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[Seite der Druckausgabe: 37 / Fortsetzung]

VII. Schlußfolgerungen am Ende der Saison 1992: Tourismuskonzepte für Thüringen



1. Die Saison 1992 und erste Schlußfolgerungen

Mit dem bisherigen Verlauf des touristischen Jahres 1992 ist man nach Auskunft des Thüringer Landesfremdenverkehrsverbandes zufrieden. Nach dem Rückgang von 17,2 Mio. Übernachtungen im Jahr 1988 auf 4,4 Mio. Übernachtungen im Jahr 1991 kann es allerdings auch nur besser werden. Und so sind die Steigerungsraten von durchschnittlich 20 Prozent, die für 1992 erwartet werden, entsprechend zu gewichten. Der Durchbruch muß in der zweiten Hälfte des Jahres erfolgt sein. Pauschal zeigt nämlich die Statistik zwischen den Berichtszeiträumen Mai bis Dezember 1991 und Januar bis Juli 1992 keine nennenswerte Bewegung:

Von Mai bis Dezember 1991 wurden 971.000 Ankünfte und 2.873.000 Übernachtungen gezählt, die zu einer durchschnittlichen Aufenthaltsdauer von 3,0 Tagen führten. Der Ausländeranteil lag bei den Ankünften bei 5,9 Prozent, bei den Übernachtungen bei 5,25 Prozent.

Von Januar bis Juli 1992 lag die Zahl der Ankünfte bei 963.000, die der Übernachtungen bei 2.907.000 die durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag ebenfalls bei 3,0 Tagen. Der Anteil von Gästen aus dem Ausland lag bei den Ankünften bei 5,4 Prozent, bei den Übernachtungen bei 4,7 Prozent. Die Zahl der Beherbergungsbetriebe hat sich von Dezember 1991 bis Juli 1992 von 820 auf 1.035 erhöht. Die Zunahme entstand vor allem bei Hotels (+ 59), Gasthöfen (+ 54), Pensionen (+ 46) und Hotels garni (+ 13). Die durchschnittliche Auslastung der Betten stieg vom Zeitraum Mai bis Dezember 1991 bis zum Zeitraum Januar bis Juli 1992 um 1,4 Prozent, wobei jede Unterkunftsart außer den Hotels (- 2,4%) und Freizeitzentren (- 7,6%) profitierte.

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Da jedoch pauschale statistische Zahlen viele wichtige Einzelergebnisse verschleiern, sollen hier einige Besonderheiten aufgeführt werden, die der Thüringen Landesfremdenverkehrsverband bereits vor Abschluß des Jahres 1992 vorlegte. Aus ihrer Deutung erst sind Schlüsse für eine zukünftige Entwicklung zu ziehen. Kritisch muß angemerkt werden, daß die unzureichenden und unvollständigen Informationen über Gästezahlen, Aufenthaltsdauer und sonstige sozio-demographische Merkmale, die dem Thüringer Landesfremdenverkehrsverband zur Verfügung gestellt werden, eine sinnvolle Arbeit sehr erschweren. Selbst aus Orten, die Kurtaxe erheben und folglich über Daten verfügen müßten, kamen z.T. nur sehr pauschale Angaben. Dieser Umstand mag mit der knappen Personaldecke in den Ämtern begründet sein, u.U. fehlt auch (noch) die Einsicht darüber, daß Informationen über die Gäste und ihre Wünsche eines der wichtigsten Marketing-Instrumente darstellen.

Es meldeten z.B. Orte einen Auslastungsgrad, der die Vermittlung von Gästen in Nachbargemeinden nötig machte; zugleich meldeten sie aber auch ein Sommerloch im größten Hotel des Ortes. Daraus kann man schließen, daß rund um das "Sommerloch" die Nachfrage besonders groß war und in den Sommermonaten ausblieb, oder daß im Sommer alle Unterkünfte außer diesem Hotel von Gästen gut frequentiert waren (Friedrichroda). Für die letzte Vermutung spricht der Bericht aus Oberhof, in dem Hotels eine Auslastung im Juli/August '92 zwischen 30 und 70 Prozent meldeten. Ohne Differenzierung der Saison gibt Tabarz die Zahl von Ankünften und Übernachtungen an, die im gesamten Jahr 1991 erzielt wurde, so daß das Ergebnis hochgerechnet einen Zuwachs in zweistelliger prozentualer Größenordnung ergeben kann (ca. 20 Prozent mehr als im Vorjahr). In Lauscha hat sich die Zahl der Übernachtungen von 1991 bereits im Zeitraum Januar bis August 1992 verdreifacht: das ergibt einen Zuwachs in dreistelliger Größenordnung (+200% bei 110 Gästebetten im Ort). Für den gesamten Raum Thüringer Wald schwankt die Auslastung (zugrunde liegende Zahlen bis einschließlich August 1992) zwischen 13 und 70 Prozent. Die Nachfrage richtet sich besonders auf Ferienwohnungen und Bungalows, besonders interessiert zeigten sich Urlauber an Wanderungen am Rennsteig und an Tagesbesuchen - vor allem in den Städten.

Aus den Informationen über den Verlauf des 1. Halbjahres zieht der Thüringer Fremdenverkehrsverband Ansätze für die zukünftige Arbeit:

  • Das Bettenangebot besonders in den größeren Städten sei zu erhöhen,

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  • die Bettenzahl in den Urlaubsgebieten muß durch die Wiederinbetriebnahme von Ferienheimen nach erfolgter Modernisierung erhöht werden;
    ebenso sei der Nachholbedarf an Urlaubshotels für gehobene Ansprüche zu beseitigen,
  • Freizeitinfrastruktur wie Frei- und Hallenbäder, Tennisplätze und -hallen, Golfplätze und zentrale Einrichtungen wie "Häuser des Gastes" seien zu schaffen.

Eine mit wenigen Mitteln zu lösende Aufgabe wird in Zusammenarbeit mit den örtlichen Institutionen wie Kurverwaltung, Fremdenverkehrsamt und Hotellerie die Planung und Durchführung von geführten Wanderungen, Radtouren, Grillabenden, Dia-Vorträgen oder ähnlichen Freizeitangeboten sein. Als Voraussetzung für eine effektive Verbandsarbeit wird die Verbesserung der Erhebung und Auswertung von Statistiken angesehen.

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2. Regionalisierung ist der Weg

Der verständliche Wunsch der Kommunen, durch qualifizierte westliche Beratung schnell handlungsfähig zu werden, hat häufig dazu geführt, daß von wenig kompetenten Beratern, die oft mit den örtlichen Besonderheiten nicht vertraut waren, Konzepte vorgelegt wurden, die an den Bedürfnissen gründlich vorbeigingen oder nicht zu realisieren waren. Schnell ist jedoch in den Gemeinden selbst Sachverstand geweckt worden, ist die Kenntnis von den eigenen Stärken und Schwächen gewachsen und sind eigene Vorstellungen über den gewünschten und machbaren Tourismus entwickelt worden. Auf dieser Basis werden dann Berater sinnvollerweise hinzugezogen und der Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung gesucht, um eine Entwicklung in Gang zu setzen, die von den am Ort lebenden und arbeitenden Menschen wesentlich getragen wird und werden muß.

Die fortschreitende Deindustrialisierung, der massive Rückgang in der Agrarproduktion, die weitgehende Auflösung wirtschaftlicher Kreisläufe und sozialkultureller Verflechtungen sowie die Deformierungen der demographischen Strukturen und die Degradierung des qualifizierten Arbeitskräftepotentials sind in den neuen Bundesländern so weitreichend und erscheinen für manche Regionen nahezu irreversibel, daß sich die Frage aufdrängt, ob und inwieweit

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sich überhaupt noch die Möglichkeit einer Reindustrialisierung und Revitali-sierung der ökonomisch-sozialen Zusammenhänge angesichts des Zusammenbruchs der osteuropäischen Märkte und der beginnenden Rezession im Westen stellt. Es hat den Anschein, als könne ein (Wieder-)Aufbau von ökonomischen Potentialen sowie sozialen und kulturellen Strukturen nur über einen sehr langen Zeitraum gelingen. Zunehmend wird die Befürchtung geäußert, daß es in Ostdeutschland keine größeren industriellen Standorte oder Industriekerne mehr geben werde, da die materielle Versorgung und sozial-kulturelle Lebensfähigkeit durch das westdeutsche Produktionspotential gewährleistet werden könne. Für den Osten verbleibe nur ein mittelständischer Produktionsraum, in dem der Dienstleistungsbereich und der Tourismus für ausreichende Beschäftigung sorgen.

Ostdeutschland ist vom Bevölkerungspotential her gesehen jedoch zu groß und das noch vorhandene Wirtschafts- und Arbeitskräftepotential zu anspruchsvoll, um auf der Grundlage einer mittelständischen Dienstleistungs- und Tourismusbranche existieren zu können. Zugleich ist das Bedingungsverhältnis auch umgekehrt: leistungsfähige Industriestandorte sind das unerläßliche Umfeld für einen prosperierenden Mittelstand und für eine entwickelte Infrastruktur, die erst einen aufblühenden Fremdenverkehr ermöglicht. Die zu bewältigende Aufgabe ist komplizierter, als daß einfach auf den Dienstleistungssektor und/oder den Tourismus als "Hoffnungsträger" für einen Aufschwung in Ostdeutschland gesetzt werden könnte.

Schon zu DDR-Zeiten haben sich in den heutigen fünf neuen Ländern und auch besonders in Thüringen regionale Branchenkonzentrationen herausgebildet, die eine regionale Vernetzung der Produktionsstrukturen hemmten und behinderten; eigenständige regionale Wirtschaftskreisläufe, in denen einzelne Wirtschaftszweige und -sparten verankert waren, existierten kaum. Es gab zwischen den Regionen wie aber auch innerhalb der Regionen sehr ungleichgewichtige Räume mit unterschiedlicher Wirtschaftskraft und ökonomisch-sozialer Versorgungsdichte für die Bevölkerung. Vor allem aber waren die Wirtschaftsbeziehungen in den Regionen nicht so gestaltet, daß sie ohne gesamtstaatlich planende Ebene hätten aus eigener Kraft existieren können. Diese Diskrepanzen mit regionalem Gefälle zwischen strukturstarken und strukturschwachen Räumen sind im Transformationsprozeß nach der Vereinigung verstärkt worden. Der strukturelle Anpassungsprozeß der Wirtschaft in

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den neuen Bundesländern vollzieht sich branchenmäßig und regional sehr unterschiedlich.

Die aus der Zeit der DDR überkommenen branchenmäßigen aber vor allem auch regionalen Disparitäten wurden durch die Erosion der Industriebasis verstärkt. Nach der Wirtschafts- und Währungsunion haben sich die regionalen Disparitäten nicht nur zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern besonders auch in den neuen Bundesländern selbst verfestigt. Nur wenn es gelingt, eine unter regionalen Aspekten ausgeglichene Verteilung industrieller und agrikultureller Kerne herzustellen, können diese zu neuen Bezugspunkten tragfähiger ökonomischer Regionalstrukturen werden. Bei der Ausgestaltung von Regionalstrukturen bieten die endogenen Potentiale einer Region brauchbare Anknüpfungspunkte zum Auf- und Ausbau regionaler und sektoraler Wirtschaftskreisläufe.

Den ostdeutschen Regionen gelang es bisher offenbar nicht, attraktive Standortmilieus anzubieten, die (Groß-) Investoren bewegen könnten, umfangreiche Investitionen zu tätigen. Ein Moment eines solchen attraktiven Standortmilieus kann eine gut entwickelte touristische und (freizeit-)kulturelle Infrastruktur einer Gemeinde sein. Fremdenverkehrswirtschaftliche Investitionen einer Region oder Gemeinde können ein Ansatzpunkt zum Aufbau eigenständiger regionaler Wirtschaftskreisläufe werden. Allein in diesem Sinne kann der Fremdenverkehr beim "Aufbau Ost" konstruktiv genutzt werden, denn die entscheidende Antriebskraft für die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern und zugleich eine sanfte Alternative zur zusammengebrochenen Landwirtschaft und Industrie wird er nicht sein können. Dabei ist nicht das Fehlen touristischer Großprojekte eine Hürde, sondern die Tatsache, daß vermutlich nun schon in der driften Saison 1993 in Ostdeutschland nach wie vor ein großer Teil der eigentlich nutzbaren Einrichtungen nicht ausgebaut, saniert oder modernisiert wird. Zudem fehlen auf Landesebene wie auch in den Kommunen übergreifende - so überhaupt vorhanden - in die Regionalplanung und -entwicklung integrierte fremdenverkehrspolitische Konzepte.

Die Entwicklung ostdeutscher Regionen und Gemeinden leidet im wesentlich unter infrastrukturellen Engpässen (Verkehrsinfrastruktur, Telekommunikation, Umweltbelastungen, Bausubstanz). Diese Engpässe gezielt zu beseitigen ist die vornehmste Aufgabe einer verantwortungsvollen Regionalpolitik, will die Region wettbewerbsfähig, d.h. auch weitgehend eigenständig ökonomisch

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lebensfähig werden. Angesichts der Größe und Kompliziertheit der zu lösenden regionalpolitischen Anforderungen kann eine längerfristige Perspektive für eine Region nicht mehr in der vielfach praktizierten Politik einer traditionellen Wirtschaftsförderung gesucht werden, die die Gewerbeflächen konkurrenzfähig aufbereitet und gegenüber dem Mittelstand ein finanziell großzügiges Standort-Marketing betreibt. Demgegenüber erscheint ein Konzept, daß die endogenen Wirtschafts- und Qualifikationspotentiale einer Region in den Mittelpunkt rückt, d.h. die regionale Wirtschaftspolitik beizeiten auf die marktfähigen Stärken der Region ausrichtet und - im Sinne einer Prioritätensetzung - die finanziellen Ressourcen dem Auf- und Umbau der Wirtschaft in der Region angemessen verauslagt, erfolgversprechender.

Investitionen stehen im Mittelpunkt, sollen die Entwicklungschancen einer Region genutzt und ihre Produktionsmöglichkeiten ausgeweitet werden. Investoren nutzen Marktchancen nur dann, wenn sie unter dem Rentabilitätsaspekt effizient sind und wenn es zuvor die zur Nutzung der Marktchancen notwendigen öffentlichen Infrastrukturinvestitionen gegeben hat. Mit anderen Worten: es geht um die langfristige Notwendigkeit aktiver Förderung von öffentlichen und privatwirtschaftlichen Investitionen als Instrument einer offensiven Regionalpolitik. Eine integrierte regionale Entwicklungskonzeption wird sich um Gewerbeflächen, um Ansiedlungspolitik ebenso kümmern müssen wie um Bestandserhaltung der industriellen und agrarischen Basis (Landschaft) und um andere endogene Potentiale, wie z.B. ein hochqualifiziertes Arbeitskräftepotential oder auch soziale und kulturelle Dienstleistungen.

Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen müssen heute unter den Bedingungen der ostdeutschen Länder so gestaltet sein, daß kommunale Wirtschaftsförderung eine Schlüsselfunktion im gegenwärtigen Transformationsprozeß erfüllen kann. Sie muß Kettenglied zwischen der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik und der Selbstverwaltung der Kommunen sein.

Thüringen bringt für einen solchen tourismuspolitischen Entwicklungsweg durchaus gute Ansatzpunkte mit. Es hat in allen Landesteilen geeignete Fremdenverkehrsgebiete und für ausgewählte Regionen - also nicht flächendeckend - kann der Tourismus zu einem Wirtschaftsfaktor innerhalb des wirtschaftsstrukturellen Rahmens des Landes werden. Nachfrage nach thüringer Fremdenverkehrsregionen ist in Ost- und in Westdeutschland vorhanden,

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sehr bedingt nur im Ausland. Allerdings werden erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigung auch von einem zielstrebigen quantitativen und qualitativen Ausbau des touristischen Angebots nicht zu erwarten sein; von indirekten Wirkungen durch "zugereiste" Nachfrage nach Produkten und infrastrukturellen Dienstleistungen können stabilisierende und erweiternde Einflüsse auf die Belebung der regionalen Wirtschaft ausgehen. Mögliche Schwerpunkte des Ausbaus touristischer Einrichtungen sind die historisch berühmten Städte Thüringens, die - wie vorgeschlagen - durch eine "Klassikerstraße" Thüringens kooperativ für den auswärtigen Besucher erschlossen werden können. Diese Städte (oder auch andere, Kurorte z.B.) könnten durch eine entsprechende Prioritätensetzung als Fremdenverkehrsfördergebiete ausgewiesen werden.

Alles in allem: Der Landschafts- und Kulturstandort Thüringen ist ein Wirtschaftsfaktor. Allerdings ist seine Wirkung an eine wesentliche Bedingung geknüpft: wirtschaftlicher Aufschwung statt länger dauernder Krise. Dazu kann ein touristisches Gesamtkonzept für Ostdeutschland wie aber auch für seine einzelnen Länder und Regionen beitragen. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 1999

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