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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 1]

Der Wirtschaftsstandort "Neue Bundesländer"



I. Einführung

  1. Es ist fast genau zwei Jahre her, seit mit dem Inkrafttreten des Vertrages zur Errichtung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der Startschuß für die Integration der beiden deutschen Wirtschaftsteile gegeben wurde. Obwohl schon damals abzusehen war, daß die plötzliche Übertragung eines marktwirtschaftlichen Ordnungssystems auf die bis dahin sozialistische Planwirtschaft Ostdeutschlands nicht ohne beträchtliche Produktionseinbußen und erhebliche Arbeitsplatzverluste bleiben könnte, gab es Stimmen, die die Einführung der D-Mark als Garant für eine schnelle Wirksamkeit der neuen marktwirtschaftlichen Anreizmechanismen ansahen und daraus auf eine rasche Überwindung der Anpassungskrise schlössen. Die mit der deutschen Einheit verbundenen wirtschaftlichen Herausforderungen wurden vielfach unterschätzt. Insbesondere wurde übersehen, daß die Bedingungen für die Entfaltung marktwirtschaftlicher Antriebskräfte wegen ungeklärter Eigentumsfragen und fehlender Verwaltungskapazität zunächst äußerst schlecht waren. Falsch eingeschätzt wurde vielfach auch der große Zeitbedarf, der für die Modernisierung der ostdeutschen Wirtschaft vor allem aufgrund des völlig veralteten Kapital Stocks, überholter Technologien und beträchtlicher Umweltaltlasten nötig ist. Unterschätzt wurde aber auch, in welchem Umfang die ausgeprägte Wettbewerbsschwäche der ostdeutschen Unternehmen durch ein Voraneilen der Einkommensansprüche der ostdeutschen Bevölkerung vor den erzielbaren Produktivitätssteigerungen weiter verschärft werden würde.

  2. Die ersten beiden "Transformationsjahre" in den neuen Bundesländern sind selbst für vorsichtige Prognostiker in vielerlei Hinsicht enttäuschend verlaufen. Mitte 1990 setzte in Ostdeutschland eine der tiefsten ökonomischen Krisen in der europäischen

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    Wirtschaftsgeschichte ein. Das Niveau der industriellen Produktion ist seither um fast zwei Drittel gesunken. Inzwischen ist die Talsohle der Transformationskrise zwar durchschritten, aber die Aufwärtsbewegung ist noch schwach und keinesfalls selbsttragend. Gewiß gibt es viele Hoffnungszeichen und in einigen Sektoren, wie in Teilen des tertiären Sektors und der Bauwirtschaft, schon klar erkennbare Aufwärtsentwicklungen. Vielfach sind die Besserungstendenzen jedoch in solchen Sparten zu sehen, die einen regional beschränkten Absatz aufweisen und nicht zum Entstehen einer Exportbasis beitragen, die auch überregionale Nachfrage auf sich ziehen könnte. In diesen Produktionsbereichen, die einer intensiven, teilweise weltweiten Konkurrenz ausgesetzt sind, erscheint die Lage nach wie vor düster. Zwar sind mit erheblichen Privatisierungsfortschritten und anziehenden Investitionen auch in diesen Bereichen die Voraussetzungen für eine Belebung der wirtschaftlichen Aktivität besser geworden. Aber es entstehen bei weitem noch nicht genügend international wettbewerbsfähige Produktionen.

  1. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, daß auch zwei Jahre nach der Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion noch immer eine große Unsicherheit über die mittelfristigen Perspektiven der ostdeutschen Wirtschaft vorherrscht. Wie stark wird die Wachstumsdynamik sein, welche Wirtschaftsstruktur wird sich entwickeln und welche Folgen wird das für den Arbeitsmarkt haben? Diese Fragen bewegen nicht nur die Bevölkerung in den neuen Bundesländern. Auch in Wissenschaft und Politik wird noch immer darüber gestritten, ob die neuen Bundesländer nun vor einem zweiten Wirtschaftswunder stehen, das vielleicht schon angestoßen ist, aber aufgrund der Ausreifungszeit von Investitionen und der nur allmählichen Ausbreitung selbstverstärkender Effekte noch nicht klar in den Statistiken erkennbar ist, oder ob eine Deindustrialisierung der neuen Bundesländer droht, die sie zu einem deutschen Mezziogiorno machen könnte (vgl. jüngst Gornig, 1992).

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    Die Frage nach den Standortbedingungen in den neuen Bundesländern, die im folgenden aufgegriffen wird, ist zentral für die mittelfristigen Entwicklungsperspektiven Ostdeutschlands. Wenn es keine attraktiven Standortbedingungen für den Aufbau überregional absetzbarer Produktionen gäbe, oder wenn den Standortvorteilen dauerhaft allzu gewichtige Standortnachteile gegenüberstünden, könnte nicht damit gerechnet werden, daß sich die Unternehmen zu größeren Investitionen in den neuen Bundesländern bereit finden; es müßte in der Tat mit einer anhaltenden Wirtschaftsschwäche gerechnet werden. Aus theoretischer Sicht ist eine ebenso einfache wie bestechende Antwort auf die Frage nach den Standortbedingungen möglich. Die ostdeutsche Wirtschaft besitzt einen sehr geringen Bestand an rentabel nutzbarem Kapital, aber ein großes Potential an solide ausgebildeten und leistungsbereiten Arbeitskräften. Kapital ist im Verhältnis zur Arbeit in extremer Weise knapp. Daher müßte es nach ökonomischer Theorie viele rentable Investitionsmöglichkeiten geben, die westdeutsche und internationale Kapitalanleger anlocken. Nach dieser Sichtweise ist es also vor allem das hohe Angebot an Arbeitskräften mit einer im allgemeinen guten Grundausbildung, das als Standortvorteil der neuen Bundesländer zu werten ist. Die Gegenthese lautet, daß die Arbeitskräfte mobil sind und daß es in vielen Fällen für die Unternehmen attraktiver ist, in Westdeutschland zu investieren und die nötigen Arbeitskräfte für zusätzliche Produktionskapazitäten in Ostdeutschland anzuwerben. Der ostdeutsche Markt sei als Absatzmarkt attraktiv, aber nicht als Standort für industrielle Produktionskapazitäten.

  1. Im folgenden soll die Frage nach der Güte des Wirtschaftsstandortes "Neue Bundesländer" nicht nur diagnostisch, sondern auch mit ihren wirtschaftspolitischen Implikationen aufgegriffen werden. Dazu ist es zunächst erforderlich, sich die Rahmenbedingungen, vor allem die Wettbewerbs- und die Kostenbedingungen, zu vergegenwärtigen, unter denen die Unternehmen derzeit und in absehbarer Zukunft in Ostdeutschland operieren. Dies ist gewissermaßen der analytische Hintergrund, um die dann folgenden empirischen, teils auf Umfragen beruhenden Aussagen über Investitionen und Investitionsmotive in Ostdeutschland bewerten zu können. In dieser empirischen Analyse werden das Niveau und die

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    Struktur der Investitionen in den neuen Bundesländern analysiert; zusätzlich wird untersucht, welche Motive für westdeutsche und ausländische Investoren maßgeblich waren, um in den neuen Bundesländern zu investieren. Dem Urteil der Unternehmen sollte bei der Bewertung des Wirtschaftsstandortes "Neue Bundesländer" ein großes Gewicht beigemessen werden. Dem diagnostischen Abschnitt folgt eine Analyse der wirtschaftspolitischen Implikationen. Hierbei soll dargelegt werden, was die Wirtschaftspolitik dazu beitragen kann, die neuen Bundesländer als Standort attraktiver und wettbewerbsfähiger zu machen. Es geht in diesem Abschnitt nicht um die Detailkritik an einzelnen wirtschaftspolitischen Entscheidung, sondern vielmehr darum, die Breite der anstehenden wirtschaftspolitischen Aufgabe zu verdeutlichen und einige Hinweise auf besondere Dringlichkeiten zu geben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | November 2000

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