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[Seite der Druckausgabe: 34 / Fortsetzung]

4. Zusammenfassung: Perspektiven der Textilindustrie in den neuen Bundesländern

Die Zukunftsperspektiven der ostdeutschen Textilindustrie müssen vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung der Branche in Deutschland und in Europa gesehen werden. Dabei ist festzustellen, daß wohl nur hochrationelle und kapitalintensive Produktionen aufrecht erhalten werden können, die mit einem außerordentlichen Investitionsbedarf verbunden sind. Nur so können die Unternehmen gegen die Konkurrenz aus Niedriglohnländern bestehen. Darüber hinaus muß sich die gesamte Branche von der Herstellung von Standarderzeugnissen hin zu hochwertigen Produkten orientieren, die ein erhebliches technologisches Know-how erfordern.

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Eine derartige Textilindustrie wird erheblich weniger Arbeitsplätze zur Verfügung stellen können, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Einzelbeispiele für hochrationelle Produktionsstätten in den neuen Bundesländern zeigen, daß für den Erhalt von etwa 120 Arbeitsplätzen 40 Millionen DM investiert werden mußten. Diese Investitionsbereitschaft einzelner Unternehmer zeigt aber auch, daß es in Ostdeutschland auch zukünftig eine Textilindustrie geben wird, die sich auf das vorhandene Humankapital und das in den Unternehmen bei Mitarbeitern und Führungskräften konzentrierte Know-how stützt.

Es werden sich somit in den neuen Bundesländern ähnliche Strukturen im Bereich der Textil- und Bekleidungsindustrie herausbilden, wie sie sich auch in Westdeutschland und in anderen europäischen Ländern finden. Die Zukunftsperspektiven einer angepaßten Textil- und Bekleidungsindustrie in Ostdeutschland sind vor dem Hintergrund dieser Überlegungen durchaus positiv zu beurteilen, da hier z.Z. diejenigen Investitionen, zumindest in Einzelfällen, vorgenommen werden, die die Wettbewerbsfähigkeit langfristig sichern und die aufgrund von Kapitalmangel in vielen westdeutschen Unternehmen z.Z. nicht in angemessenem Umfang durchgeführt werden können. In Ostdeutschland kann somit langfristig eine hochmoderne Textil- und Bekleidungsindustrie entstehen, die auch den Konkurrenten aus Westdeutschland und anderen europäischen Ländern überlegen sein wird.

Die Aussichten für den Erhalt aller ostdeutschen Textilstandorte müssen allerdings äußerst skeptisch bewertet werden. Viele Forderungen, die heute auf den unterschiedlichsten Tagungen und in den verschiedensten Gremien erhoben werden, und auch die Maßnahmen, die derzeit in der Treuhandanstalt, in den Landesregierungen und im Bundeswirtschaftsministerium zur Rettung der Standorte erwogen werden, kommen für viele Textilunternehmen sicher zu spät. Nur kurzfristig wirksame Maßnahmen können noch den letzten Rest der Textil- und Bekleidungsindustrie in Ostdeutschland retten.

Ähnlich wie in Sachsen müssen auch in den anderen Bundesländern zunächst einmal diejenigen Unternehmen erfaßt und aufgelistet werden, die weiterhin aus regional- und industriepolitischen Gründen als förderungswürdig angesehen werden. Für diese Unternehmen muß es ein

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"Moratorium" geben - keines der Unternehmen darf kurzfristig liquidiert werden. Diese Forderung muß von den Betroffenen in den Regionen auch mit öffentlichem Druck durchgesetzt werden. Den Gewerkschaften, den Betriebsräten und den Mitarbeitern wird daher zusätzliches Engagement abverlangt.

Mit geeigneten Investitionen kann die Produktivität in den ostdeutschen Textilunternehmen durchaus an den westdeutschen Standard herangeführt werden. Diese Investitionen, der Aufbau eines funktionierenden Vertriebsnetzes und die Gewinnung eines Kundenstammes erfordern aber vor allem Zeit - ein Umstand, den die Länderregierungen und die Treuhandanstalt im Rahmen ihrer Förderpolitik berücksichtigen müssen. Entsprechende Maßnahmen bedürfen also einer konzertierten Aktion aller Verantwortlichen in den neuen Bundesländern, wie sie sich im Rahmen "Sachsentisches" schon ansatzweise als erfolgreich erwiesen hat.

Weitere Maßnahmen, die zur Rettung des Kerns der ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie immer wieder genannt werden, sind:

  1. Die Präferierung ostdeutscher Anbieter bei öffentlichen Ausschreibungen und Beschaffungen.

  2. Aufbau eines "Versandhauses für Ostdeutschland", das sich speziell auf den Vertrieb ostdeutscher Produkte konzentriert.

  3. Etablierung von regionalen Arbeitsgruppen für den Bereich der Textil- und Bekleidungsindustrie, die sich aus den Unternehmensvertretern zusammensetzen und bei den Industrie- und Handelskammern angesiedelt sein könnten.

  4. Einführung von befristeten, degressiven Lohnkostenzuschüssen für förderungswürdige Unternehmen.

  5. Mehrwertsteuerpräferenzen für ostdeutsche Produkte.

  6. Ausschöpfung aller Förderprogramme.

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  1. Kooperation mit polnischen und anderen osteuropäischen Partnerunternehmen.

All diese Maßnahmen sind letztendlich mit höheren finanziellen Belastungen verbunden. Ohne die Bereitschaft der politischen Entscheidungsgremien, diese Belastungen zu tragen und konkrete Maßnahmen zu ergreifen, wird auch ein großer Teil der noch bestehenden Unternehmen der ostdeutschen Textil- und Bekleidungsindustrie in den nächsten Monaten vom Markt verschwinden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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