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10. Die Auszehrung der Innenstädte durch Nebenzentren

Der Bau des Sterncenters in Potsdam hatte bereits im Vorfeld und während der Entscheidungsfindung die Diskussion über die Verödung der Innenstadt entfacht. Auch heute ist dieses Projekt und der Versuch, durch Einkaufs-

Zentren an der Peripherie Gebiete aufzuwerten und die Kaufkraft im Land zu halten, umstritten.

Stadtbaudirektor Röhrbein gibt folgende Erklärungen für die Entscheidung zum Bau des Sterncenters:

Im Südosten von Potsdam wohnen 60 Prozent der Potsdamer Bevölkerung in Siedlungen des industriellen Wohnungsbaus. In der gesamten Stadt gab es nach der Wende keinen funktionierenden Einzelhandel. Jedoch war die Versorgungslage besonders in den Bereichen des komplexen Wohnungsbaus hoch defizitär. Die Potsdamer Stadtpolitik war gezwungen, Entscheidungen zu treffen, weil die Stadt unter dem Kaufkraftabfluß litt, da die Bewohner ihre Einkäufe vorwiegend woanders tätigten.

Die Zielvorstellung war, durch integrierte Zentrenbildung entsprechend dem Entwicklungsgrundsatz eine polyzentrale Stadtstruktur zu entwickeln und das Kaufkraftpotential in diesem Bereich durch das Sterncenter zusammenzufassen. Darüber hinaus soll durch das Sterncenter das gesamte Siedlungsgebiet aufgewertet werden, indem neue Funktionen in das Gebiet kommen. Das geplante Freizeitbad soll die Qualität weiter erhöhen. (Röhrbein 26.06.97)

Gleichzeitig wird versucht, die Innenstadt dort zu stabilisieren, wo es möglich ist. Zur Entlastung und zur Ergänzung der Potsdamer Innenstadt ist das Quartier am Bahnhof geplant. Es soll Einbrüche baulich-physischer Natur und Verödungstendenzen vermeiden helfen.

Tendenziell drängen Großprojekte wie das Sterncenter nach außen (in Randlagen), wenn in der Potsdamer Innenstadt versucht wird, den Wohnanteil zu erhalten. Die Potsdamer Stadtpolitik legt Wert darauf, die Art "Potemkinischer Fassaden" zu vermeiden. Demzufolge sollten Projekte wie das Sterncenter nicht vorschnell verurteilt werden. Potsdam befand sich in einer schwierigen Situation, die nur bedingt mit anderen Städte vergleichbar war.

Es wurde weiter ausgeführt, daß derartige Projekte eine Ergänzung zur Innenstadt bei einer "vernünftigen Symbioseorientierung" sind, so daß in der Potsdamer Innenstadt der qualitätsvolle, kleinteilige Einzelhandel seine Chance hat. Auf jeden Fall benötigte eine Stadt auch die „größeren Einkaufsmöglichkeiten".

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Projekte wie das Sterncenter entsprechen nach Meinung des Stadtbaudirektors dem veränderten Bild der Stadt. Die Stadt, in der sich der kommerzielle und der traditionelle Kern überlagern, gebe es nicht mehr. Bevor man dieses Idealbild weiter pflegt, muß man die strukturelle lokale Situation ansehen, sonst wird man den Realitäten und den Marktgegebenheiten nicht gerecht. Direktor Röhrbein nennt das Sterncenter einen "Indikator der Massengesellschaft". Der nun von vielen Leuten wieder ersehnte Tante-Emma-Laden existiert praktisch nicht mehr. (in: die taz 12.2.97)

In Potsdam sind weitere Stadtteilzentren geplant bzw. teilweise schon fertiggestellt. Beispiele sind das Waldstadtcenter (eröffnet Ende 1995) und das geplante Quartier am Bahnhof. Kritiker nennen die Potsdamer Stadtentwicklung ein „Horrorszenario", denn während an der Peripherie große Wohn- und Gewerbeparks gebaut werden, wird die Innenstadt vernachlässigt. (Oswald 1996)

Diese Diskussion macht deutlich, daß die Aufwertung der Großsiedlungen und ihre Entwicklung in Richtung eines eigenständigen Stadtteils durch Einkaufsmagneten wie das Sterncenter und angrenzende Investitionen wie das Quartier am Kirchsteigfeld in einem gewissen Umfang mit zur Auszehrung der Innenstädte beitragen. Es kann zu einer Polaritarisierung zwischen der Innenstadt und den Stadtteilzentren kommen. (Keim 26.6.97)

In den neuen Bundesländern hat die Stadt- und Landschaftsveränderung bereits bedenkliche Ausmaße angenommen. Die auffälligste Erscheinung ist die Entstehung einer hohen Anzahl von großen Einkaufsparks auf der "grünen Wiese", d.h. an der Peripherie der Städte. Das Verhältnis von innerstädtischen Einkaufsflächen und Großmärkten an der Peripherie liegt in den alten Bundesländern noch bei 70 zu 30. In den neuen Ländern verhält es sich fast schon umgekehrt. Das bedeutet, daß drei von fünf Kunden in Ostdeutschland ihre Einkäufe nicht mehr in der Innenstadt erledigen.

Vor diesen Zahlen bleibt die Wiederbelebung der Innenstädte nur eine Wunschvorstellung. (Der Spiegel 52/1994) Dabei geht es nicht einfach um eine Frage der Konsumgewohnheiten, sondern um den Lebensnerv der Städte. Der eigentliche Ursprung urbaner Ansiedlungen war der kommerzielle Warenaustausch. Durch die Verleihung des Marktrechtes stieg ein Dort zur Stadt auf. Im alten Griechenland und in Rom waren Stoa-Markthallen [ Fn.2: [Stoa=] antike griechische Säulenhalle] und Portici-Ladenstraßen und mittelalterliche Marktplätze nicht

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von den politischen Versammlungsstätten wie der Agora [ Fn.3: altgriechischer Markt-, Versammlungsplatz] , dem Forum und dem Rathausplatz zu trennen. Dagegen waren Orte ohne Handel historisch immer antistädtische Gebilde wie z.B. Burgen zur Verteidigung und Klöster zur Einkehr und Besinnung.

„Die Doppelbedeutung des lateinischen „commercium" - Handel und Verkehr - zeigt den engen Zusammenhang von Güteraustausch und Kommunikation, von Waren und Handel. Ohne Handel verliert eine Stadt ihre Lebendigkeit, auch einen Großteil ihres öffentlichen Charakters. Ohne Kommerz gibt es keine urbane Kultur."
(Der Spiegel 52/1994)

Der Religonshistoriker Hans J. Hillerbrand bemerkt zum Sterncenter:
"Mit dem Sterncenter ist die Shopping Mall, die zur Auszehrung der Innenstädte beigetragen hat, nun in Potsdam angekommen." (in: die taz 12.2.97)

Es ist eine Tatsache, daß die alten Stadtzentren von Potsdam und Babelsberg einen Großteil ihrer Kunden an das Sterncenter verloren haben. Das Sterncenter verbessert die gesamtstädtische Handelsbilanz und ist zugleich eine scharfe Konkurrenz für die Potsdamer Innenstadt, (van Geisten in: die taz 12.2.97) Der Verfasser [ Fn.4: Geschäftsführer des Sanierungsträgers für Potsdam] urteilt über die Potsdamer Stadtentwicklungspolitik wie folgt: "Der stadtplanerische Ansatz von Stadtbaudirektor Richard Röhrbein, mit den Stadtteilzentren den Bettensiedlungen eine wohnnahe Versorgung und urbane Identität zu verschaffen, ohne daß gleichzeitig die alten Stadtkerne ausbluten, erweise sich als gefährlicher Wettlauf mit der Zeit", (die taz 12.2.97)


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