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3. Arbeitsplätze, Produktivität und Einkommen in den Vereinigten Staaten

Für die USA wird von einem „Jobwunder" oder von der „amerikanischen Jobmaschine" gesprochen: nach der OECD-Statistik gab es zwischen 1991 und 1994 dort einen Anstieg der Zahlen der beschäftigten Arbeitnehmer von 109,8 auf 114,0 Millionen und einen Rückgang der Arbeitslosenzahl von 8,4 auf 7,9 Millionen. Seit dem Höchststand der offiziellen Arbeitslosenquote von 9,6 % ist diese im Sommer 1996 auf ein Rekordtief von 5,5 % gesunken.

Es gibt allerdings in den Vereinigten Staaten lebhafte Debatten über die Gültigkeit der Statistiken. Die offizielle Definition von Arbeitslosigkeit errechnet sich nicht aus der Zahl der Arbeitslosengeldempfänger. In den USA zahlt die Arbeitslosenversicherung maximal 26 Wochen Lohnersatzleistungen und nur jeder dritte Arbeitnehmer ist überhaupt über die Arbeitslosenversicherung abgesichert. Wählte man diesen Maßstab zur Berechnung der Arbeitslosenquote, lägen die Arbeitslosenzahlen noch unterhalb der derzeitigen Arbeitslosenquote. Das Amt für Arbeitsstatistik (Bureau of Labour Statistics) befragt statt dessen monatlich 50.000 Haushalte, ob die erwerbstätigen Mitglieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und in den letzten Monaten eine Stelle gesucht haben. Sie brauchen nicht genau anzugeben, was sie für die Suche eines Arbeitsplatzes getan haben. Setzt man erweiterte Meßinstrumente zur Erfassung der Arbeitslosigkeit ein, wie sie z.B. im Amt für Arbeitsstatistik erarbeitet wurden, [Fn. 2: Darin würden auch Personen einbezogen, die sagen, daß sie dem Arbeitsmarkt zwar zur Verfügung stehen, aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr nach einer Stelle suchen können und Menschen, die Teilzeit arbeiten, aber gerne eine Vollzeitstelle hatten sowie Arbeitnehmer mit Zeitvertragen.] so würde die Arbeitslosenquote von 5,6 % auf ungefähr 10 % steigen. In den USA waren im Jahre 1993 rund 2 % der männlichen Erwerbsbevölkerung dem Arbeitsmarkt entzogen im Vergleich zu 0,3 % in Deutschland, weil sie im Gefängnis saßen. [ Vgl. Gerhard Bosch: Acht Thesen zum Arbeitsmarkt der Zukunft, in: Gerd Pohl/Claus Schäfer (Hg.): Niedriglöhne - Die unbekannte Realität: Armut trotz Arbeit, Hamburg 1996, S. 101]

Von der Rezession im Jahre 1991 erholten sich die USA, was das wirtschaftliche Wachstum angeht, relativ schnell, aber die Arbeitslosigkeit stieg weiterhin an und erreichte 1992 ihren Höchststand. 1993 setzte

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Total Nonfarm Payroll Employment January 1990 till May 1996Bild vergrößern


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The Median Wage 1979 till 1996 (first quarter)Bild vergrößern


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sich die „amerikanische Jobmaschine" in Bewegung. Auch die Inflation pendelte sich in den Vereinigten Staaten auf ein sehr niedriges Niveau ein. Ende der 80er und in den frühen 90er Jahren noch gab es wachsende Inflation, die heute unter 3 % liegt. Kombiniert man den Index der Verbraucherpreise, die Inflation und die Arbeitslosenquote, so ist das Ergebnis für den sogenannten „Elends-lndex" so niedrig wie lange nicht mehr. Das zeigt: Es ist ein starker Beschäftigungszuwachs und eine niedrige Arbeitslosigkeit ohne große Inflation erreichbar.

Viele Beobachter führen die gegenwärtige wirtschaftliche Erholungsperiode auf verstärkte Investitionsausgaben zurück. Betrachtet man die Brutto-Investitionsausgaben als ein Teil des Bruttoinlandsproduktes, so zeigt sich, daß dieser Anteil in den Achtziger Jahren sank, obwohl sich die USA in einem wirtschaftlichen Aufschwung befanden. Auch wenn die Investitionsausgaben noch unter dem Niveau in den späten Siebziger Jahren liegen, sieht sich die amerikanische Regierung hinsichtlich der Investitionsausgaben doch auf einem guten Weg. Größtenteils fließen die Investitionen in die Informationstechnologie, so daß nicht alte Maschinen durch dieselbe Technik ersetzt, sondern neue Technologien gefördert werden. Auch das amerikanische Haushaltsdefizit halbierte sich, seit Präsident Clinton im Amt ist.

Seit Januar 1993 sind in der amerikanischen Wirtschaft per saldo 9,7 Millionen Arbeitsplätze entstanden, davon 93 % im privaten Bereich. Das ist der steilste Beschäftigungszuwachs im privaten Bereich während der Amtsperiode einer amerikanischen Regierung seit Präsident Harding in den 20er Jahren. Einige Leute machen einen Witz daraus und sagen: es gibt 9,7 Millionen neue Arbeitsplätze, und ich habe 3 davon. Die Erhebungen des CounciI of Economic Advisers ergaben jedoch, daß keine nennenswerte Bewegung im Bereich Mehrfachbeschäftigung festzustellen ist. Der Anteil der Amerikaner, die mehrere Jobs haben, liegt seit Ende der 80er Jahre bei ca. 6 %. Es zeigte sich, daß der Großteil des in den letzten drei Jahren erfolgten Zuwachses an Arbeitsplätzen als Ganztagsstellen entstand. Bei ungefähr zwei Drittel dieser neuen Arbeitsplätze wird mehr als die durchschnittlichen Löhne und Gehälter gezahlt. In der Untersuchung des CounciI of Economic Advisers und des amerikanischen Arbeitsministeriums befanden sich ungefähr die Hälfte

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aller neuen Vollzeitbeschäftigungen im Februar 1994 in Einkommensbereichen oberhalb von wöchentlich 480 Dollar.

Nach den Daten des CounciI of Economic Advisers entstanden viele der neuen Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor - ungefähr 70 % waren leitende und qualifizierte Tätigkeiten, mehrheitlich also nicht „Hamburger-Flipping-Jobs". Diese Tätigkeiten liegen in den Bereichen Telekommunikation, Finanzdienstleistungen, Versicherungen, Bankwesen, Immobilien, Geschäftsdienstleistungen. Der größte Beschäftigungserfolg der USA liegt in mehr und besser bezahlten Arbeitsplätzen für Frauen. Die Frauen haben einen recht hohen und weiterhin wachsenden Anteil an der Erwerbsbevölkerung. Zwischen 1950 und 1987 hatte sich bereits der Anteil der Berufstätigen unter Frauen mit Kindern unter sechs Jahren von 12 % auf 57 % verfünffacht. Heute sind über 60 % selbst der Frauen mit einem Kind, das weniger als ein Jahr alt ist, erwerbstätig. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß von der „Jobmaschine" überwiegend Frauen profitiert haben und auch die durchschnittlichen Gehälter der Frauen gestiegen sind. Für die Frauen stiegen die Einkommen im Bereich der mittleren Löhne, obwohl dieser Anstieg in den letzten Jahren nachgelassen hat. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Löhne der Frauen auch in Vollzeitarbeit noch weit unter denen der Männer liegen.

Allerdings gibt es auch eine Kehrseite des „amerikanischen Jobwunders". Ein Grundproblem sind die zwischen den 70er und frühen 90er Jahren stagnierenden Reallöhne und -gehälter und das wachsende Einkommensgefälle. In den Jahren von 1950 bis 1978 erlebten Menschen mit hohen und niedrigen Einkommen reale Einkommenssteigerungen. Auch wenn es noch eine relativ ungleiche Verteilung der Einkommen gab, befanden sich die Vereinigten Staaten in einer Phase des gesellschaftlichen Zusammenwachsens. Seit Ende der 70er Jahre haben sich die Spaltungen zwischen Arm und Reich vertieft - nur die oberen Klassen hatten einen positiven realen Zuwachs ihres Familieneinkommens von 1979 bis 1994 zu registrieren. Betrachtet man die Wachstumsraten der Familieneinkommen von 1979 bis 1994, so kamen 97 % dieser Zuwächse den oberen 20 % der Haushalte zugute. Nur 3% der Steigerung

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der Familieneinkommen verteilten sich auf die restlichen 80% der Haushalte in den Vereinigten Staaten.

Die starke ungleiche Verteilung der Einkommen zeigt sich auch in der Entwicklung der Löhne im mittleren Feld. Während die Löhne im Gesamtdurchschnitt sich in den letzten Jahren erholten, reduzierte sich der Lohn einer Person im mittleren Feld der Einkommensverteilung real seit 1979. Für diesen mehrheitlich „weißen männlichen amerikanischen Wähler", der einen Rückgang in seinem Realeinkommen erleiden mußte, ist der Begriff „white angry man" geprägt worden. Zwischen 1973 und 1993 sind die realen Stundenverdienste von Arbeitskräften in nicht-leitenden Positionen von über 12 Dollar auf 10,80 Dollar gesunken. Die Jahresverdienste männlicher Arbeitnehmer ohne Schulabschluß sanken zwischen 1973 und 1993 real um 27%, die von Arbeitnehmern mit Highschool-Abschluß, aber ohne weitere Ausbildung um 20 %, die von Arbeitnehmern mit weiterführender Ausbildung (College) um immerhin 8%. Lediglich Universitätsabsolventen konnten sich seit 1987 steigender Realeinkommen erfreuen.

In seinem vierten Bericht an den Präsidenten und den Kongreß vom September 1995 hat das Competitiveness Policy CounciI die Entwicklung von Wachstum, Produktivität und Einkommen analysiert. Zwischen 1950 bis 1973 kam das wirtschaftliche Wachstum allen amerikanischen Familien zugute. Das reale Bruttosozialprodukt wuchs jährlich durchschnittlich um 3,8 %, das mittlere Familieneinkommen um 3,7 %. Wirtschaftswachstum hat es auch seit 1974 gegeben, wenngleich jährlich nur noch um 2,5 %. Für die meisten Amerikaner sind die Einkommen gleichgeblieben, in den unteren Quintilen sind sie gesunken, in den oberen gestiegen. Teilweise ist die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Wachstum und den Familieneinkommen auf demographische Veränderungen (mehr Frauen sind in das Erwerbsleben eingetreten, die Familien haben sich verkleinert, und es gibt einen Zuwachs an Alleinerzieher-Familien), auf abnehmende Mitgliederzahlen bei den Gewerkschaften und einen Anstieg bei den Leistungen für die soziale Sicherung (Renten- und Krankenversicherung) zurückzuführen.

Dennoch erklärt dies nicht alles. Zwischen 1950 und 1973 wuchs der reale Stundenlohn jährlich um 1,5 %, aber seit 1974 sind die realen Zu-

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1950 to 1978 -- Growing Together ; Real Family Income Growth by QuintileBild vergrößern


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1979 to 1994 -- Growing Apart ; Real Family Income Growth by QuintileBild vergrößern


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wächse jährlich um 1 % gesunken. Amerikanische Arbeitnehmer verdienen heute in der Woche fast 50 US-Dollar weniger als vor zwanzig Jahren. Dieser durchschnittliche Verlust bei den Reallöhnen läßt vermuten, daß die Stagnation bei den Familieneinkommen nicht nur auf die Veränderungen in der Struktur der Erwerbstätigen und der Entlohnung zurückzuführen ist.

Nachhaltige Verbesserungen bei den Löhnen sollten Produktivitätssteigerungen widerspiegeln. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität wuchs zwischen 1950 und 1973 jährlich durchschnittlich um 2,5 %, aber nur noch weniger als 1 % zwischen 1974 und 1989. Seit 1990 gibt es wieder leichte Produktivitätszuwächse - das durchschnittliche Produktivitätswachstum beträgt seitdem jährlich 1,75 %. Dies dürfte größtenteils auf die wirtschaftliche Erholung seit der jüngsten Rezession zurückzuführen sein, so daß es noch zu früh ist, um abschätzen zu können, ob es sich um einen nachhaltigen Trend handelt. Trotz der jüngsten Verbesserungen in der Produktivität fallen die Reallöhne weiter. Seit 1990 hat sich die Kluft zwischen wirtschaftlichem Wachstum und der Entwicklung der Gesamteinkommen (Löhne und Sozialleistungen) weiter vertieft.

Neben der schwachen Produktivität in der amerikanischen Wirtschaft, der Stagnation der Reallöhne und -gehälter seit den 70er Jahren, dem wachsenden Einkommensgefälle gibt es in den Vereinigten Staaten eine Kontroverse über das Niveau der realen Mindestlöhne, das fast so niedrig ausfällt wie vor vierzig Jahren. Noch 1968 bekam ein Mindestlohnempfänger 1,40 Dollar pro Stunde, was 1996 6,70 Dollar entspricht und ausreichen würde, daß ein Dreipersonenhaushalt zu 20 % über der offiziellen Armutsschwelle läge. 1996 ist der Mindestlohn jedoch gerade einmal von 4,25 $ auf 4,75 $ angehoben worden.

Selbst dieser Mindestlohn wird in bestimmten Wirtschaftssektoren nicht bezahlt. Nach Schätzungen zahlen mindestens 50 % der Firmen in der Textilindustrie weder Mindestlöhne noch Überstunden. Auch wenn derzeit nur ca. 6 % (etwa 10 Millionen Arbeitnehmer) der Amerikaner den Mindestlohn erhalten, so ist er sehr wichtig für Arbeitende im Niedriglohnsektor, die realisieren müssen, daß eine Arbeit mit Mindestlohn sie oft nicht einmal über die Armutsgrenze bringt. Beobachter glauben des-

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halb, daß ein Anstieg des Mindestlohns sehr wichtige Konsequenzen für viele Arbeitnehmer in den Vereinigten Staaten hätte, auch wenn der Anstieg des Mindestlohns allein nicht ausreichte, betroffenen Arbeitnehmerfamilien mit zwei oder mehreren Kindern aus der Armut herauszukatapultieren.

Die individuelle Dauer der Arbeitslosigkeit ist in den USA seit den 70er Jahren nicht gestiegen. Allerdings finden nur ein Drittel der Amerikaner, die arbeitslos wurden, anschließend wieder eine Stellung zum selben oder sogar höheren Lohn. Zwei Drittel der Arbeitslosen finden entweder keine neue Stelle oder nur zu weitaus geringeren Löhnen und Gehältern. Nach einer Analyse des Bundesamtes für Arbeitsstatistik hatten zwischen 1991 und 1992 ungefähr 25% der Entlassenen die Stellensuche eingestellt oder noch keine Arbeit gefunden. Nach Untersuchungen des Nationalen Büros für Wirtschaftsforschung liegen die Einkünfte eines entlassenen und wieder in Arbeit gekommenen Arbeitnehmers sechs oder mehr Jahre nach der Entlassung ungefähr 10 % unter dem Einkommen, das er in seiner früheren Stellung hatte. Analysen belegen, daß die Entlassungsquote bei besser ausgebildeten Arbeitnehmern gestiegen ist, die vorher größtenteils nicht mit der Gefahr des Arbeitsplatzverlustes konfrontiert waren.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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