanischen Managern an. Hochleistungsarbeitssysteme implizieren aber noch mehr als nur Teamarbeit:
 

In den USA ist nun seit langem eine steigende Anzahl von Gerichtsstreitigkeiten zu verzeichnen, angefangen in den 60er Jahren im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung bis zum heutigen Tag. Eine Vielzahl von Gerichtsverfahren beinhaltet Konflikte zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Dahinter verbirgt sich auch das Problem, daß das amerikanische Arbeitsrecht, das seine Wurzeln in den 30er Jahren hat, als antiquiert und überholt bewertet wird. Es hat die geschilderten Veränderungen der letzten 65 Jahre fast unbeschadet überlebt. Alle Reformversuche sind fehlgeschlagen und Arbeitgeber, Gewerkschaften und politische Akteure finden keinen Reformkonsens, der Bewegung in die Gesetzgebung brächte. Dies ist auch ein Ergebnis der verschiedenen Positionen innerhalb der amerikanischen Politik, die sich offenbar nicht vereinbaren lassen. Das Weiße Haus und der amerikanische Kongreß werden von verschiedenen politischen Lagern dominiert und die politische Entscheidungsfindung ist auf diesem Politikfeld äußerst beeinträchtigt.

Eine besondere Entwicklung in den USA ist daher die steigende Bedeutung von alternativen Konfliktlösungsverfahren, den sogenannten ADR (Alternative Dispute Resolution), die zu einer stillen Revolution geführt haben. Mit alternativen, außergerichtlichen Schlichtungsverfahren werden zunehmend Arbeitskonflikte gelöst. Zu den ADR zählt instrumentell jede Form der Schlichtung von Konflikten durch dritte Personen. Statt Bundesarbeitsgericht oder Amtsgerichte in zeit- und kostenintensiven Verfahren zu konsultieren, schlichtet ein Mediator oder Berater die Auseinandersetzung. In den USA nutzen immer mehr Arbeitgeber diese Konfliktlösungsform, um Interessenkonflikte mit Arbeitnehmern oder Gewerkschaften zu lösen.

Die instrumentelle Bandbreite der Formen, die die ADR annehmen können, ist vielfältig: Vermittlung, Schiedssprüche durch Dritte, Sichtung von Konfliktursachen, Einschaltung von Ombudspersonen etc. gehören allesamt unter diesen Oberbegriff und werden mit unterschiedlicher Intensität in Abhängigkeit vom zu lösenden Konflikt genutzt. Das am häufigsten angewandte Verfahren in den Unternehmen ist die Einschaltung eines Mediators oder Arbitrators. Solche alternativen Verfahrensweisen können den Stillstand im amerikanischen Arbeitsrecht auf Dauer natürlich nicht lösen.

3.2 Deutsches Arbeitsrecht und Betriebsverfassung unter Anpassungsdruck

Eine Mediationsbewegung wie in den USA widerspräche der deutschen betrieblichen Realität. Hierzulande lösen die Betriebsräte auftretende Konflikte weitgehend. Vergleichbare Konfliktlösungsverfahren sind damit im Prinzip schon immer ein Bestandteil der deutschen Arbeitsbeziehungen bzw. Betriebsverfassung gewesen.

In Deutschland wird zum Teil eine ganz andere Problemstellung aufgeworfen. Weit verbreitet ist die Vorstellung, daß die höhere Beschäftigung und die geringere Arbeitslosigkeit in den USA auch damit zu tun haben, daß dort arbeitsrechtlich weniger reguliert wird, was umgekehrt zu der Annahme führt, daß in Deutschland das Arbeitsrecht und seine Regulierungen eine wesentliche Ursache für die deutsche Beschäftigungsschwäche sind. (In Deutschland sind im Vergleich zur USA auch die geringere Frauenerwerbstätigkeitsquote und die kürzeren Arbeitszeiten auffällig. Beide Phänomene sind nicht nur, aber auch auf den geringeren Beschäftigungsgrad zurückzuführen. Von einem schwachen Beschäftigungsgrad sind besonders diejenigen betroffen, die den Arbeitsmarkt neu betreten. Die gewerkschaftliche Arbeitszeitverkürzungspolitik ist eine Reaktion auf den geringen Beschäftigungsgrad. Ursache und Folgen müssen zum Verständnis der deutschen Situation stets auseinandergehalten werden.)  Betrachtet man aber den Anstieg der gerichtlichen und privatrechtlichen Auseinandersetzungen in den USA und die Diskussion über ADR, muß dieses verklärte Bild eines arbeitsrechtsstreitigkeitenfreien Amerikas, das keiner Regulierung bedarf, erstmal korrigiert werden (vgl. Kapitel 3.1).

Wieviel Arbeitsrecht aber braucht Deutschland: mehr oder weniger? Die Frage muß eigentlich anders lauten. Wenn das Arbeitsrecht auf die neuen Phänomene in Industrie und Arbeitswelt angemessen reagieren soll, dann geht es nämlich nicht um mehr oder weniger, sondern um ein anderes, neues Arbeitsrecht.

Der Gesetzgeber reagiert auf den Wandel bereits mit dem Vorhaben, die Betriebsverfassung zu reformieren. Neue Betriebsformen oder gar die Auflösung des klassischen Betriebsbegriffs geben den Anstoß zu diesem Modernisierungsvorhaben. Die traditionelle deutsche Betriebsverfassung ist auf Großunternehmen zugeschnitten und nicht auf neue Unternehmensformen wie z.B. die kleineren "Start-Up" Betriebe. Dort wird eine angepaßte Betriebsverfassung benötigt. Der Kerngedanke der Reformbewegung besteht deshalb darin, größere Freiräume in der Ausgestaltung der Betriebsverfassung zu schaffen. Das erklärte Reformziel ist eine erhöhte Flexibilität, die den neuen Betriebsrealitäten und den sich verändernden Formen der industriellen Zusammenarbeit besser entspricht. (Wenn man heute von virtuellen Unternehmen spricht, wäre z.B. auch über die Erfolgsaussichten von virtuellen Betriebsräten nachzudenken.)

Solche gesetzlichen Anpassungen sind allerdings niemals einfache Unterfangen. Auch die gesetzgeberischen Versuche, die Sozialversicherung auszuweiten bzw. den sozialversicherungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff an den gesellschaftlichen Wandel anzupassen, sind ein Beispiel für dieses äußerst schwierige Vorhaben. Im Allgemeinen kann festgestellt werden: Die gegenwärtige Diskussion knüpft noch zu stark an die alten Formen und Strukturen an. Alle politischen Initiativen versuchen, diese über die neuen Phänomene in nur leicht abgewandelter Form überzustülpen. Dieses Vorhaben könnte mißlingen. Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet möglicherweise der Begriff der arbeitnehmerähnlichen Person, der ein Terminus sein könnte, um die neuen Phänomene zielgenauer zu erfassen und politisch zu operationalisieren, ob im Arbeitsrecht oder im Sozialversicherungsrecht.

Hinter den gesetzgeberischen Schwierigkeiten verbirgt sich aber noch etwas anderes. Zunächst sollten die Tarif- und Betriebsparteien adäquat auf den Wandel reagieren. Vorher werden die staatlichen Konzepte und Maßnahmen kaum richtig greifen können. Erst das, was sich lebendig aus den Betrieben und Unternehmen heraus entwickelt und konkretisiert, wird für staatliches Handeln greifbarer und kann zum Gegenstand gesetzgeberischer Aktivitäten werden.

Wenn dies aber eine wesentliche Voraussetzung ist, muß beobachtet werden, wie die Tarifparteien bisher auf die Wandlungen in der Arbeitswelt reagiert haben. Ihre tarifpolitischen Reaktionsweisen lassen sich an den Gestaltungselementen Arbeitsort und Arbeitszeit in geeigneter Weise veranschaulichen:
 

Die Tarifpolitik setzt also bereits neue Zeichen. Rechtliche Rahmenbedingungen sollten diese Innovationen nicht behindern, sondern fördern. Die gesetzgeberischen Initiativen müssen daher eine subsidiäre Rolle spielen und durch die Eröffnung dezentraler Regelungsspielräume und durch prozeßbezogene Rechte situationsangepaßte betriebliche und tarifvertragliche Lösungen begünstigen. Das ist die Zukunftsaufgabe der deutschen arbeitsrechtlichen Regulierung.

3.3 Die Standpunkte der Sozialpartner

Mit den neuen Regulierungsproblemen sind Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politik angesprochen. Nur in einem Netzwerk und einem Wechselspiel zwischen den Akteuren wird es gelingen, angemessen auf den Wandel in der Arbeitswelt zu reagieren. Daher müssen wiederum ihre Positionen ausgelotet werden, die die Basis für dieses Modernisierungsnetzwerk bilden.

Gewerkschaften

"Old Economy" und "New Economy" sind zwei verschiedene betriebliche Welten, in denen sich Betriebsräte und Gewerkschafter heute bewegen. Sie sind auf einer Orientierungssuche, in der sie ihre neuen Rollen erst noch finden müssen. In der "Old Economy" treffen sie auf traditionelle Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen und damit auch traditionelle Arbeitsschutzsituationen. Dort müssen Arbeitsbelastungen und Arbeitszeiten mit traditionellen Instrumenten reguliert werden. In der "New Economy" dagegen setzen die Beschäftigten ihre Interessen unter flachen Hierarchien individuell oder im Rahmen (teil-) autonomer Arbeitsteams durch. (Wahrscheinlich steht auch eine Renaissance der Arbeitswissenschaften in der "New Economy" bevor, da Fragen von physischen Belastungen in den Hintergrund treten und eine neue Monotonie mit psychosomatischen Risiken in den Vordergrund rückt. Auf diesem Feld müssen arbeitnehmerorientierte Wissenschaftler, Gewerkschafter und Betriebsräte eng zusammenarbeiten.)  Dort ist die traditionelle Interessenvertretung einem starkem Wandel in ihrem Rollenverständnis ausgesetzt, teilweise wird sie sogar in Frage gestellt. Weitgehende Visionen über neue Interessenvertretungsformen beschreiben sogar ein neues Layout virtueller Interessenvertretungen, in denen Netzbetriebsräte aus kleineren Unternehmen der High-Tech Industrie Erfahrungen über das Internet austauschen.

Wie auch immer sich diese Zukunft der Interessenvertretungspolitik gestaltet: Die Gewerkschaften müssen nicht in eine Krise geraten, wenn sie sich den neuen Herausforderungen stellen. Die Gewerkschaften werden sich darauf einstellen müssen, daß es andere Formen der Interessenvertretung mit anderen Inhalten geben wird, die auch andere Interessenkonflikte lösen. (In Arbeitszeitfragen könnten z.B. künftig zunehmend Konfliktzonen und Spannungsverhältnisse zwischen der vom Management erwarteten (Mindest-) Verfügbarkeit auf der einen Seite und den zeitsouveränen Dispositionswünschen der Beschäftigten auf der anderen Seite auftreten.)  Sie müssen für diese Entwicklungsprozesse offen sein, um ihre Bestandsgrundlagen nicht zu riskieren, sondern könnten im Gegenteil neue Mitgliederströme erschließen, die den gewerkschaftlichen Organisationsgrad steigern.

Das amerikanische Gewerkschaftsszenario kann in Deutschland verhindert werden. Eine wesentliche Perspektive könnte wie folgt beschrieben werden: Gewerkschafter wie Personal- und Betriebsräte werden zunehmend die Rolle eines Coach bzw. Beraters für einzelne Beschäftigte bzw. Beschäftigtengruppen übernehmen müssen. Der Wunsch der Beschäftigten selbst, abseits von Arbeitskämpfen, von den Gewerkschaften solche neuen Dienstleistungen zu erhalten, wird zunehmen. Die Kompetenz der Gewerkschaften in allen Fragen der Arbeit muß daher stärker als ein Angebot an die Beschäftigten herausgestellt werden. Neben der klassischen Schutzfunktion, die keineswegs hinfällig geworden ist, muß die neue Stärke der Gewerkschaften darin liegen, differenzierte Antworten auf differenzierte Arbeitsbedingungen zu geben. Mit dieser Neudefinition ihrer Gestaltungsfunktion wird man sich vielleicht nicht allzu viel Sorgen über die Zukunft der deutschen Gewerkschaften machen müssen.

Arbeitgeber

Die Unterschiede zwischen den amerikanischen und deutschen Arbeitsbeziehungen sind auffallend. Manager wie Betriebsräte, z.B. aus Tochterunternehmen amerikanischer Großkonzerne wie die Ford-Werke AG, müssen fast schon einen Spagat im täglichen transnationalen Dialog bewältigen. (Die deutschen industriellen Beziehungen werden dort mit Verwunderung registriert. Sie entsprechen nicht der Ethik des amerikanischen Managements, das im Prinzip jegliche Einmischung "von außen" durch die Gewerkschaften ablehnt.)  In diesem Dialog muß die deutsche Mitbestimmung permanent legitimiert werden, die Situation gleicht etwas derjenigen von Asterix und Obelix, die ihre gallische Dorfkultur gegen Rom verteidigen. Denkt man aber an die fast schon hektische Suche nach alternativen Schlichtungsverfahren in den USA, steht das deutsche System der Mitbestimmung bereits schon in einem ganz anderen Lichte dar.

Die deutsche Mitbestimmungs-, Tarifvertrags- und betriebliche Kooperationskultur löst Konflikte nämlich durch offene Information und Kommunikation frühzeitig, d.h. bevor sich die Fronten endgültig verhärtet haben. (Trotzdem sind damit formelle Konfliktlösungsverfahren nicht obsolet, denn sie werden für die "Worst Case" Situationen gebraucht, die immer auftreten können.)   Die deutsche Betriebsverfassung beinhaltet auch gesetzliche Konfliktlösungsverfahren, wie das Einigungsstellenverfahren und ergänzende Beschwerdemöglichkeiten. Diese formellen Verfahren werden in der Praxis aber wenig angewandt. Dabei spielt auch eine Rolle, daß das Einigungsstellenverfahren im Einzelfall ein eher langsamer, schwerfälliger Konfliktschlichtungsmodus ist und daher wenig Neigung besteht, allzu viel Energien darin zu investieren.

Auch das Gegenargument, das auf dem internationalen Parkett gegen die deutsche Mitbestimmung häufig ins Feld geführt wird, nämlich der "Preis", den die deutschen Unternehmen dafür bezahlen, kann weitgehend entkräftet werden. In den Ford-Werken wird die Belegschaft beispielsweise auf der Grundlage von Betriebsvereinbarungen mit dem Gesamtbetriebsrat an zukünftigen Investitionen beteiligt. Diese Beteiligung wird aus dem übertariflichen Entgeltbestandteil finanziert und hat bereits zu erheblichen Einsparungen geführt. Im Gegenzug hat das Unternehmen Investitionen in allen deutschen Werken zugesagt.

Die zurückhaltende, den gegenwärtigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen angepaßte Tarifpolitik ist ein weiteres Anzeichen für die Funktionsweise der industriellen Beziehungen in der Bundesrepublik. Das Ergebnis der letzten Tarifrunden bei Ford wurde bei der amerikanischen Konzernmutter durchaus mit Anerkennung vermerkt. Das heißt: Die Tarifpolitik kann die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Werke auch innerhalb eines transnationalen Konzerns verbessern.

Die deutsche Mitbestimmungskultur verhindert auch nicht, daß Unternehmen innovative Wege beschreiten, um den Flexibilitätsanforderungen des internationalen Wettbewerb gewachsen zu sein und ihre Belegschaftsstrukturen dem ökonomischen und technologischen Wandel anzupassen. Neue Regelungen über Altersteilzeit und Langzeitkonten sind Beispiele und Indizien für die Gestaltungseffizienz der deutschen industriellen Beziehungen.

Die deutschen Sozialpartner werden auch für neue Arbeitsformen immer offener. Trotz anfänglicher Widerstände der Arbeitnehmerseite wird z.B. die Telearbeit auch in deutschen Unternehmen immer mehr umgesetzt, obwohl mit den Regelungen zur Telearbeit hierzulande noch weitgehend Neuland betreten wird. Solche neuen Arbeitsformen kommen im Prinzip einer Veränderung der betrieblichen Sozialverfassung gleich und Manager, Vorgesetzte und Betriebsräte müssen ein neues Rollen-, Führungs- und Interessenvertretungsverständnis herausbilden. Auf der Grundlage der deutschen betrieblichen Arbeitsbeziehungen bestehen dafür aber recht gute Aussichten.

Mit der Reform darf die Betriebsverfassung nicht bürokratisiert, sondern sie muß noch mehr flexibilisiert werden. Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes sollte daher den Betriebsrat stärken, um betriebsnahe Regelungen zugunsten von Belegschaft und Unternehmen zu fördern. Das schließt eine Erweiterung der betrieblichen Vertragsfreiheit ein.

Die Tarifpolitik und das Co-Management der Betriebsräte kann sich insgesamt gesehen international also durchaus sehen lassen. Die spannende Frage der Zukunft wird allerdings sein, wie sich der Grundgedanke der deutschen Mitbestimmung auf seiner globalen Reise verändern wird.

Politik

Wie kann die Politik neue Antworten finden? Nicht nur globale Trends beeinflussen die deutsche Politik, sondern Politik wird auch in ihrem regionalen Umfeld nicht in einem Vakuum betrieben. In der Vergangenheit wurden politische Strategien von zwei Umständen beeinflußt: der deutschen Vereinigung und den Sachzwängen der Europäischen Union. Dies hat durchaus Konsequenzen, wie sich am Beispiel der Frauenerwerbstätigkeit aufzeigen läßt.

Die Frauenerwerbstätigkeitsquote weist wie aufgezeigt im Vergleich zu den USA einen Rückstand auf. Die Ursachen sind aber nicht auf falsche gesellschaftspolitische Weichenstellungen zurückzuführen. In Ostdeutschland lag die Erwerbsbeteiligung von Frauen vor der Vereinigung ausgesprochen hoch. Nach der Vereinigung sind aber fast 4 Millionen Arbeitsplätze weggebrochen, insbesondere zu Lasten der Frauen, die besonders in Ostdeutschland aufgrund ihrer speziellen Sozialisation eine hohe Erwerbsorientierung aufweisen. In Westdeutschland steigt die Erwerbsbeteiligung der Frauen dagegen inzwischen langsam an. Beides deutet darauf hin, daß in dem Moment, in dem sich die wirtschaftliche Lage verbessert, in Deutschland eine vergleichbar hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen zu erwarten ist wie in den USA. Sie wird die Beschäftigungsquote insgesamt erhöhen und damit auch zur Finanzierbarkeit des Sozialversicherungssystems ihren eigenen Beitrag leisten.

In einem anderen Kontext hat die Politik bereits reagiert. Angesprochen ist das Thema geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, die lange Zeit sozialversicherungsfrei gestellt waren. Dieses Beschäftigungsvolumen wurde von Experten zeitweilig unterschätzt und in Beschäftigungsstatistiken der Vergangenheit manchmal nur mit einer Million ausgewiesen. Diese Zahlen mußten nach der veränderten Rechtsgrundlage weit nach oben korrigiert werden. Tatsächlich liegt das Volumen bei etwa vier Millionen. Damit liegt auch die gesamte Anzahl der Erwerbstätigen in Deutschland höher als angenommen.

In Deutschland braucht die Suche nach neuen Lösungen auf neue Herausforderungen aber durchaus Zeit, manchmal mehr Zeit als anderswo. Dies liegt auch an der kooperatistischen deutschen Kultur und damit an der Art und Weise, wie bestimmte gesellschaftliche Probleme gemeinschaftlich gelöst werden. Diese Tradition hat Vorteile, wie auch Nachteile. Der Erfolg der sozialökonomischen Bewältigung des Vereinigungsprozesses war ein Ergebnis einer so verfaßten Kultur und damit ihr Vorteil. Dagegen werden aber auch Entwicklungen manchmal zu spät antizipiert bzw. mit zuviel Rückstand aufgearbeitet. Die seit langem absehbare altersstrukturelle Entwicklung ist ein Beispiel dafür. Deutsche Unternehmen berichten - mit Stolz - über ihre verjüngten Belegschaftstrukturen mit einem Durchschnittsalter bei den gewerblichen Arbeitnehmern von 32 oder 33 Jahren. Binnen 10 bis 15 Jahren wird diese Sozialstruktur kippen, aber noch wird darauf kaum reagiert, wohl aber darüber diskutiert.

Auch über die Themen wie die wissensbasierte Gesellschaft und kurze Halbwertzeiten neuer Technologien wird schon lange gesprochen, aber ebenfalls nicht schnell genug reagiert. Auf dem Gebiet der Qualifizierung ist die kontroverse Debatte über die "Green Card" lediglich ein Symbol für diesen Trend.

Neue Antworten versucht die Politik derzeit auch im Bereich der Altersversorgung zu finden. Auch auf diesem politischen Gestaltungsfeld wird nach einem tragfähigen Konsens gesucht, trotz aller Schwierigkeiten in den Rentengesprächen zwischen Politik, Sozialpartnern und wissenschaftlichen Experten. Das Ziel ist aber, in einer gestaltungsorientierten Form der Zusammenarbeit eine bestmögliche, aber konsensfähige Lösung zu entwickeln - auch wenn dieses Verfahren mehr Zeit in Anspruch nimmt.

Das heißt: In unterschiedlichen politischen Kulturen werden veränderte Rahmenbedingungen auch mit unterschiedlichen Methoden und Verfahrensweisen beantwortet. Die politische Praxis könnte hierzulande sicherlich effektiver sein, denn die Gesetzgebung läuft zeitweilig mit einem Time-Lag den veränderten Rahmenbedingungen hinterher. Dies trifft dann auch das Arbeitsrecht bzw. die notwendige Reform der Betriebsverfassung. Trotzdem ist der kooperatistische deutsche Dialog durchaus ein langfristig orientierter und auch ein belastbarer, der nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf.

4. Die Zukunft der Arbeitsbeziehungen

Die Entwicklungen in den USA und in Deutschland sind pfadabhängig. Geschichte und Traditionen spielen eine maßgebliche Rolle. Im jeweiligen Gesellschaftssystem geht es demnach um die Balance zwischen dieser Pfadabhängigkeit und den Erneuerungschancen.

Meistens wird das US-amerikanische dem europäischen Modell der industriellen Beziehungen und betrieblichen Arbeitsbeziehungen konfrontativ gegenübergestellt, das heißt die beiden nationalen Pfade werden als gegenläufig bewertet. Ob diese Vereinfachung tragfähig ist, soll im folgenden geprüft werden. Es geht dabei also auch um die Rolle der Gewerkschaften und betrieblichen Interessenvertretungen im Rahmen einer neuen, aber anderen Unternehmenskultur unter neuen sozialstrukturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen.

4.1 Die USA als Vorreiter einer Differenzierung von Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen

Trotz aller Pfadabhängigkeit nationaler Entwicklungen in den USA und in Deutschland werden auch globale Wandlungsprozesse wirksam. Es gilt daher zunächst, sie auch begrifflich besser zu erfassen. "Konvergenz" und "Divergenz" bilden in diesem Zusammenhang die Pole eines theoretischen Analyserasters, das im Prinzip die Entwicklungen in den Industrienationen etwa seit Anfang der 80er Jahre zutreffend klassifiziert.

Divergenz ist gleichzusetzen mit wachsender Vielfalt. Dies macht den ersten Kristallisationspunkt der Trendextrapolation aus. Forschungsergebnisse aus einem "Sieben-Länder-Vergleich" belegen nun, daß unterschiedliche Arbeitsbeziehungen zu verschiedenen Mustern des betrieblichen Arbeitskrafteinsatzes führen.

Ein erster Erklärungsfaktor dafür ist, daß die Macht und der Einfluß von Gewerkschaften aufgrund der sinkenden Mitgliederzahl in allen sieben Ländern abnimmt. Gewerkschaftlich nichtorganisierte Bereiche nehmen in den Betrieben und Unternehmen zu. Dort, wo die Arbeitnehmer nicht organisiert sind, unterscheiden sich die Arbeitseinsatzpraktiken von denen der organisierten Bereiche. Aber auch innerhalb der gewerkschaftlich organisierten und nichtorganisierten Bereiche steigt die Variationsbreite in allen untersuchten Ländern. Wie ist dies zu erklären?

Die Formen der betrieblichen Arbeitsbeziehungen lassen sich zunächst in einer vereinfachenden Polarisierung einordnen. Auf der einen Seite führen eher beteiligungsorientierte Muster betrieblicher Arbeitsbeziehungen zu einer vergleichsweise hohen Beteiligung und Einflußnahme von Gewerkschaften und Beschäftigten im Rahmen der betrieblichen Entscheidungsfindung. In allen untersuchten Ländern findet man aber simultan dazu traditionelle, distanzierte Arbeitsbeziehungen zwischen Beschäftigten, Managern und Gewerkschaftern, die äußerst konfliktorisch sein können. Auch in den nichtorganisierten Sektoren existieren diese Muster von Arbeitsbeziehungen zwischen den Akteuren, dort eben nur unter Ausschluß von Gewerkschaften.

Der Variationsspielraum ist also auch abhängig von den Konzepten betrieblicher Personalpolitik, vom Human Ressource Management in den Unternehmen. Personalpraktiken, die die Beschäftigten mehr individualisieren, wenn z.B. Arbeitsbedingungen (Arbeitsanforderungen, -zeit, -gestaltung und -entgelt etc.) individuell ausgehandelt werden können, tragen zur Ausdifferenzierung von betrieblichen Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen bei. Auch unterschiedliche Modelle der finanziellen Mitarbeiterbeteiligung (Gewinn- und Aktienbeteiligung), die von der Performanz der Unternehmen abhängen, differenzieren die Erwerbstätigen genauso wie sich die Einkommenschancen von Beschäftigten in den Niedriglohnsektoren, die in den USA ein besonderes Problem darstellen, von hochbezahlten Arbeitskräften aus anderen Sektoren unterscheiden. Die Heterogenität der Belegschaften steigt infolgedessen, in den Unternehmen und erst recht zwischen ihnen.

Daher stellt sich die Frage, ob sich diese Variationsbreite von Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen systematisieren läßt oder ob die Entwicklung schon derart unübersichtlich ist, daß sie einem Blindflug gleichkommt. Den Forschungsergebnissen zufolge ist dies nicht der Fall. Formen von Human Ressource Management, Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen treten konzentriert, d.h. forschungstechnisch gesprochen in Clustern auf, und lassen sich daher auch kategorisieren.

Aus dieser Kategorisierung ergeben sich im Ergebnis vier Cluster:

(1) Das erste Cluster beinhaltet ein "Niedriglohnmuster". Die betriebliche Beschäftigungsstrategie, die dahinter steht, zielt einerseits auf niedrige Löhne und Gehälter und ist andererseits mit starker direkter Management- bzw. Vorgesetztenkontrolle vernetzt. Dazu gehören ferner instabile Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (häufiger Arbeitsplatzwechsel, Entlassungen). Das Niedriglohnmuster gewinnt zwar in allen 7 Ländern an Bedeutung, vor allem aber in den USA sowie in Schweden.

(2) Das zweite Cluster ist der "Human Ressource Management" Typus. Das zentrale Merkmal ist die direkte Kommunikation zwischen Arbeitgebern bzw. Managern und Arbeitnehmergruppen, und zwar ohne Einschaltung von Gewerkschaften bzw. betrieblichen Interessenvertretungen. Sämtliche Formen delegativer Partizipation fehlen in den Betrieben, die zu diesem Cluster gehören. Die Arbeitsbeziehungen zwischen Management und Beschäftigten sind individualisiert, personalisiert, was dort zu der besonderen Unternehmenskultur gerechnet wird.

(3) Das dritte Cluster ist das "japanorientierte Modell". Die Arbeitsbeziehungen ähneln sehr stark denjenigen großer japanischer Unternehmen. Die Vorgesetzten spielen im betrieblichen Kommunikations- und Entscheidungssystem eine herausragende Rolle. Sie nehmen eine starke Kontroll-, Überwachungs- und Steuerungsfunktion ein und sind gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt der Arbeitsbeziehungen.

(4) Das vierte Cluster beschreibt das "beteiligungsorientierte Modell". Es beinhaltet mehreres: eine starke Einbindung der Gewerkschaften, Mitbestimmung der betrieblichen Interessenvertreter und direkte Beschäftigtenbeteiligung durch Team- bzw. Gruppenarbeit, in der die Mitarbeiter zum Teil in Hochleistungsarbeitssystemen arbeiten (vgl. Kapitel 3.1). Die direkte und delegative Arbeitnehmerbeteiligung erhält in den betrieblichen Kommunikations- und Entscheidungsprozessen einen zentralen Stellenwert.

Alle vier Cluster bzw. Muster von Arbeitsbeziehungen sind in den untersuchten Ländern zu finden und ihre Geltungsbereiche nehmen in allen Ländern zu. Das macht die angesprochene Divergenz aus. Die Arbeitsbeziehungen werden nicht mehr nur durch eine charakteristische, länderspezifische Variante geprägt, sondern durch mehrere. Damit steigt die Variationsbreite der Arbeitsbeziehungen, d.h. die Homogenität weicht der Heterogenität und Differenzierung. Das bedeutet allerdings nicht, daß es keine länderspezifischen Konturen mehr gibt. Unstrittig unterscheiden sich die Arbeitsbeziehungen und Arbeitskrafteinsatzpraktiken in Deutschland von denjenigen in den USA. Entscheidend ist aber die Ähnlichkeit der Trends, also die zunehmende Variabilität. Damit ist als nächstes zugleich die "Konvergenz" angesprochen.

Internationale Konvergenz speist sich angesichts der vorangegangenen Analyse, d.h. auf der Grundlage der empirisch beobachtbaren Cluster, aus verschiedenen Quellen. Eine davon ist die Ähnlichkeit der Mechanismen, mit dem sich der Wandlungsprozeß vollzieht. Es gibt nämlich bestimmte Schlüsselmechanismen, die nicht nur die vorgestellte Modulation der Arbeitsbeziehungen produzieren, sondern vor allem auch das generelle Wachstum dieser Variation fördern.

Ein solcher Schlüsselmechanismus ist die Dezentralisierung der betrieblichen Organisationsstrukturen. Sie führt zu einer Ablösung zentraler Kollektivverhandlungen zugunsten fragmentierter, unternehmens- und betriebsspezifischer Vereinbarungen bzw. arbeitspolitischer Regelungen. Das heißt: Allerorts werden Kollektivverhandlungen zugunsten dezentraler Aushandlungsprozesse ersetzt.

Dieser Prozeß ist besonders in Ländern einschneidend, in denen, wie in Deutschland oder Schweden, bislang zentrale Kollektivverhandlungen die industriellen Beziehungen prägten. Man hat sich in Deutschland zwar noch keineswegs von branchenweiten Tarifverhandlungen verabschiedet. Aber die Diskussion über die Zukunft des Flächentarifvertrags und die steigende Bedeutung betrieblicher Verhandlungen ist nicht grundlos seit längerem in Gang gekommen (vgl. Kapitel 4.2). (Aber auch Australien hat ein zentralisiertes System, mit dem Löhne und Gehälter wie Arbeitsbedingungen ausgehandelt und geregelt werden. Dort existiert beispielsweise ein "Wage Tribunal System", eine Art Gehaltsgerichtssystem bzw. Schlichtungssystem für Entlohnungsregelungen, das ebenfalls erste Auflösungserscheinungen zeigt.)

Dies bleibt nicht folgenlos. Die Bedeutung der betrieblichen Verhandlungsarenen nimmt zu. Dies wertet die Rolle der betrieblichen Interessenvertretungen auf und/ oder erhöht den Stellenwert der direkten Kommunikation bzw. Aushandlung zwischen Management und Beschäftigten, je nachdem, welches der oben genannten Cluster auf den jeweiligen Betrieb zutrifft. Diese "individualisierte Kommunikation" kann sowohl in gewerkschaftlich organisierten wie nichtorganisierten Bereichen, sie kann mit oder ohne die betriebliche Interessenvertretung stattfinden. (Informelle, individualisierte Aushandlungen finden nicht in einem Interessenvakuum statt, sondern auftretende Interessenkonflikte erfordern neue Konfliktlösungsmechanismen. Vor diesem Hintergrund sind z.B. auch die amerikanischen Entwicklungen im Bereich ADR zu sehen (vgl. Kapitel 3.1).)

Vollzieht sich die Geschwindigkeit dieses Wandels überall in dem gleichen Tempo? Die Antwort auf diese Frage lautet nein. Im Gegenteil: In der Geschwindigkeit des Wandels unterscheiden sich die untersuchten Länder erheblich. Das Ausmaß, in dem sich diese Variationsbreite länderspezifisch durchsetzt, ergibt vereinfacht folgendes Bild: An erster Stelle steht die USA, gefolgt von Großbritannien, quasi in der Mitte liegen Italien und Schweden und die Schlußlichter bilden Japan und Deutschland. In Deutschland grenzen politische Institutionen und organisierte Interessen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, den Entwicklungsprozeß wesentlich mehr ein als in den USA.

Auch die Folgen der Entwicklung fallen vor diesem Hintergrund unterschiedlich aus.

In den USA grätschen die Beschäftigungsverhältnisse weitaus mehr auseinander als anderswo. Zugespitzt formuliert: In den USA reicht die Spannbreite von sozial unverträglichen Beschäftigungsverhältnissen bis hin zu fortschrittlichen, innovativen Mustern des Arbeitskrafteinsatzes, z.B. in den Hochleistungsarbeitssystemen (vgl. Kapitel 3.1). Eine weitere Folge ist die hohe Lohnspreizung bzw. amerikanische Einkommensungleichheit. Sie ist in den USA am größten, gefolgt von Großbritannien und - in Korrelation zum Ausmaß und eingeschränkten Tempo des Entwicklungsprozesses - zeigt Deutschland (und Japan) die geringste Einkommensspreizung bzw. -ungleichheit.

Zu fragen ist daher, welche politischen Implikationen diese Beobachtungen aufwerfen und was die neuen Herausforderungen für die Sozialpartner, die "stakeholder", die Betroffenen sind.

Die Gewerkschaften sind unzweifelhaft am meisten herausgefordert, denn sie spüren die Nachteile der Entwicklung am deutlichsten. Auf der betrieblichen Verhandlungsarena müssen sie zunehmend mehr Konzessionen an die Arbeitgeber machen. Dahinter verbirgt sich aber das entscheidende Problem, daß es keineswegs nur negative Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten gibt, sondern eine ganze Palette positiver Folgen. Den Gewerkschaften fällt es in der Konfrontation mit den neuen, progressiven Strategien des Human Ressource Managements daher zunehmend schwerer, ihre Rolle und Bedeutung als Interessenvertreter zu legitimieren und sich in den betrieblichen Arbeitsbeziehungen neu zu positionieren. Auch mit der direkten Arbeitnehmerbeteiligung können die betrieblichen Interessenvertretungen bzw. Gewerkschaften zusätzlich ins Abseits geraten. Diesem Risiko sind besonders die ohnehin sehr geschwächten amerikanischen Gewerkschaften mehr ausgesetzt als die deutschen.

Die Gewerkschaften werden also ihr Verständnis von Interessenvertretung überprüfen müssen, je mehr die fortschrittlichen Managementstrategien in den Betrieben und Unternehmen Einzug halten. Eine Antwort darauf könnte lauten: Die Gewerkschaften müssen sich mehr als Dienstleister begreifen, indem sie z.B. für die Beschäftigten, die eigenständig mit ihren Vorgesetzten Arbeitsbedingungen aushandeln, entsprechende Handlungsinformationen und -wissen bereitstellen oder Fortbildungsprogramme entwickeln. Auch sollten die Gewerkschaften die direkte Arbeitnehmerbeteiligung schützen, in dem sie mit einem Partizipationscontrolling nachhalten, ob die Ergebnisse der direkten Arbeitnehmerbeteiligung tatsächlich den Beschäftigten zugute kommen oder einseitig vom Management genutzt werden. Im letzten Falle würde es sich lediglich um eine Scheinpartizipation der Mitarbeiter im Arbeitgeberinteresse handeln.

Noch profitieren die Unternehmen von der zunehmenden Vielfalt der Muster von Arbeitsbeziehungen und Arbeitsbedingungen, denn sie garantieren ihnen größere Flexibilität. Es gibt aber auch die aufgezeigten negativen Folgen. Die Arbeitgeber sind daher gefordert, die Abwärtsspirale im Bereich der Arbeitsbedingungen, vor allem bei den Löhnen und Gehältern, in Grenzen zu halten. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors oder die immer tiefere Verschlankung der Unternehmen sind nur kurzfristige und kurzsichtige Behelfsstrategien. Auch dies zeigen die gegenwärtigen amerikanischen Erfahrungen. Die einseitigen Kostenreduzierungsstrategien dienen kaum den längerfristigen Interessen der Unternehmen. Sie setzen nämlich nicht nur eine Abwärtsspirale im Bereich der Arbeitsbedingungen, sondern auch eine wirtschaftliche Abwärtsspirale in Gang, die die Gewinnaussichten der Unternehmen trübt. Was gebraucht wird, ist vielmehr eine neue Wachstumsstrategie, die nicht forcierte Verschlankung, sondern Expansion bedeutet.

Dann ist aber auch die Politik gefordert, auf die Entwicklungen zu reagieren und neue Rahmenbedingungen zu setzen. Es geht kurz gesagt nicht darum, Vielfalt zu verhindern, sondern einen positiven Variantenreichtum zu fördern. Ein Wettlauf nach unten, z.B. im Bereich der Löhne und Gehälter, darf politisch nicht akzeptiert werden. Vielmehr sind diejenigen Beschäftigungsfelder zu fördern, auf denen dies nicht passiert. Politisches Handeln muß sich daher auf eine Folgenabschätzung stützen können, die verdeutlicht, was Diversifikation bedeutet, zu welchen Folgen sie führt und welche Folgen davon gesellschaftspolitisch wünschenswert sind und welche nicht, da sie nicht sozialverträglich sind. Dazu kann die Forschung ihren Beitrag leisten. Wenn es das typische Arbeitsverhältnis nicht mehr gibt, können die neuen, diversifizierten Arbeitsbedingungen trotzdem reguliert werden. Das Arbeitsrecht sollte dazu einen Beitrag leisten, Mindeststandards definieren und die Entwicklung somit in sozial- und gesellschaftspolitisch akzeptablen, gesunden Bahnen halten.

Alle genannten Anforderungen an die gesellschaftlichen Akteure erhalten in den USA also eine hohe Bedeutung, da die Forschungen gezeigt haben, daß sich die USA an der Spitze der globalen "Divergenzbewegung" positioniert.

4.2 Deutsche Arbeitsbeziehungen unter Innovationsdruck: ein Krisen- oder Zukunftsszenario?

"Konvergenz" ist ein Kennzeichen des globalen Wandels zu mehr "Divergenz". Die im vorangegangen vorgestellten Cluster stellen daher auch die deutschen Arbeitsbeziehungen auf den Prüfstand. Auf ihnen lastet ein erheblicher Veränderungsdruck. Die Spannbreite der auslösenden Faktoren ist enorm und unterstreicht die Tragweite dieses Innovationsdrucks:
 

Zu fragen ist vor dem Hintergrund dieser komplexen, manchmal auch unübersichtlichen Entwicklung, inwieweit sie mit den Zielvorstellungen der deutschen Gesellschaft überhaupt noch kompatibel sind: mit den Zielen der sozialen Marktwirtschaft, den Grundsätzen von Subsidiarität und Solidarität und der Perspektive sozialen Friedens. Kurzum: Es geht um die wichtigen sozialen Standards der deutschen Gesellschaft. Sollen sie erhalten bleiben, kommt man kaum an radikal ausfallenden Veränderungen in den Inhalten und Formen der kollektiven Arbeitsbeziehungen und kollektiven Regelungen vorbei.

Einige Veränderungen zeichnen sich bereits ab.

In den Vergütungsrahmen- und Vergütungstarifverträgen wird es zunehmend keine fest definierbaren Tätigkeitsgruppen im bisherigen Ausmaß mehr geben. Arbeitstätigkeiten werden sich verändern, vermischen und wechselseitig ablösen, so daß Ein- und Umgruppierungen in fest definierte Tätigkeitsgruppen scheitern. Der Charakter zukünftiger Arbeitstätigkeit wird eher den Wechsel der Tätigkeiten beinhalten als die homogene Tätigkeit als solche, mit der Konsequenz, daß auch das Definieren und Erfassen von Tätigkeiten im Rahmen der kollektiven Arbeitsbeziehungen auf neue Instrumente zurückgreifen muß. (Zu denken ist beispielsweise an eine punktuelle Bewertung einzelner Tätigkeitselemente im Sinne von Credits Points, deren Addition dann an die Stelle der bisherigen Tätigkeitsgruppen treten könnte.)

Mit der Ablösung der Tätigkeitsgruppen in den traditionellen Vergütungsrahmen- und Vergütungstarifverträgen würde eine Veränderung der bisherigen Gehalts- und Lohnstrukturen einhergehen. Unbestritten werden die statischen Lohn- und Gehaltssegmente zugunsten flexibler Einkommensbestandteile (Erfolgsprämien, Leistungslöhne, neue Mitarbeiterbeteiligungen) zurückgedrängt. Die Entwicklung könnte soweit gehen, daß in Vergütungstarifverträgen kaum noch feste Grundvergütungssätze aufgestellt werden können, sondern ein flexibel zusammengesetztes System unterschiedlicher Gehaltsbestandteile angeboten werden muß. (Gegenwärtig ist schon ersichtlich, daß die überlieferte Teilung von Arbeitnehmerlohn ohne wirtschaftliche Risikotragung und Gesellschaftergewinn mit wirtschaftlicher Risikotragung mehr und mehr schwindet, da heute bereits breite Arbeitnehmergruppen auch unterhalb der Leitenden Angestellten wesentliche Lohnbestandteile mit wirtschaftlicher Risikotragung erhalten.)

Auch die Arbeitszeitregelungen in den Manteltarifverträgen werden sich verändern. Die neuen Tätigkeiten erfordern kein stringentes Weisungsrecht des Arbeitgebers mehr bezüglich Lage und Dauer der Arbeitszeit und vermehrte häusliche Tätigkeit macht feste Arbeitszeitregelungen hinfällig. Das System der regelmäßigen Arbeitszeit, der Mehr-, Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit wird in vielen Branchen der Vergangenheit angehören. An die Stelle starrer Arbeitszeiten treten flexible Regelungen zum Arbeitsvolumen und zu den Arbeitsinhalten. (Dies wirft im übrigen auch Probleme auf, wie der gesetzliche Arbeitszeitschutz noch effektiv zu realisieren ist.)  Individuelle Flexibilität, Zeitautonomie und Eigenverantwortung entpuppt sich als ein Gegensatz zu den herkömmlichen, starreren Regelungen.

Was in der nahen Zukunft daher möglicherweise gebraucht wird, sind Modulsysteme, die es dem einzelnen Arbeitnehmer ermöglichen, individuelle Gestaltungselemente sowohl im Rahmen der Tätigkeit als auch im Rahmen von Arbeitszeit und von Lohn und Gehalt zu kombinieren und miteinander zu verflechten. Dies hat eine wesentliche Konsequenz: Solche Modulsysteme führen zu sehr unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer, selbst dort, wo Mitarbeiter gleiche oder identische Arbeit verrichten. Die Divergenz wird noch mehr Realität (vgl. Kapitel 4.1). In der Folge wird es künftig keine unternehmenseinheitlichen kollektiven Arbeitsbedingungen mehr geben, sondern auf solchen Modulsystemen aufbauend tätigkeitsübereinstimmende Arbeitsbedingungen. Aus dem Aufbrechen der einheitlicheren Tätigkeits-, Lohn- und Gehalts- wie Arbeitszeitstrukturen (in ein und demselben Unternehmen) folgt in der Quintessenz, daß auch die Inhalte der kollektiven Arbeitsbeziehungen diese Erosion nachvollziehen müssen, wenn sie ihre Gestaltungsmöglichkeiten und ihre Zuständigkeit nicht verlieren sollen.

Zudem verändern sich die traditionellen Abgrenzungen zwischen Arbeitnehmern und Selbständigen. Die Zukunft der Arbeitsbeziehungen hängen auch von der Neuausrichtung des Arbeitsrechts ab, d.h. ob es gelingen wird, ein abhängige wie selbständige Arbeit umfassendes Wirtschaftsrecht zu entwickeln. Selbständige Tätigkeiten und unselbständige Tätigkeit, Dienstvertrag und Arbeitsvertrag dürfen dann nicht mehr als gegenüberstehendes begriffen werden, sondern als Ausformung eines Vertrages, lediglich gegliedert und unterschieden nach der Art der geschuldeten Arbeitsleistung. Dienst- und Arbeitsvertrag sind dann als gesetzlich bereitgestellte Vertragstypen auf ein und derselben Regelungsebene zu begreifen. Das Rechtssystem muß Dienst- und Arbeitsvertrag im Sinne kommunizierender Röhren verstehen und das Recht zur Erbringung selbständiger Arbeitsleistung in unmittelbarem rechtssystematischen Zusammenhang zum Recht der Erbringung unselbständiger Arbeitsleistung setzen. Ein neu entstandenes arbeitsrechtliches System für selbständige und unselbständige Arbeit müßte vertragsrechtliche Bausteine entwickeln, denen ein entsprechendes System von Bausteinen gesetzlichen oder kollektivvertraglichen Arbeitnehmerschutzes gegenüberzustellen wäre. Diese könnte Kriterien beinhalten wie: Gehaltshöhe, Maß und Intensität des arbeitgeberischen Direktionsrechts, Ausmaß der Zeitsouveränität, Autonomie bei der Wahl des Arbeitsortes und der Arbeitsgestaltung etc. Vertragsrechtliche Bausteine würden den Vertragsparteien erlauben, das passende vertragsrechtliche System von der reinen Form der unselbständigen Arbeitsleistung bis hin zur freien selbständigen Arbeitsleistung zu finden. Das Arbeitsschutzrecht müßte an dieselben objektiven Kriterien gebunden sein, nur der lupenreinen unselbständigen Arbeit "Komplettschutz" gewähren, während auf den anderen Stufen äquivalent zu den einzelnen vertragsrechtlichen Bausteinen differenziert begrenztere Schutzmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden sollten - bis zur weithin arbeitsschutzfreien Gestaltung rein selbständiger Leistungserbringung. Das bedeutet: neue Arbeitsformen und Inhalte verändern nicht nur die kollektiven Arbeitsbeziehungen, sondern auch das Arbeitsrecht (vgl. Kapitel 3.2). Geschieht dies nicht, könnte es seinen gestaltenden Einfluß auf die Arbeitsbeziehungen möglicherweise einbüßen.

Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände werden auch in Zukunft Träger der kollektiven Arbeitsbeziehungen sein. Der Staat kann dies jedenfalls nicht leisten. Die Tarifpartner müssen aber Inhalte und Formen ihres Dialogs umgestalten. Das bewährte Tarifvertragswesen wird das Gestaltungsmittel der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Deutschland bleiben, wenn auch in abgewandelter Form. Tarifverträge können nicht gänzlich zugunsten betrieblicher Vereinbarungen aufgegeben werden. Weder Manager noch Betriebsräte können das Know-how vorhalten, um neue Inhalte und Formen von Arbeit mit einem hohen Flexibilitätsanspruch zu gestalten. In Zukunft sind generalisierende Mindestbedingungen gefragt, die gerade eine sich stetig verändernde Wirtschaft zur Stabilisierung der Arbeitsbeziehungen, zur Sicherung des Arbeitsfriedens braucht.( Allerdings ist damit noch nicht gesagt, daß der Tarifvertrag als Gestaltungsmittel der kollektiven Arbeitsbeziehungen in Zukunft auch in Deutschland stets ein normativ wirkender Vertrag sein muß oder ob nicht die schuldrechtlichen Elemente zunehmend überwiegen könnten.)

Damit ändern sich die inhaltlichen Formen der Kollektivverträge. Wenn das oben beschrieben Szenario von Modul- und Auswahlsystemen zutrifft, dann kann die Zukunft nur darin bestehen, daß Mindestmodulsysteme zur Verfügung stehen, die für Veränderungen offen sind und den individuellen Interessen von Unternehmen und Mitarbeitern gerecht werden.

Im Zuge dieser Entwicklung ändern sich auch die organisationspolitischen Strategien von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Die Gewerkschaften müssen künftig auch für die höchstqualifizierten Mitarbeiter attraktiver werden, nicht viel anders wie in den USA. Das kann nur gelingen, wenn deren Interessen an Flexibilität und eigener Gestaltungsmöglichkeit berücksichtigt werden. Das bedeutet wiederum für die Arbeitgeberverbände, daß sie sich verstärkt nach den neu entstehenden, äußerst unterschiedlichen Unternehmensfeldern aufgliedern müssen, um sachkundige Interessenvertreter für die neuen und sich ständig verändernden Unternehmen sein zu können. Der Wechsel des Arbeitgeberverbandes wird daher eine weitaus größere Rolle spielen als bisher.

Deutsche Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände könnten also mehr den Charakter von Fachverbänden bzw. -organisationen annehmen, die mit ihrem fachspezifischen Know-how dem sozialen Schutzgedanken entsprechend flexible Mindeststandards in Form von Modulsystemen erarbeiten und ihren Mitgliedern zur Verfügung stellen. Die Organisationen werden sich untereinander quasi einem Regelungs- bzw. Dienstleistungswettbewerb stellen müssen.

Was folgt daraus nun für die Zukunft der Betriebsverfassung? Welche Folgen wird der Verfall des traditionellen Arbeitsplatzes und die Diversifizierung der Belegschaften, Betriebe bis hin zu vollkommener Auflösung der überkommenen Belegschaftsstruktur, des Betriebsbegriffs schlechthin haben? Um die Zukunft der Betriebsverfassung könnte es aus einer pessimistischen Perspektive schlecht bestellt sein. Die betriebliche Mitbestimmung könnte ausgehöhlt werden, auch vor dem Hintergrund, daß das Interesse der Mitarbeiter an Selbstbestimmung, Zeitsouveränität und eigenständiger Gestaltung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsleistung bis hin zu eigenständigen Lohn- und Gehaltsbedingungen zunehmen werden, je mehr sie in dieser neuen Arbeitswelt sozialisiert werden. Trotzdem müssen die vereinbarten kollektiven Mindestbedingungen betrieblich umgesetzt werden, also mittels der betrieblichen Arbeitsbeziehungen konkretisiert und gestaltet werden. Daher sind in Zukunft verstärkt flexible Vereinbarungsmöglichkeiten und Vereinbarungsbefugnisse notwendig, die die betriebsverfassungsrechtlichen Parteien in die Lage versetzen, den stetigen Wechsel der Arbeitsbedingungen gleichwohl sachgerecht erfassen zu können. Das Hauptgewicht wird daher in der Vereinbarung unternehmensbezogener Rahmenbedingungen liegen, zumal auch die Kollektivverträge verstärkt einer Anpassung in den Betrieben und Unternehmen bedürfen. Dies wird das Schwergewicht der betrieblichen Arbeitsbeziehungen sein.

Nicht zu vergessen ist, daß auch das Instrument des Arbeitskampfes von den Entwicklungen nicht unberührt bleiben wird. Ist der Arbeitskampf also ein Auslaufmodell? Die neuen, höher qualifizierten Mitarbeiter werden wenig Verständnis dafür aufbringen, da der Arbeitskampf, ausgerichtet auf die Durchsetzung kollektiver Arbeitsbedingungen, ihnen für ihre individualisierte Rechtsstellung kaum Vorteile bringt. Problematischer ist aber, daß die neuen Strukturen der Unternehmen bezüglich der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsgestaltung kaum noch eine Angriffsfläche für effektive Arbeitskämpfe bieten.

Viele der vorgestellten Prognosen gleichen noch mehr einer Utopie. Wenn aber die sozialen Standards der deutschen Gesellschaft keine nachhaltigen Veränderungen erfahren, d.h. keine Verschlechterungen eintreten sollen, dann sind einschneidende Veränderungen auch und gerade im Rahmen der Arbeitsbeziehungen unverzichtbar. Trotzdem darf deren gestalterische Kraft nicht zu sehr aufs Spiel gesetzt werden.

4.3 Hat die Zukunft in Deutschland schon begonnen?

Unzweifelhaft nimmt in den deutschen Unternehmen die Vielfalt in denjenigen Kategorien zu, wie sie in den forschungsgestützten Clustern wissenschaftlich herausgearbeitet worden sind (vgl. Kapitel 4.1). Ein Beispiel unter vielen ist die Siemens AG.

So präsentierte sich die Siemens AG Anfang der 80er Jahre noch sehr monolithisch und reglementiert. Davon ist heute kaum noch etwas zu spüren. Unter dem Dach der Aktiengesellschaft arbeiten (rund 400 000) Mitarbeiter in völlig verschiedenen Arbeitswelten: in der eher klassischen Produktion bis zu der Entwicklungsarbeit an Softwareprogrammen für das Internet oder Handy-Features. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Arbeitsbedingungen in ein und demselben Unternehmen erheblich, das heißt die Mitarbeiter arbeiten sowohl in der "Old" wie auch in der "New Economy", wobei die erste Gruppe von Beschäftigten stetig abnimmt, dagegen die Bedeutung der zweiten steigt.

Reglementierte Schichtbetriebe stehen hochflexiblen Entwicklungsabteilungen gegenüber. Während in der Motorenfabrik die Schichtzeiten stark reglementiert sind, arbeiten die Entwicklungsingenieure im Prinzip wann sie es für richtig halten. Diese Freiheit in der Arbeitszeitgestaltung wird ihnen vom Management zunehmend eingeräumt. Die neue Zeitautonomie wird aber nicht voraussetzungslos gewährt. Die Ingenieure müssen stets und überall für die Kunden und Kollegen erreichbar sein. Laptop und Handy sind Informations- und Kommunikationstechnologien, die die Voraussetzungen für solche neuen zeitsouveränen Arbeitsformen schaffen. Wann die Arbeit tatsächlich verrichtet wird, entzieht sich weitgehend der Kontrolle des Managements und auch des Betriebsrats. Maßgeblich ist der Fertigstellungstermin.

Management und betriebliche Interessenvertretung müssen sich auf diese Welten von unterschiedlichen Tätigkeiten einstellen und neue personalentwicklerische und interessenvertretungspolitische Konzepte entwickeln. Dies erfolgt in Deutschland, im Gegensatz zu den USA, weniger auf der Grundlage eines "Laisser-faire" Konzepts. In der deutschen, sozialpartnerschaftlichen Konsensgesellschaft besteht ein gewisses Ordnungsbedürfnis. Eins zeigt sich aber in diesem Zusammenhang. Die ehemals inhaltlich geschlossenen Fronten zwischen Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften weichen auf, da in der modernen Wissens-, Informations- oder Dienstleistungsgesellschaft nicht so wie in der alten Industriegesellschaft ideologisch agiert, sondern mit neuen Inhalten anders kooperiert werden muß. Es gibt nicht nur neue Schnittmengen in den Interessenlagen, sondern auf der betrieblichen Ebene auch eine neue Generation von Betriebsräten, die ein Co-Management betreiben, sowie Manager, die beteiligungsorientiert führen wollen.

Dieses Modell betrieblicher Arbeitsbeziehungen korrespondiert mit dem Bedeutungszuwachs der betrieblichen Verhandlungsarena. Den Flächentarifvertrag wird es zwar auch künftig geben. Erste Beispiele zeigen aber, wie moderne, unternehmensbezogene Tarifvereinbarungen neuen Schwung in das tradierte Tarifvertragssystem bringen.

Unternehmensnahe Tarifpolitik - ein Paradebeispiel

Ein vielzitiertes Beispiel von Arbeitgeberverbänden wie Gewerkschaften ist ein Tarifvertrag der DaimlerChrysler Services (debis) AG. Das Unternehmen ist Anfang der neunziger Jahre aus dem Daimler-Benz Konzern im Rahmen eines Outsourcing-Projekts im Bereich Telekommunikation, Informationstechnik, Logistik und Finanzdienstleistungen entstanden. Debis zählt in diesen Bereichen heute zu den führenden Dienstleistungsunternehmen. Debis ist damit ein typisches Beispiel für die ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen, wie sie sich auf der betrieblichen Ebene widerspiegeln.

Dieser Wandel hat auch die betriebliche Sozialstruktur verändert:
 

Ein besonderes Merkmal von debis ist, daß das Unternehmen zusammen mit den Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretern mit einem debis- Tarifvertrag auf die neuen Herausforderungen reagiert hat. Es handelt sich dabei um einen Ergänzungstarifvertrag zum Tarifvertrag Nord-Württemberg-Nordbaden und Berlin- Brandenburg, also um ein geöffnetes Branchenfenster, nicht um einen klassischen Haustarifvertrag. Dieser hat zum Ziel, die Regelungen aus Flächentarifverträgen nicht, wie in vielen Haustarifverträgen, einfach zu ersetzen, sondern vielmehr durch firmenspezifische Regelwerke zu ergänzen und zu modifizieren. Daher wurden die Flächentarifverträge Nordwürttemberg/Nordbaden und Berlin/Brandenburg modifiziert.

Der Ergänzungstarifvertrag hat einige wesentliche Kernelemente, die die neue Regulierung der Arbeitsbeziehungen verdeutlichen:

(1) Im Bereich der Vergütungsstruktur wurde zukunftsorientiertes Neuland betreten. Im sogenannten "Jahreszielgehalt" werden leistungsorientierte Vergütungsbestandteile sowie der Unternehmenserfolg berücksichtigt. Eine wesentliche Grundlage ist aber das Mitarbeitergespräch, mit dem Zielvereinbarungen entwickelt werden. Es etabliert ein neues Verhältnis von Führungskräften und Mitarbeitern. Nicht der Vorgesetzte gibt einseitig die Ziele vor, die der Mitarbeiter akzeptieren muß, sondern die Ziele werden in einem kooperativen Dialog entwickelt. Die Arbeitsbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern erhalten somit eine neue Qualität. Gemeinsam erarbeitete Ziele sollen aus den strategischen Unternehmens- und spezifischen Bereichszielen abgeleitet werden und die Vorgesetzten sind anschließend verpflichtet, für die Ressourcen zu sorgen, damit die gesetzten Ziele auch erreicht werden können. Dies beinhaltet im Vergleich zu den industriell geprägten Führungsstrukturen ein völlig anderes Verständnis von Führungsverantwortung.

(2) Ein weiteres Kernelement ist die Arbeitszeit. Unter anderem hat jeder Mitarbeiter im Rahmen von Arbeitszeitbudgetvereinbarung die Möglichkeit, sein Arbeitszeitbudget bis zu einem Jahr innerhalb einer bestimmten Größenordnung zu vereinbaren. Dies kann auf ein sogenanntes Langzeitkonto aufgespart werden, das durch Blockfreizeiten, Zeiten für Qualifizierungsmaßnahmen oder zur Verminderung der Arbeitszeit (im folgenden Jahr) wieder aufgelöst werden kann. Das Langzeitkonto soll also die Arbeitszeitsouveränität steigern, und nicht geldwerte Vorteile bringen. Trotz anfänglicher Skepsis hat sich gezeigt, daß (besonders im IT-Bereich) das Verfahren von den Mitarbeitern angenommen wird, gerade auch im Hinblick auf neue Zeitressourcen für zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen.

(3) Zentral sind auch die Regelungen zur lebensalterdifferenzierten Arbeitszeit, insbesondere auch angesichts der Verschiebung der Altersstruktur im Unternehmen. Die Mitarbeiter können ab einem bestimmten Alter eine verminderte Arbeitszeit ohne Lohnverzicht wählen.

(4) Eine weitere Besonderheit ist, daß ein Anspruch auf Qualifizierung definiert wurde. Jeder Mitarbeiter hat einen Anspruch von 5 Tagen pro Jahr, wobei die Kosten komplett vom Arbeitgeber übernommen werden. Die Anspruchstage können bis zu maximal 5 Jahren gebündelt (also 25 Tage) beansprucht werden. Ziel ist, die Eigenverantwortung der Mitarbeiter auch in Qualifizierungsfragen zu fördern. Ferner gilt: Die Kosten und die Arbeitszeit für Bildungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um eine bestimmte Arbeitsaufgabe erfüllen zu können, trägt der Arbeitgeber. Es gibt aber auch andere Bildungsmaßnahmen, die zwar wichtige, aber für die Arbeitsverrichtung nur mittelbar relevante Qualifikationen vermitteln (z.B. Maßnahmen zur Persönlichkeitsentwicklung, Sprachkurse). Für diese Bildungsmaßnahmen gilt bei debis die folgende Regel: Arbeitgeber und Arbeitnehmer teilen sich die Arbeitszeit für Bildungsmaßnahmen, die im überwiegenden Interesse des Arbeitnehmers liegen. Die Kosten der Maßnahmen trägt aber auch hier der Arbeitgeber.

Das Beispiel debis zeigt vor allem eins: Die Gewerkschaften, die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung haben sich gemeinsam zu neuen Ufern bewegt und auf die Herausforderungen mit modernen Konzepten und Regelungsmechanismen reagiert. Die zunehmende Differenzierung der Arbeitsbeziehungen muß nicht zwangsläufig zu einem Bedeutungsverlust kollektiver Regelungen führen, wenn solche flexiblen neuen Ansätze umgesetzt werden.


Moderatoren:

Dr. Rainer Hank
Leiter Redaktion Wirtschaft, Der Tagesspiegel, Berlin

Prof. Dr. Gerhard Kleinhenz
Direktor, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg

Nikolaus Simon
Geschäftsführer, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf

Curtis A. Stone
Botschaftsrat, Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin
 
 

ReferentInnen und TeilnehmerInnen der Podiumsdiskussionen:

Dr. Hans J. Barth
Geschäftsführer, Prognos AG, Basel

Peter Becker
Mitglied des Vorstandes, Ford-Werke AG, Köln

Ernst Breit
Stellv. Vorstandsvorsitzender Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Prof. Dr. Diether Döring
Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt a.M.

Lutz Freitag
Mitglied des Bundesvorstandes, Deutsche Angestelltengewerkschaft, Hamburg

Erich Gerard
Präsident der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg e.V., Berlin

Prof. Dr. jur. Dres. jur. h. c. Peter Hanau
Geschäftsführender Direktor, Forschungsinstitut für Sozialrecht der Universität zu Köln

Prof. Dr. jur. Meinhard Heinze
Institut für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit der Universität Bonn

Jürgen Husmann
Mitglied der Hauptgeschäftsführung, Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Berlin

Prof. Dr. Thomas A. Kochan
Professor of Management, MIT Sloan School of Management, Cambridge, MA

John Kornblum
Botschafter der Vereinigten Staaten von Amerika, Berlin

Prof. Dr. Harry C. Katz
Professor of Collective Bargaining, School of Industrial and Labour Relations,
Cornell University, Ithaca, New York

Prof. Dr. David B. Lipsky
Professor of Collective Bargaining, School of Industrial and Labour Relations,
Cornell University, Ithaca, New York

Ulrike Mascher, MdB
Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Berlin

Harald Schartau
Bezirksleiter der IG Metall, Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf

Herbert Schiller
Konzernbetriebsratsvorsitzender und Mitglied des Aufsichtsrates, DaimlerChrysler Services AG (debis), Eschborn

Dr. Werner Tegtmeier
Staatssekretär, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Berlin

Dr. Michael Wiseman
Senior Fellow, The Urban Institute, Washington, D.C.

Tagungsplanung und -organisation

Peter König, Wirtschafts- und sozialpolitisches Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Arbeit und Sozialpolitik, Bonn

Hajo Lanz und Ilona Reuter, Wirtschafts- und sozialpolitisches Forschungs- und Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Wirtschaftspolitik, Bonn
 

Verfasser der Broschüre

Ralph Greifenstein, Sozialwissenschaftler, Bestwig


Herausgegeben vom
Wirtschafts- und sozialpolitischen Forschungs- und
Beratungszentrum der Friedrich-Ebert-Stiftung
Abt. Wirtschaftspolitik
Godesberger Allee 149, D-53170 Bonn
Umschlag: Pellens Kommunikationsdesign Bonn
Druck: Thenée Druck Bonn
Oktober 2000
ISBN 3-86077-938-9