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[Seite der Druckausgabe: 15 / Fortsetzung]

3. Die gesamtwirtschaftliche Lage in Ostdeutschland

Die Betrachtung der wirtschaftlichen Lage Ostdeutschlands zeigt, welche Verantwortung der Treuhand bei der Erneuerung und dem Aufbau der Wirtschaft, vor allem aber der Industrie zukommt.

Die Krise in der ostdeutschen Wirtschaft ist noch nicht behoben. Die gesamtwirtschaftliche Produktion erreichte zwar im Sommer 1991 ihren Tiefstand, die danach erwartete wirtschaftliche Belebung blieb aber aus. So bewegt sich das Bruttosozialprodukt heute auf einem Niveau, das etwa halb so hoch ist wie vor der Wiedervereinigung. Auch für die nähere Zukunft gibt es kaum Anzeichen für eine deutliche Produktionsbelebung. Zwar wird für 1993 eine

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höhere Zuwachsrate des Bruttoinlandprodukts erwartet als 1992, es handelt sich nach Auffassung des IfW (Institut für Weltwirtschaft) aber nicht um eine sich selbst tragende Aufwärtsbewegung.

Besondere Sorge bereitet die Lage in der Industrie, insbesondere in den Investitionsgüterbranchen. Dort lag im Sommer 1992 die Produktion um zwei Drittel niedriger als vor dem Fall der Mauer. In der Bauwirtschaft und dem Dienstleistungsgewerbe dagegen hat der Aufschwung begonnen. Im ersten Halbjahr 1992 wurde im Baugewerbe fast ein Drittel mehr hergestellt als ein Jahr zuvor. Auch bei der Nachrichtenübermittlung, bei Banken und Versicherungen, in Dienstleistungshandwerk, im Einzelhandel und bei den Freien Berufen ging es - wenn auch in unterschiedlichem Tempo - weiter aufwärts. Lediglich im Großhandel und im Verkehrsgewerbe kam es zu einem leichten Rückgang.

a) Industrielle Produktion weiter auf dem absteigenden Ast

Daß die industrielle Produktion innerhalb von eineinhalb Jahren auf ein Drittel gefallen ist, zeigt wie dramatisch die Lage in der ostdeutschen Industrie ist. Die Anpassung an marktwirtschaftliche Bedingungen macht einen Strukturwandel notwendig, der mehr Zeit in Anspruch nimmt, als erwartet wurde. Viele Unternehmen haben diesen Umstellungsprozeß bis heute nicht bewältigt: es fehlen Absatzmärkte, die Entwicklung neuer marktgängiger Produkte liegt weitestgehend im argen, die nach wie vor hohen Produktionskosten machen es unmöglich, im internationalen Wettbewerb zu konkurrieren.

Nur in den Branchen, die für lokale Märkte produzieren oder die von der Belebung in der Bauwirtschaft profitieren, gibt es kaum noch Absatzprobleme. In anderen Bereichen dagegen, vor allem in Teilen der Investitionsgüterindustrie, geht es auch jetzt noch abwärts. Besonders prekär ist die Lage von Unternehmen, die in hohem Maße von Lieferungen in die GUS-Staaten abhängig sind und sich bisher auf die Absicherung ihrer Exporte durch Hermes-Bürgschaften verlassen haben.

Aber nicht nur die Schwierigkeiten im Geschäft mit den traditionellen Auslandskunden wirken sich belastend aus, auch die nachlassende Konjunktur im In- und Ausland macht sich bemerkbar. So lassen auch die Auftragseingänge nicht erwarten, daß sich die Produktion in den nächsten Monaten erholen wird.

Trotz der hohen Zahl von Privatisierungen nehmen die Treuhandunternehmen nach wie vor eine Schlüsselposition in der ostdeutschen Industrie ein. In den Bereichen Metallverarbeitung, Gießerei, Maschinenbau, Chemie, Textil- und Bekleidung sowie Lederverarbeitung stellen sie die Mehrzahl der Betriebe. Laut einer Umfrage des DIW geht ein großer Teil der Treuhandunternehmen von einer baldigen Privatisierung aus. In einigen Bereichen, insbeson

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dere der Investitionsgüterindustrie und der Chemischen Industrie, gestaltet sich der Verkauf der Unternehmen aber als äußerst schwierig. Manche Kombinate oder Betriebe sind schon einfach wegen ihrer Größe, die auch westdeutsche Großunternehmen oder Banken überfordert, unverkäuflich.

Entsprechend der bisher praktizierten Politik der Treuhand werden sanierungsfähige Unternehmen, die vorerst nicht verkauft werden können, erhalten. Die Sanierungsfähigkeit wird von der Treuhand anhand von Bilanzen und Unternehmenskonzepten beurteilt. Aufgrund unzureichender Daten und Informationen (bei Eröffnungsbilanzen treten Fehler bis zu ± 100% auf) sind diese Bewertungen jedoch oft fehlerhaft. Zudem hat bisher rund ein Fünftel der Unternehmen dieses geforderte Konzept noch nicht geliefert bzw. von der Treuhand eine Ablehnung des vorgelegten Konzeptes erhalten. Trotzdem hat die Treuhand rund 70 Prozent ihrer Unternehmen als sanierungsfähig eingestuft. Laut Aussagen des Bundesfinanzministeriums liegt dieser Beurteilung allerdings eine sehr wohlwollende Betrachtung zugrunde. Das wird auch daran deutlich, daß sich unter den als sanierungsfähig eingestuften Unternehmen besonders viele Betriebe des Maschinenbaus, der Chemie und sogar der Textil- und Bekleidungsindustrie sowie überraschenderweise auch viele Großbetriebe befinden. Es liegt die Vermutung nahe, daß die Treuhand sich bei der Bewertung der Unternehmen nicht nur von betriebswirtschaftlichen Kriterien leiten läßt, sondern auch die Auswirkungen von Betriebsstillegungen auf die allgemeine und insbesondere die regionale Wirtschafts- und Beschäftigungslage berücksichtigt. Dies wird auch durch die Aussage der Treuhand bestätigt, daß bestimmte Großunternehmen auch dann nicht geschlossen werden können, wenn kein Käufer in Sicht und die Sanierung sehr teuer und mit großen Unwägbarkeiten belastet ist.

Nach wir vor befindet sich das verarbeitende Gewerbe in Ostdeutschland in einer schwierigen Situation. Lediglich Unternehmen, die schon vor 1990 in privater Hand waren, und die seit 1990 gegründeten Unternehmen haben keine nennenswerten Probleme. Unternehmen dagegen, die von der Treuhand in private Hände übergegangen sind, kämpfen zum größten Teil mit beträchtlichen Schwierigkeiten im Wettbewerb. Vielfach haben sich Käufer von Treuhandbetrieben verkalkuliert: z. B. hinsichtlich des Exports in die GUS-Staaten oder auch in Betrieben, die vom eigenen Management übernommen wurden (MBO). So sieht sich die Treuhand in vielen Fällen gezwungen, diese eigentlich schon privatisierten und damit auch nicht mehr in ihrem Verantwortungsbereich liegenden Unternehmen weiterhin zu betreuen und ihnen organisatorische und auch finanzielle Hilfen zukommen zu lassen.

Mit Abstand die meisten Wettbewerbsprobleme aber werden von Unternehmen im Besitz der Treuhand gemeldet. Nur ein Fünftel von ihnen berichtet, keine nennenswerten Absatzschwierigkeiten zu haben. Aber selbst diese Angaben zeichnen nach Einschätzung des DIW ein zu positives Bild der tatsächlichen Lage.

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Den Schwierigkeiten der Unternehmen liegt meist ein ganzes Bündel von Einzelproblemen zugrunde: Treuhandunternehmen leiden besonders unter einem Mangel an Finanzmitteln für Investitionen (die Treuhand sichert lediglich die Finanzierung des laufenden Betriebs durch sogenannte Liquiditätskredite). Daneben resultieren ihre Wettbewerbsprobleme offensichtlich daraus, daß das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht stimmt. Außerdem fehlt es immer noch an der Entwicklung und Einführung neuer Produkte, die für Firmen, die ihre Märkte in Mittel- und Osteuropa verloren haben, von besonderer Bedeutung sind. Andere Umstellungshemmnisse liegen in den ungeklärten Eigentumsverhältnissen, einer unzureichend arbeitenden Verwaltung, Mängeln in der Wirtschaftsförderung und innerbetrieblich nach wie vor bestehender Personalüberhänge bzw. einem Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, vor allem im Management.

Die ostdeutsche Industrie bemüht sich mit Nachdruck, neue Märkte im Inland und im westlichen Ausland zu erschließen. Insbesondere Treuhandunternehmen rechnen sich immer noch Absatzchancen auf osteuropäischen Märkten aus. Daneben versuchen die Unternehmen die Produktionskosten durch die Modernisierung ihrer Anlagen, die Verbesserung der innerbetrieblichen Organisation sowie die Qualifizierung ihrer Beschäftigten zu senken. Treuhandunternehmen, die übrigens immer noch und zurecht besonderen Handlungsbedarf bei der Umstellung ihrer Produktion sehen, wissen, daß sie ohne Hilfe von außen nicht weiterkommen. Wird ihnen privates Kapital und Know-how nicht schnellstmöglich durch eine Privatisierung zugeführt, sind sie auf eine stärkere Unterstützung durch die Treuhand, aber auch auf die Verbesserung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen angewiesen. Konkret wünschen die Treuhandunternehmen sich die Sanierung ihres Betriebs sowie die finanzielle Unterstützung durch die Treuhand (Entschuldung, Liquiditätshilfen). Daneben verlangen sie Hilfen zur Ankurbelung des Absatzes, wie Beratung, Informationen über mögliche Abnehmer sowie die Vermittlung von Kunden-Kontakten. Darüber hinaus ist die Stützung des Osteuropageschäfts immer noch von großer Bedeutung. Private Unternehmen fordern in erster Linie staatliche Investitionshilfen, die aber von zahlreichen Treuhandunternehmen ebenfalls gewünscht werden. Von geringer Bedeutung dagegen ist die Frage der Ausstattung mit Eigenkapital.

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b) Die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt noch nicht in Sicht

Ende 1989 waren in Ostdeutschland fast 10 Millionen Personen erwerbstätig. Derzeit dürften noch etwa 6 Millionen Menschen beschäftigt sein, darunter jedoch nahezu eine halbe Million im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Auch im ersten Halbjahr 1992 setzte sich der Abbau von Arbeitsplätzen nahezu unvermindert fort. Er wird auf jeden Fall bis Ende des Jahres anhalten. Bis dahin werden noch rund eine Viertelmillion Arbeitsplätze wegfallen.

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Auch für das kommende Jahr planen die Unternehmen eine weitere Senkung des Personalbestands. Für das Jahr 1993 wird mit einer Abnahme der beschäftigten Arbeitnehmer auf 5,3 Millionen Personen gerechnet. Die Wende auf dem Arbeitsmarkt ist also vorerst nicht absehbar.

Anders als in Westdeutschland hängt der Grad der Beschäftigung in den neuen Ländern weniger von der wirtschaftlichen Entwicklung als vielmehr von gesetzlichen und administrativen Regelungen ab. Dabei handelt es sich etwa um Kündigungsschutzabkommen, Kurzarbeitergeld, die Personalpolitik der Treuhandanstalt und den Einsatz arbeitsmarktpolitischer Instrumente. Konsequenz ist, daß der Personalabbau nicht so schnell stattgefunden hat, wie es die wirtschaftliche Lage der Unternehmen eigentlich erfordert hätte. Dies hat insbesondere den notwendigen Umstellungsprozeß in den Treuhandbetrieben verzögert, die deshalb mehr als die privaten Unternehmen unter den hohen Personalkosten leiden. Der Rückgang der Beschäftigung ist aber nicht zuletzt eine Folge der stark angestiegenen Lohnkosten. Die meisten Unternehmen konnten diesen Kostendruck nicht durch die Erneuerung des Produktionsapparates und die Umstellung auf eine sich durch eine höhere Wertschöpfung auszeichnende Produktion auffangen. So erhöhten sich die Lohnstückkosten in der ostdeutschen Wirtschaft im ersten Halbjahr 1992 um fast ein Viertel gegenüber 1991 und lagen damit bei 218 Prozent des westdeutschen Niveaus.

Besonders kritisch ist der Beschäftigungsrückgang in der Industrie zu bewerten: Von rund 2,6 Millionen Erwerbstätigen werden Ende 1992 weniger als l Million bleiben. Im Laufe des Jahres 1993 werden insbesondere in den Treuhandunternehmen weitere Arbeitnehmer ihren Job verlieren. In Branchen mit voraussehbaren Umsatzeinbußen ist mit einem Rückgang der Beschäftigung zwischen einem Fünftel und einem Drittel zu rechnen. Auch Kurzarbeit wird in Treuhandunternehmen nach wie vor an der Tagesordnung bleiben.

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c) Fazit: Entindustrialisierung muß gestoppt werden, eine zukunftsträchtige Industrie aufgebaut werden

Die Industriedichte in den neuen Bundesländern ist heute - am Stand der Beschäftigung gemessen - noch nicht einmal halb so hoch wie in Westdeutschland. Bezieht man die Industriedichte aber auf Aufträge und Umsatz, liegt sie sogar unter 20 % des Westniveaus. Die Entindustrialisierung der neuen Länder ist somit keine drohende Gefahr, sondern bereits Realität.

Soll aber Ostdeutschland nicht ewig am Tropf der westdeutschen Wirtschaft hängen, muß auf die Sektoren der Wirtschaft bezogen eine ähnliche Struktur erreicht werden wie im Westen. Dies setzt unabdinglich den Erhalt und Neuaufbau der Industrie in den neuen Ländern voraus. Notwendig für eine gesunde selbständige Wirtschaft in Ostdeutschland ist der Bestand von

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rund 2 Millionen industrieller Arbeitsplätze. Dringend erforderlich ist zunächst der Erhalt aller vorhandenen überlebensfähigen Arbeitsplätze, deren größter Teil sich im Verantwortungsbereich der Treuhand befindet. Denn ohne eine industrielle Basis, in der auch Großunternehmen ihren Platz haben, kann mittelfristig auch keine ausreichende Schaffung von Arbeitsplätzen im Mittelstand gewährleistet werden. Die gut 2-jährige Entwicklung nach der wirtschaftlichen Wiedervereinigung zeigt, daß der Mittelstand im Handwerk und Dienstleistungsbereich den Abbau industrieller Arbeitsplätze nicht zu kompensieren vermag.

Erhalt und Schaffung rentabler industrieller Arbeitsplätze sind deshalb das A und 0 wirtschaftlicher Gesundung in den neuen Ländern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 1999

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