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3. Neue Anforderungen an Bildung und Ausbildung

Kurze Halbwertzeiten neuer Technologien und schnell veraltertes Fachwissen, Hochleistungsarbeitssysteme oder gar ein neuer Zukunftstypus von Arbeitnehmern, die zu selbständigen Arbeitskraftunternehmern werden, verändern unzweifelhaft die Strukturen beruflicher Aus- und Fortbildung. Auch auf diesem Feld kann im transantlantischen Dialog etwas gelernt werden.

Im Regelfall richteten amerikanische Bildungsexperten bisher ihren Blick nach Deutschland, um vom deutschen beruflichen Ausbildungssystem zu lernen. Diesmal soll es anders sein: Auch aus dem amerikanischen Bildungssystem lassen sich Erkenntnisse ziehen, die in der Diskussion über die Modernisierung des deutschen Systems nützlich sind. Im folgenden wird daher versucht, wesentliche Schwachstellen und Stärken beider Systeme zu erkennen, um die neuen Anforderungen an Bildung und Ausbildung im Wandel der Arbeitsgesellschaft auszuloten.

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3.1 Reformerfordernisse in den USA

Soziale Ungleichheit und Bildung stehen in einem Wechselverhältnis. In der amerikanischen Gesellschaft ist soziale Ungleichheit alles andere als ein Fremdwort. Die Kluft in den Haushaltseinkommen und sozialen Lebenslagen verschiedener Bevölkerungsschichten wird tiefer. [ Viel weniger Beschäftigte arbeiten in Vollzeit, ältere oder schlecht ausgebildete verdienen im Schnitt weniger als jüngere oder gut ausgebildete Arbeitnehmer etc.]
Das Bildungssystem der USA scheint daran nicht ganz unschuldig, wie amerikanische Bildungsexperten beobachten können.

Die Einkommensaussichten differenzieren sich immer weiter entlang unterschiedlicher Bildungsabschlüsse:

  • Anfang der siebziger Jahre konnten die Absolventen amerikanischer Colleges nur ein um 15-20 % höheres Einkommen erwarten als die Absolventen von Highschools. Mitte der neunziger Jahre ist dieser Unterschied in den durchschnittlich zu erwartenden Einkommen auf über 50% angewachsen.

  • Highschoolabsolventen verdienen heute etwa 19% weniger. Diejenigen, die nach ihrem Highschoolabschluß noch andere, weiterführende formale Qualifikationen (ohne Collegeabschluß) erwerben, erzielen im Durchschnitt etwa 15% weniger Einkommen als Anfang der siebziger Jahre.

  • Die Einkommensperspektiven von Highschoolabbrechern sind seit 1973 um ca. 28% abgesunken.

  • Frauen sind finanziell nach wie vor benachteiligter als Männer, besonders dann, wenn sie keinen Abschluß oder einen Abschluß haben, der unterhalb des Collegeniveaus liegt.

Die Tatsache, daß ein höherer Bildungsabschluß die Einkommensaussichten verbessert, ist an sich nichts neues. Die genannten Tendenzen bedeuten in den USA aber, daß die ausgeprägte Lohndifferenzierung weiter zementiert wird, die sich im Vergleich zu Deutschland ohnehin schon in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.

Wenngleich ein wissenschaftlicher Nachweis noch nicht richtig erbracht ist, erklären aber auch durchaus plausible, andere Faktoren die Einkommensunterschiede und Lohndifferenzierungen. In der Arbeitswelt werden neben fachlichen Qualifikationen zunehmend Schlüsselqualifikationen wie Problemlösungskompetenz, Teamfähigkeit, Vorstellungskraft und innovative Gestaltungsphantasie nachgefragt. Sie sind für die Arbeitgeber ein Schlüssel, um produktive Arbeitnehmer für ihren Betrieb zu gewinnen. Neue Jobs für Informationsarbeiter, für Beschäftigte in Hochleistungsarbeitssystemen, denen Partizipationskompetenz abverlangt wird und die steigende Zahl von Arbeitnehmern, die über beratende oder managerielle Qualifikationen verfügen müssen, unterstreichen, wie neue berufliche Anforderungen und neue Berufsbilder andere Qualifikationen erfordern, die über rein fachliche Fähigkeiten hinausreichen. [ Amerikanische Arbeitgeber bemängeln inzwischen, daß das Bildungssystem nicht genügend „Informationsarbeiter„ erzeugt, die auch über solche Qualifikationsmuster verfügen.]
Arbeitnehmer, die solche Qualifikationen besitzen, behaupten sich auf dem betrieblichen und außerbetrieblichen Arbeitsmarkt wesentlich besser und erreichen ein höheres Einkommensniveau.

In den USA ist allerdings das berufspädagogische Problem noch keineswegs befriedigend gelöst, welche Qualifikationen und Fähigkeiten für diese neuen Berufe und Tätigkeiten tatsächlich gebraucht werden und vor allem durch welche Qualifizierungsmaßnahmen sie erworben werden können. Ausbildungsprogramme, die darauf zugeschnitten sind, fehlen noch weitgehend. Unstrittig ist unter amerikanischen Bildungsexperten, daß nicht nur mehr Ausbildung, sondern auch eine andere Ausbildung für Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber vorteilhaft ist. Die Konturen der Qualifizierung sind in der bildungspolitischen Diskussion aber noch eher schemenhaft. Offen ist daher auch die Frage, wann und wo sie erworben werden sollten: Im Rahmen der beruflichen Erstausbildung, durch Fort- und Weiterbildung im Betrieb oder in außerbetrieblichen Einrichtungen, an der Highschool, am College oder bei privaten Bildungsträgern.

Auf der konzeptionellen Ebene wird deshalb im Rahmen amerikanischer Bildungsreformen noch viel experimentiert und manches befindet sich mehr im Versuchs- bzw. Erprobungsstadium.

Das deutsche System geriet in der Vergangenheit z.B. häufig zu einer Meßlatte, wenn über eine Umorientierung im amerikanischen Ausbildungssystem nachgedacht wurde. Die Clinton-Regierung war anfänglich sehr stark vom deutschen dualen System infiziert und zeitweilig bestand die Absicht, tatsächlich ein duales System nach deutschem Vorbild einzuführen. Die Politik konstatierte zugleich, daß das weiterführende amerikanische Schulsystem eher mittelmäßig ist. Anfang der neunziger Jahre lautete daher eine bildungspolitische Zielvorstellung, daß möglichst viele junge Menschen eine Collegeausbildung absolvieren sollen. In der Paxis schafften aber nur etwa Eindrittel den Collegeabschluß. Der Stein des Weisen war mit diesem Ansatz nicht gefunden und eine einschneidende Verbesserung nicht erzielt worden.

Zwei Gesetze veranschaulichen amerikanische Reformbemühungen: das „school to work opportunity act„ und das „educate america act„. Im Rahmen des „educate america act„ wurde ein nationaler Ausschuß gegründet mit dem Ziel auszuloten, welche Standardqualifikationen die Beschäftigten in welchen Branchen brauchen. Bildungsangebote sollten bedarfsgerechter entwickelt werden. Das „school to work opportunity act„ nimmt als handlungspraktisches Vorhaben direkte Anleihen am deutschen dualen Ausbildungssystem. In den USA gibt es keine systematische, praktische betriebliche Ausbildung, die mit der deutschen vergleichbar wäre. Die sekundäre schulische Ausbildung soll daher in den USA durch betriebliche Praktika, d.h. durch learning on the job stärkeren Praxisbezug erhalten und auf das Berufsleben vorbereiten. Die Ergebnisse zeigen jedoch, daß diese Initiative zumindest in einem ihrer Ziele, nämlich mehr Highschoolabsolventen den Zugang zu gut bezahlten und hochqualifizierten Jobs in der Wirtschaft zu erschließen, nicht allzu viel bewirken konnte.

Mit den Reformen im amerikanischen Sekundärsystem wurden aber die Unterschiede zwischen Schulen, die in erster Linie auf ein College vorbereiten und berufsvorbereitenden Schulen nivelliert. In beiden Fällen werden den Schülern nunmehr akademische Grundqualifikationen bzw. die Voraussetzungen vermittelt, die sie befähigen, ein College besuchen zu können. Gleichzeitig ist die Highschoolausbildung praxisnäher und berufsbezogener ausgestaltet worden.

Das Collegesystem selbst ist hochdifferenziert und bietet eine Mixtur von unterschiedlichen Qualifizierungsgraden, die verschiedene Folgen für die berufliche Karriere der Absolventen haben.

Insgesamt existieren etwa 10.000 Bildungseinrichtungen. 3.000 Einrichtungen bieten Abschlüsse an, die übrigen offerieren unterschiedliche individuelle Ausbildungen. Von denjenigen, die Abschlüsse vorsehen, sind etwa 1.200 bis 1.300 „Community Colleges„ mit zweijährigen Ausbildungszeiten. Sie nehmen etwa die Hälfte aller Studenten auf und vermitteln sehr praxis- und berufsbezogene Qualifikationen. Neben den öffentlichen, kommunalen Colleges gibt es darüber hinaus wenig bekannte private Colleges. Die anderen Colleges bieten dagegen vierjährige Ausbildungen mit einem höheren Anteil an den sogenannten „Liberal Arts„ wie Philosophie, Pädagogik, Sozialwissenschaften etc. an. Von den Colleges, an denen Abschlüsse gemacht werden können, selektieren nur ca. 300 nach der Vorqualifikation, an den übrigen ist der Zugang sowohl mit als auch ohne Highschoolabschluß möglich. Eliteschulen wie die „Harvards„ besuchen allerdings nur etwa 5 bis 10% der Studenten. [ Diese Eliteeinrichtungen haben für viele deutsche Bildungsexperten Vorbildcharakter und die Gründung vergleichbarer Einrichtungen wird immer wieder angemahnt. Zertifikate amerikanischer Eliteeinrichtungen, die in Kurzlehrgängen erworben werden können, sind auch bei deutschen Managern beliebt. Sie sind eine Art karriereförderliches „Sahnehäubchen„ auf dem Qualifikationsprofil.]

Nicht jede Collegeausbildung ist für den individuellen Karriereweg gleichwertig. Die beste Grundlage ist zweifellos der Besuch einer Eliteeinrichtung. Danach kommen die Colleges, die unter den Studenten vorselektieren. Diejenigen allerdings, die z.B. die nicht selektiven 4-Jahres-Colleges oder die Community Colleges besuchen, verdienen deutlich weniger, auch im Vergleich zu dem Einkommen, das noch vor zwei Jahrzehnten realisierbar war.

Die nicht selektiven 4-Jahres-Colleges und die Community Colleges werden insgesamt ambivalent beurteilt. Mehreres beeinflußt diese Bewertung. Einerseits beinhalten sie richtigerweise zunehmend berufliche Ausbildungsbausteine. „Liberal Arts„ werden andererseits nur wenig vermittelt. In Community Colleges liegen die Abschlußraten auf sehr niedrigem Niveau, die Quoten von 4-Jahres-Colleges sehen etwas besser aus. In den Community Colleges belegen die Schüler manchmal nur einige Fachkurse, die sie für ihre beruflichen Ambitionen unmittelbar benötigen und durchlaufen nicht den gesamten Zweijahreszyklus, der zu einem Abschluß führt. Bei einigen Kursen kann nicht einmal ein „Schein„ erworben werden. Die Community Colleges argumentieren und werben allerdings gerade damit, daß sie genau diejenigen Bildungsangebote vorhalten und Qualifikationen vermitteln, die im regionalen Umfeld nachgefragt werden und gute Arbeitsmarktchancen eröffnen. Noch ist die Kontroverse nicht ausgestanden, ob der Bildungsauftrag der Community Colleges bildungspolitisch eher positiv oder negativ zu bewerten ist. Diese Bildungseinrichtungen können nämlich auch genutzt werden, um eine berufliche Umorientierung zu realisieren, ohne gleich längere Ausbildungszeiten in Kauf nehmen zu müssen. Lange Ausbildungszeiten erhöhen nicht nur regelmäßig die Abbrecherquoten. Sie sind auch schwieriger mit anderen beruflichen oder familialen Rollenerwartungen und –anforderungen zu kombinieren. Gestraffte und fokussierte Ausbildungen führen schneller zu sichtbaren Qualifizierungserfolgen. Daher besetzen auch zunehmend andere Bildungseinrichtungen dieses Bildungsterrain.

Ein wachsendes Bildungssegment sind z.B. die sogenannten „profitorientierten„ Schulen. Sie bieten meist nur in einigen Fachgebieten sehr konzentrierte Ausbildungsgänge an, z.B. Computer oder Businesslehrgänge. Die Studenten erhalten dort keine breite, allgemeine Ausbildung. Sie liegen damit eigentlich aber ganz im Trend, Ausbildung weitaus mehr an den praktischen Bedarfen der Wirtschaft auszurichten. Zahlreiche ihrer Studenten werden durch Stipendien der Wirtschaft finanziell unterstützt, was ein deutliches Indiz für eine Ausbildung ist, die in der Praxis unmittelbar verwertet werden kann.

Synthetisiert ist festzuhalten, daß das amerikanische Bildungssystem durchaus flexibel und dynamisch aufgebaut ist und auf die Anforderungen der Wirtschaft reagiert. Berufsbezogene Bildung und Bedürfnisse der Wirtschaft rücken ins konzeptionelle Zentrum von Reformvorhaben. Dahinter verbergen sich aber auch Schattenseiten und Schwierigkeiten. Wenn es z.B. ausreicht, an einem College nur einige Kurse zu belegen, um den gewünschten Arbeitsplatz zu erhalten, stellt sich die Frage, ob diese stark verwertungsorientierte Ausbildung mittel- und langfristig die Beschäftigungsfähigkeit erhalten kann. Die Unternehmen rekrutieren die Studenten vom College, sobald diese das momentan notwendige Fachwissen erworben haben. Ihre berufliche Zukunft ist aber ungesichert. Ob sie sich in einigen Jahren auf dem Arbeitsmarkt noch genauso gut behaupten können, wenn ihr spezielles Fachwissen durch den technischen Fortschritt veraltet, ist zweifelhaft. High-Tech-Berufe sind ein Feld für junge Arbeitnehmer mit spezifischen fachlichen Qualifikationen. Amerikanische Firmen kaufen quasi kohortenweise entsprechend ausgebildete junge Menschen ein. Diese „leben„ in der Arbeitswelt mit der Lebensdauer der jeweils gerade modernen neuen Technologie. Was nach dem Verfallsdatum der Technik mit ihnen passiert, bleibt ungewiß. Eine Altersdiskriminierung in der Arbeit ist nahezu vorprogrammiert.

Das Risiko wird transparent. Wenn sich das amerikanische Bildungssystem nur in die eine Richtung weiterentwickeln würde, im kurzfristig orientierten Interesse von Arbeitgebern und jungen Arbeitnehmern auszubilden, ist noch keineswegs ausgemacht, ob dies auch unter langfristigen Perspektiven ein wünschenswertes bildungs- und gesellschaftspolitisches Ziel sein kann. Praxisnahe berufliche Ausbildung ist in den USA sicher dringend notwendig, sie sollte aber nicht kurzsichtig sein und kurzlebigen Verwertungsinteressen untergeordnet werden. Das würde angesichts des raschen Wandels der Arbeitsgesellschaft mittelfristig nur wieder neue Probleme schaffen.

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3.2 Reformerfordernisse in Deutschland

In Bildungsfragen liegt zwischen Deutschland und USA nicht nur der Atlantik, sondern ein tiefer Graben, denn unterschiedliche Philosophien und Traditionen führen zu verschiedenen Qualifizierungstrategien. Welcher Ansatz der bessere ist, kann allerdings kaum seriös entschieden werden.

Eins scheint aber in beiden Ländern sicher. Berufliche Bildung darf nicht zu einem Museumsstück werden, sondern muß den Wandel in Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft nachvollziehen können. Die Qualifizierung ist eine entscheidende Voraussetzung, um die Fortentwicklung von Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen zu begleiten und zu unterstützen.

Dies ist auch dringend notwendig:

  • Die Hiobsbotschaften über die Entwicklung von Arbeitslosigkeit in Deutschland sind kaum überhörbar. Nach einer Studie des Massachusetts Institute of Technology könnten beispielsweise bis zum Jahr 2010 potentiell 80% aller Arbeitsplätze in den G7 Staaten weltweit ausgelagert werden. Wenn diese Prognose zuträfe, wäre die Spitze der Arbeitslosigkeit in Deutschland noch lange nicht erreicht.

  • Die Deindustrialisierung schreitet voran. Mobile Telearbeit ist ein Beispiel dafür, wie Arbeitsplätze individualisiert werden. Arbeit könnte in andere Länder abwandern, in denen das Preis-/Leistungsverhältnis deutlich günstiger als hierzulande ausfällt.

  • Die Rationalisierung hat in Deutschland bereits tiefe Spuren hinterlassen. Die Zahl der Erwerbstätigen nahm z.B. von 1991 bis 1997 deutlich ab (von 36,5 Millionen auf 34 Millionen). Gleichzeitig ist das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen gestiegen. Die Industrieroboter sind immer noch auf dem Vormarsch und die Roboterisierung wird weitere Arbeitsplätze abbauen.

  • Diejenigen großen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, die trotz mäßiger Wirtschaftskonjunktur gute Gewinne machen, sind nahezu die gleichen, die am meisten Arbeitsplätze und betriebliche Ausbildungsplätze abgebaut haben. Hohe Gewinne und Aktienwerte stehen im Zentrum der Geschäftspolitik. Beschäftigungsmaximierung und soziale Verantwortung, auch für junge Menschen und deren Qualifizierung, werden zurückgestellt. Diese Entwicklung ist betriebswirtschaftlich durchaus verständlich und legitim. Der Kostenfaktor Arbeit ist teuer und schmälert besonders in Deutschland die Gewinnaussichten. Die Erwartung, daß sich die Ausbildungsplatzsituation in Deutschland nach Überwindung der demographischen Probleme um das Jahr 2005 entspannen wird, könnte aber eine Illusion werden. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze wird knapp bemessen bleiben, auch dann, wenn die Wirtschaftskonjunktur möglicherweise wieder boomt und der demographische Berg überschritten ist.

  • Der Fortbestand, die Reform und die Finanzierungsgrundlagen des dualen Systems der beruflichen Bildung hängen aber davon ab, ob unabhängig von Konjunkturschwankungen und Wirtschaftsstrukturveränderungen ausreichend betriebliche Ausbildungsplätze in sehr guter Qualität von den Betrieben der Wirtschaft und den Verwaltungen bereitgestellt werden.

Die Bildungspolitik wird vor diesen Hintergründen stark gefordert sein. Das duale System der deutschen Berufsbildung gehört zwar schon zu den teuersten der Welt. Trotzdem dürfen Bildungsinvestitionen nicht zugunsten staatlicher Sparzwecke oder unternehmerischer Gewinninteressen reduziert werden. [ So ist z.B. auch die informationstechnische Ausstattung deutscher Schulen immer noch defizitär und hinkt dem Standard anderer Industrienationen hinterher.]
Qualifizierte Zukunftsarbeitsplätze beanspruchen einen Höchststandard in der beruflichen Bildung. Im Übergang von der Industrie- zu einer Wissensgesellschaft entscheidet sich die gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit nämlich daran, ob die Anforderung, lebenslang lernen zu müssen, bildungspolitisch umgesetzt wird und damit die Beschäftigungsfähigkeit sichert.

Eine bildungspolitische Weiche kann z.B. im Dienstleistungssektor gestellt werden. In einer sich entwickelnden Dienstleistungswirtschaft sollten besonders unter den neugegründeten Firmen mehr Betriebe für die Berufsbildung gewonnen werden. In der Gründungsphase handelt es sich zwar oft um kleine Unternehmen, manchmal um Ein-Personen-Initiativen, die aber meist sehr schnell expandieren. Die Aufgabe besteht darin, vielmehr Ausbildungspotentiale in den technischen, produktionsorientierten Dienstleistungen, in kaufmännischen Berufen und Verwaltungsberufen, aber auch in den sozialen und pflegerischen Dienstleistungstätigkeiten zu erschließen.

Bildung kann auch noch ein weiteres Tor öffnen. Um Beschäftigungspotentiale im Dienstleistungssektor zu erschließen, sollte in Deutschland zugleich versucht werden, in schulischen und beruflichen Bildungsgängen die Bereitschaft bzw. den Mut zur selbständigen Existenzgründung zu wecken. Deutschland hat hier gegenüber den USA, aber auch im Vergleich mit anderen westlichen Industrie- und Dienstleistungsländern einen erheblichen Nachholbedarf. Der Dienstleistungssektor wird die Arbeitsplatzverluste in der Industrie zwar nicht wettmachen können. Wenn er aber nicht gefördert wird, bleiben in Deutschland hohe Beschäftigungspotentiale auch künftig brachliegend.

Aber auch andere, qualitative Innovationsanforderungen sollten auf der Tagesordnung der Bildungspolitik stehen:

  • Neue Berufsbilder müssen in der Dienstleistungswirtschaft schnell und flexibel entwickelt werden. Das Innovationstempo liegt hoch. Mit ihm muß die Berufsbildungspolitik Schritt halten können.

  • Die Zeit, die gebraucht wird, um in Deutschland eine berufliche Eingangsqualifikation zu erlangen, ist im internationalen Vergleich lang. Deutschland ist auch ein „Zertifizierungsland„. Trotz durchaus angebrachter Kritik ist das amerikanische System auf diesem Gebiet flexibler. Nicht umsonst beschreibt der letzte Berufsbildungsbericht, daß die reine Dauer einer Ausbildung das erreichte Qualifikationsniveau nicht entscheidend beeinflußt. Daher ist genau zu prüfen, in welchen Berufausbildungen überschüssige Ausbildungszeiten existieren.

  • Im Ausbildungsbereich könnte mehr modularisiert werden, um flexibler auf die Bedürfnisse der Betriebe einzugehen. Das ist heute manchmal nicht der Fall. Diese Qualifizierungsstrategie impliziert keinen Systemwechsel, sondern eine Modernisierung des Berufskonzeptes. Über die Modernisierung der beruflichen Aus- und Weiterbildung kann der rasche technologische und wirtschaftliche Wandel auch an den betrieblichen Arbeitsplätzen flexibel mitgestaltet werden kann. Bei vielen neugeschaffenen Berufsausbildungen (z.B. im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnik) wird inzwischen im dritten Ausbildungsjahr schon stärker modularisiert, um die Interessen der Auszubildenden und der Betriebe zu berücksichtigen. Dieser Weg muß in Deutschland fortgesetzt werden; nicht um Berufsbilder gänzlich zu verändern, aber um eine größere Flexibilität in sie hinein zu bekommen.

  • Das deutsche Berufsbildungssystem steht vor der Aufgabe, leistungsschwächere Jugendliche, Normallernende als auch Begabte und Leistungsstarke gleichsam zu fördern. Allerdings sollten letztere nicht ausschließlich auf eine Hochschulausbildung setzen, sondern ihnen muß weitaus mehr als bisher die Möglichkeit geboten werden, ihren Karriereweg auch über berufliche Aus- und Fortbildung realisieren zu können.

In der Summe sind alle Maßnahmen, wenn sie umgesetzt sind, ausbildungsplatzfördernd und verbessern das deutsche Bildungsystem. Sie führen nicht zu einem anderen, aber erneuerten und trotzdem eigenständigen Konzept der Modernisierung von Bildung in Deutschland.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | August 2000

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