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5. Beschäftigungspolitische Optionen

Die Arbeitgeberverbände in der Bundesrepublik Deutschland betrachten das „amerikanische Jobwunder" als Vorbild für Deutschland und plädieren für die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Wichtige Schritte zur Lösung der Beschäftigungsprobleme seien eine Senkung der Arbeitskosten um 20 % bis zum Jahre 2000, eine Verkürzung des Anspruchszeitraums und eine Reduzierung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und eine Überprüfung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums der Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen für Arbeitslose. Außerdem sollen der Kündigungsschutz zurückgeschraubt und befristete Arbeitsverhältnisse ausgeweitet werden.

Demgegenüber gilt Deutschland in der Clinton-Administration als Vorbild, was Errungenschaften wie z.B. das Duale System der Berufsausbildung und die Qualifizierungspolitik betrifft. Es werden auch durchaus die Vorzüge der korporatistischen Handlungsansätze gesehen. Der Geschäftsführer des Competitiveness Policy CounciI, das als Beratungskommission für den amerikanischen Präsidenten und Kongreß arbeitet, betonte auf der Konferenz zwar, daß die Erfahrungen eines Landes nicht eins zu eins übertragbar sind, berichtete jedoch: „Wir haben nicht versucht, alles nachzumachen, aber es war ein Vorbild für unsere Initiativen auf dem Gebiet der Schulung und Qualifizierung für Arbeitnehmer. Der Anreiz, weiter zur Schule zu gehen, war nie höher als heute. Es ist noch nie so wichtig gewesen wie jetzt, weiter zum College zu gehen. Auch die weitere Ausbildung nach dem College wird zur Voraussetzung, um höhere Löhne erhalten zu können. Nur einen High-School Abschluß zu haben oder gar die High School abgebrochen zu haben, zahlt sich in den USA nicht mehr aus. Der Präsident hat kürzlich ein Programm bekanntgegeben, daß allen Amerikanern durch eine Steuergutschrift die Möglichkeit geben soll, zwei weitere Jahre zur Schule zu gehen. Weiterhin gibt es den Vorschlag, kleineren Unternehmen eine Steuergutschrift zu gewähren, damit für deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter formale Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt werden. Dabei ist man davon ausgegangen, daß kleinere Unternehmen wegen der hohen Fixkosten für die Qualifizierung große Probleme haben, Qualifizierungsmaßnahmen für ihre Belegschaft anzubieten. Die Regierung versucht, mit der

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Education Matters More ; Real Average Annual Earnings by Educational Attainment (1978 till 1994)Bild vergrößern


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privaten Wirtschaft zusammenarbeiten, um Qualifizierungsmaßnahmen anzuregen und das Bewußtsein zu stärken, daß, wer höhere Löhne haben will, sich weiterqualifizieren muß, damit die Produktivität gesteigert werden kann.

Die Vertreterin des amerikanischen Arbeitsministeriums berichtete über eine ganze Reihe an Initiativen, um bestimmte Institutionalisierungselemente in den amerikanischen Arbeitsmarkt einzuziehen. Es gebe viele begrenzte Einzelmaßnahmen, die in der Summe aber dennoch Fortschritte bewirkten. Die Arbeitsbedingungen und die Gesundheit am Arbeitsplatz sollen verbessert werden. Das Arbeitsministerium hat eine Kampagne gestartet, um die Ausbeutung in der Textilindustrie und anderen Zweigen zu beseitigen. Es ist offensichtlich so, daß zahlreiche Firmen in der Textilindustrie und in anderen Zweigen keine Mindestlöhne und keine Mehrarbeit zahlen. Außerdem sollen Möglichkeiten für eine breitere Gewinnverteilung eruiert werden. Die Gewinne, die an der Wall Street gemacht wurden, die Corporate America gemacht hat, sollen auf breitere Bevölkerungsschichten verteilt werden. Mehr Gewinnbeteiligung und gleichzeitig mehr Mitwirkung für Arbeitnehmer in den Unternehmen ist das Ziel. Weitere Reformmaßnahmen betreffen: die Anhebung und Sicherstellung des Mindestlohnes, die Weiterqualifizierung, die Erweiterung der Steuergutschriften für Niedrig-Lohn-Einkommen („earned income tax credit" [Fn. 4: In Deutschland werden solche Ansätze unter dem Terminus „Negative Einkommenssteuer" diskutiert.] ), die Anhebung der Durchschnittslöhne. Eine Strategie der massiven Staatsausgaben für den Arbeitsmarkt wird von der Regierung allerdings ausgeschlossen. Veränderungen in den Arbeitsbeziehungen hatten gleichfalls ihre Auswirkungen. Der Mitgliederschwund in den Gewerkschaften, besonders in der privaten Wirtschaft - derzeit sind weniger als 10 % der Amerikaner organisiert - hat sicher zur Ausbreitung der Ungleichheit und zu sinkenden Reallöhnen beigetragen.

Ray Marshall, ehemaliger amerikanische Arbeitsminister, analysierte die negativen Begleiterscheinungen der Erfolge der amerikanischen Jobpolitik für den wirtschaftlichen Wandel in einer wettbewerbsorientierteren Weltwirtschaft auf strategischer Ebene. Er sah zwar wesentliche Unterschiede zwischen den Beschäftigungsproblemen der Vereinigten Staa-

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ten und Europa darin, daß ein größerer Teil der Arbeitslosen in Europa ein Jahr oder länger arbeitslos ist, als in den Vereinigten Staaten und daß die Arbeitslosenquoten in Europa heute höher sind. Vor analytischen Kurzschlüssen sei jedoch zu warnen. Denn im allgemeinen fördern die europäischen Systeme höhere Leistung/Produktivität und Einkommen, allerdings auch eine höhere Arbeitslosigkeit, während das politische Paradigma in den USA zwar eine schnellere Zunahme an Jobs präferiere, damit aber auch die für die Produktivität nachteiligen Niedriglohn-Optionen verfestige. Die Arbeitslosenquoten fielen noch bis vor relativ kurzer Zeit in Deutschland niedriger aus als in den USA. Der ursächliche Grund für die Arbeitslosenquote in Deutschland könne also nicht in den Beihilfesystemen (Arbeitslosen- und Sozialhilfesystem) gesucht werden, weil diese auch bereits in den Phasen geringerer Arbeitslosenquoten existierten.

Er interpretiert den Erfolg des amerikanischen Jobwunders als vordergründig, weil als Ergebnis einer strategischen Fehlentscheidung angesichts neuer Wettbewerbsherausforderungen in der Weltwirtschaft. Er unterscheidet idealtypisch zwischen zwei Strategie-Alternativen, um Wirtschaften zu organisieren, auch wenn sich beide Ansätze kombinieren lassen. Entweder die Löhne und Einkommen werden gesenkt oder man steigert die Produktivität und verbessert die Qualität der Produkte. Fakt sei jedenfalls für die USA, daß sie sich nicht mehr auf traditionelle Vorteile wie das Vorhandenenseins natürlicher Ressourcen und die Größenvorteile eines abgeschlossenen Binnenmarktes ausruhen können, dessen Funktionieren für die amerikanischen Unternehmen durch volkswirtschaftliche Maßnahmen am Leben gehalten werden konnte.

Die meisten der industriellen Hochlohnländer und auch einige der wirtschaftlich erfolgreichen Schwellenländer in Asien haben entweder stillschweigend oder ausdrücklich die Niedriglohn-Alternative ausgeschlossen. Anders die USA, wo niedrigere und ungleich verteilte Löhne in den letzten zwanzig Jahren zur Realität gehören. Die Niedriglohn-Strategie hat jedoch immanente Grenzen. Die Einkommen für den einzelnen lassen sich nur noch dadurch aufbessern, indem länger und härter gearbeitet wird, wie dies in den USA der Fall ist. Der durchschnittliche amerikanische Arbeitnehmer arbeitet für den gleichen Lohn mindestens einen Mo-

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nat pro Jahr länger als noch in den 60er Jahren. Für jeden Arbeitnehmer gibt es jedoch objektive Grenzen, härter und länger arbeiten zu können.

Die ostasiatischen Schwellenländer lehren andere Erfahrungen, die nicht mit der allgemein anerkannten Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsdoktrin des Neoliberalismus übereinstimmen, wie z.B. eine Studie der Weltbank demonstriert ("The East Asian Miracle") - auch wenn das empirische Material gerade nicht zu der Schlußfolgerung führt, wie die Weltbank meint, daß in Ostasien die Industriepolitik keine bedeutende Rolle für die wirtschaftlichen Leistungen spielt.

Als Hauptgründe für den wirtschaftlichen Erfolg erkennt man, daß zwar eine marktfreundliche Politik praktiziert wird, aber Investitionen in Bildung (besonders für Frauen) und Gesundheit vorgenommen werden. Die Verringerung der Kluft zwischen den Geschlechtern hatte als Konsequenz, daß z.B. die Fruchtbarkeitsquoten reduziert wurden und sich die Gesundheit der Kinder verbesserte. Dadurch wurde es mehr jungen Menschen ermöglicht, eine Schule zu besuchen. Außerdem verfolgten die ostasiatischen Länder eine Politik einer tendenziell gleichmäßigeren Verteilung des Wachstums. Das Beispiel lehrt: Entgegen der neoliberalen Wirtschaftstheorie war eine ungleiche Verteilung von Wohlstand und Einkommen keineswegs Voraussetzung, um die wirtschaftlichen Kräfte zu entwickeln. Die Entwicklung fand statt aufgrund einer besseren Verteilung von Wohlstand und Einkommen und einer breiten Qualifizierung der Bevölkerung.

Die meisten der Firmen in den Vereinigten Staaten verfolgen hingegen nicht die Hochlohn-Alternative, stattdessen bevorzugen sie die Niedriglohn-Praxis. Daraus erklärt sich das rasche Ansteigen der Zahl der Arbeitsplätze (das „amerikanische Jobwunder"), während sich gleichzeitig die Kluft der ungleichen Verteilung der Einkommen vertieft und die Reallöhne sinken. Eine Untersuchung der "Commission on the Skills of the American workforce", in der 2800 Interviews in 580 Firmen in 7 Ländern, einschließlich Deutschland und den Vereinigten Staaten, durchgeführt wurden, ergab, daß die meisten amerikanischen Unternehmen automatisch die Niedriglohn-Option fahren, weil sie kurzfristige Unternehmensziele realisieren wollen. Nur 5 % der Firmen haben sich für die

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Hochlohn-Alternative entschieden, in der hochproduktive Arbeitsplätze durch höhere Löhne organisiert werden.

Einer der Gründe für die Niedriglohn-Option liegt im tradierten fordistischen Massenproduktionssystem, das in den USA durch politische Maßnahmen gestützt wurde. Weil es lange Zeit sehr erfolgreich funktionierte, sind seine unterstützenden Institutionen und Maßnahmen tief verankert, was sich heute für den ökonomischen Wandel hinderlich auswirkt. Die Untersuchung zeigt, daß ein Wechsel von Massenproduktionen hin zu Systemen mit höheren Leistungen eine bewußte politische Strategie voraussetzt und daß eine solche Strategie auf Konsens aufbaut, der in den USA aufgrund der unterschiedlichen Regulierungsinstitutionen, einer stark tradierten Laissez-Faire-Kultur und der größeren Entscheidungsfreiheit der Unternehmer viel schwerer als in anderen Ländern zu erreichen ist.

Auch das amerikanische Bildungs- und Ausbildungssystem korrespondiert nicht mit einer Hochlohn-Option, weil es aus der Zeit des Massenproduktionssystems stammt. Dieses fordistische Produktionssystem konnte mit wenigen technisch und theoretisch ausgebildeten Arbeitskräften funktionieren, während das Gros der Arbeitnehmer nur eine geringe Bildung und Fertigkeiten benötigte, um Routinearbeiten ausführen zu können. Auch das amerikanische Schulsystem stützt noch diesen Produktionstyp. Es fördert sehr stark die Elite. Es tut nicht viel für die anderen - höchstens 25 % der Erwerbsbevölkerung benötigen eine College- oder Universitätsausbildung. In den USA wird viel weniger für Menschen ohne Universitätsausbildung getan als in Europa. Man kann nach Meinung von Ray Marshall davon ausgehen, daß die Zukunft der USA auch mit davon abhängt, was für die Amerikaner ohne Universitätsabschluß getan wird.

Die Unternehmen werden in den USA davon abgeschreckt, Zeit und Geld zu investieren, um Systeme mit höherer Leistung einzuführen, weil Unsicherheit entsteht, da es keine kohärente, auf Konsens beruhende (wirtschafts-)politische Maßnahmen gibt. Auch so erklärt sich, warum die Vereinigten Staaten es versäumt haben, effektiv auf wirtschaftliche Umwälzungen (wie seit der Ölpreiskrise der Siebziger Jahre) reagiert zu

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haben und statt dessen vor allem eine kostensenkende „Schrumpfungsstrategie" („Downsizing") verfolgen. Marshall erkennt in der Niedriglohn-Strategie perspektivisch die Option für die Auflösung des wirtschaftlichen Engagements in den USA, denn es gibt immer Länder mit niedrigeren Löhnen, so daß diese Aktivitäten in Länder mit niedrigeren Löhnen verlegt werden. Obwohl viele amerikanische Firmen finanzielle Ressourcen für eine Hochlohn-Umstrukturierung haben, verunsichern sie die instabilen politischen Rahmenbedingungen, weil sie nicht einschätzen können, was von einer Regierung zur anderen passiert: wie die Handelspolitik aussehen wird, ob es eine Technologie-Politik geben wird und ob sich Arbeitnehmer mit den benötigten Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt finden lassen. „Man wird also wahrscheinlich nicht umstrukturieren, wenn nicht die entsprechende Stabilität vorhanden ist, so daß man langfristig planen kann. Mir scheint es also, daß wir viele Dinge in den politischen Rahmenbedingungen tun müssen, um die Niedriglohn-Alternative auszuschließen und einen Anreiz für die Hochlohn-Alternative zu bieten", so ist seine Überzeugung.

Die strategische Alternative Produktivitätssteigerung und Qualitätsverbesserung bedeutet vor allem, daß körperliche Ressourcen durch Ideen, Fertigkeiten und Wissen ersetzt werden und darüber der technologischen Fortschritt forciert wird, der zu einer steil ansteigenden Verdienst- und Lernkurve beitragen kann. Es bietet sich die Chance, mit entsprechenden politischen Maßnahmen die Bedingungen für die Menschen in der ganzen Welt zu verbessern. Das impliziert auch, daß das strategische Ziel „nachhaltiges Wachstum" auch die externen ökologischen und gesellschaftlichen Kosten in die Produktionskosten miteinberechnet (z.B. Kosten für den Umweltschutz und Sicherung der Gesundheit der Arbeitnehmer, die normalerweise nicht einbezogen werden).

Unter modernen Bedingungen sollte daher die Politik eines Landes die Firmen ermutigen, eine höhere Leistung zu erzielen und die Niedriglohn-Alternative abzulehnen. Hochleistungsorganisationen sind auf eine höherwertige Qualität, Produktivität und Flexibilität ausgelegt und nicht auf Größenvorteile, die durch Bürokratie-Organisationen erreicht werden, in denen die Arbeitsteilung von den Arbeitnehmern nur wenig Mitdenken voraussetzt. Hochlohn-Strukturen leben von den Beteiligungsrechten

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der Mitarbeiter, dezentralisierten Entscheidungsfindungen, positiven Entlohnungssystemen und der kontinuierlichen Weiterbildung für alle Arbeitnehmer und nicht nur einer Qualifizierung für Manager und leitende Mitarbeiter. Das setzt nicht nur begrenzte Mitbestimmung voraus. Auch die Arbeitnehmer müssen über eine gewisse Macht verfügen, ohne die ein Hochlohn-System nicht gut funktionieren wird. Die Hochlohnstrategie setzt angemessene Mindestlöhne, Beihilfesysteme (oder Sozialhilfe) und starke Gewerkschaften voraus, die in den Vereinigten Staaten schwächer als in Deutschland und Europa sind. Starke Gewerkschaften zwingen Unternehmen nämlich eher zu einer Hochlohnstrategie und infolge höherer Löhne kommt es zu Produktivitätssteigerungen und Innovationen. [Fn. 5: Der Frankfurter Soziologe Karl-Otto Hondrich spricht von einem Prozeß ironischer Kooperation, um den „teutonischen Produktivitätspakt" zwischen Arbeit, Kapital und Sozialstaat zu erklären: „Ironisch, weil die Konfliktpartner darin einen ganz anderen Part spielen, als sie zu spielen meinen: Die Gewerkschaften mit ihrer Politik hoher Löhne und Sozialleistungen dienen weder der umverteilenden Gerechtigkeit noch den Arbeitslosen. Sie sind die Triebfeder der Modernisierung und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie auf den Weltmärkten. Was die Unternehmer für ihre eigenen Interessen halten - sinkende Löhne und Lohnnebenkosten, volle Kündigungsfreiheit, schwache Gewerkschaften - stellt sich ihnen zwar als bequemes Leben in Aussicht. All dies würde vielleicht tatsächlich zusätzliche Arbeitsplätze schaffen, aber zugleich der deutschen Produktivitätsdynamik den Todesstoß versetzen." Karl Otto Hondrich: Die Mär vom Ende der Arbeit, DIE ZEIT vom 4. Oktober 1996, S. 3]

Das deutsche System bietet aus gewerkschaftlicher Sicht die Voraussetzungen, soziale Gerechtigkeit und hohe Produktivität strategisch weiterzuentwickeln, gerade weil die Bundesrepublik Deutschland die mit Abstand kürzesten Arbeitszeiten hat. Nach OECD-Statistiken betrug die Arbeitszeitverkürzung von 1980 bis 1994

  • in den USA nur 2 Prozent,

  • in der Bundesrepublik rund 10 Prozent,

  • erreichte in Japan aber fast die gleiche Größenordnung wie in der Bundesrepublik. Hier wird das Bild durch den massiven Überstundenabbau in der japanischen Rezession 1993/94, also am aktuellen Rand, verzerrt.

Die begrenzte beschäftigungspolitische Expansion in der Bundesrepublik ist ausschließlich arbeitszeitbedingt. Sie wurde mit dem Verzicht auf zusätzliche Einkommenssteigerung durch die beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlt. Dementsprechend war der Rückstand in der Entwicklung der Pro-Kopf-Einkommen gegenüber der Ent-

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wicklung der Stundenverdienste in der Bundesrepublik ungleich größer als in den anderen Triadenländern. Er betrug von 1980 bis 1994

  • in den USA 4 Prozent (-4,0),

  • in Japan fast 20 Prozent (-19,3),

  • in der Bundesrepublik dagegen über 30 Prozent (-30,3).

Eine gerechtere Verteilung der vorhandenen Arbeit bleibt aus gewerkschaftlicher Sicht elementarer Bestandteil jeder Reformstrategie, die gesellschaftliche Solidarität gerade im Zeichen globaler Konkurrenz verteidigen und verwirklichen will. Die forcierte Verkürzung der Arbeitszeit als beschäftigungspolitische Priorität kann allerdings an politischen Barrieren scheitern. Arbeitszeitverkürzung wurde und wird von den Arbeitgeberverbänden bekämpft.

Arbeitszeitverkürzung droht auch an Akzeptanz in der Arbeitnehmerschaft zu verlieren - und zwar aus einkommenspolitischen Gründen:

  • Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich war verbunden mit dem Verzicht auf ansonsten mögliche zusätzliche Lohnerhöhungen.

  • Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich ist verbunden mit Lohnverzicht. Objektiv geforderte Solidarität und subjektiv überforderte Belegschaften können unvereinbar werden.

Der DGB hat ein „Szenario 2000" entwickelt, das die Reduzierbarkeit der amtlichen Arbeitslosenzahl auf 1,8 Millionen bis zum Jahr 2000 anhand der arbeitszeitpolitischen Komponente, einer investitions- und geldpolitischen Komponente und einer lohnpolitischen Komponente skizziert. Angenommen wird dabei eine zusätzliche Verkürzung der Arbeitszeit um 2 Prozent pro Jahr.

Daraus ergibt sich eine Reduzierung der amtlichen Arbeitslosenzahl um fast 1,4 Millionen. Außerdem wird eine Erhöhung der öffentlichen Investitionen um 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes im Rahmen einer abgestimmten europäischen Wachstumsinitiative vorgeschlagen. Dies bewirke eine zusätzliche Reduzierung der amtlichen Arbeitslosenzahl bis 2000 um fast 0,4 Millionen abgeleitet. Angenommen wird darüber hinaus eine Senkung des Diskontsatzes durch die Bundesbank von 0,5 Prozent

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Alternativen des DGB: Halbierung der Arbeitslosenzahl 1996 bis 2000Bild vergrößern


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gegenüber dem Trend. Daraus errechnete sich eine zusätzliche Reduzierung der amtlichen Arbeitslosenzahl um 55.000.

Eine Analyse aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung unterstreicht, daß eine ausschließlich nationale eigenständige Politik innerhalb der Weltwirtschaft immer weniger erfolgreich zu betreiben sei. Nationale Volkswirtschaften seien ohne Regelwerk nicht funktionsfähig. Genauso wenig könne eine arbeitsteilige Weltwirtschaft ohne organisatorischen Rahmen zufriedenstellend funktionieren. Es stimme hoffnungsvoll, daß die G-7 Beratungen seit 1994 auf die Beschäftigungspolitik ausgedehnt worden sind. In besonderer Verantwortung stünden die Unternehmen. Insbesondere die Großunternehmen müßten sich fragen lassen, ob ein rigoroses Downsizing nach US-Vorbild langfristig eine Erfolgsstrategie sei.

Ohne eine Renaissance der gesellschaftlichen Kompromißfähigkeit und eine Koordination der gesellschaftlichen Akteure auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene lassen sich beschäftigungspolitische Fortschritte und Produktivitätssteigerungen nicht mehr in größeren Schritten voranbringen, ist die gemeinsame Einschätzung der Referenten. Ray Marshall betont, wie notwendig eine internationale Wirtschaftspolitik ist, die auf Maßnahmen der Wertsteigerung auch in Entwicklungsländern basiert, was derzeit nicht der Fall ist. Die Weltbank und der Internationale Währungsfond und andere Institutionen zwingen Länder dazu, die Niedriglohn-Alternative zu wählen. Bisher haben es die Industriestaaten versäumt, ihre volkswirtschaftlichen Politiken zu koordinieren. Marshall plädiert für neue Institutionen zur Koordination, um das globale Wachstum anzukurbeln. Howard F. Rosen, Geschäftsführer des Competitiveness Policy CounciI, die als Beratungskommission für den amerikanischen Präsidenten und Kongreß arbeitet und ein Versuch ist, eine langfristige gesellschaftliche Kooperation für wirtschaftliche Themen in einer politischen Kultur einer nicht praktizierten Zusammenarbeit aufzubauen resümiert [ Die Kommission wurde zwar von der Regierung initiiert, die Mitglieder werden jedoch gemeinsam von der Regierung, durch die Führer des Senats und des Repräsentantenhauses ernannt und rekrutieren sich sowohl aus der Partei der Demokraten als auch der Republikaner und verschiedenen Bereichen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.] : „Ich möchte noch mal betonen, daß die volkswirtschaftlichen Zahlen nicht alles aussagen, und obwohl es große Unter-

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schiede zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland aufgrund unserer verschiedenen Modelle gibt, so gibt es doch auch viele gemeinsame Herausforderungen: wie gehen wir mit den Wachstumsproblemen um, und wie erhöht man die Produktivität, und wie verknüpft man die Produktivität und Löhne, um sicherzustellen, daß die Menschen für ihren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung entsprechend bezahlt werden."


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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