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[Seite der Druckausgabe: 8 = Forsetzung]

IV. Ökonomische Situation und Arbeitsmarkt

Die ökonomische Situation in den fünf neuen Ländern ist nicht durch eine (kurzfristige) Anpassungskrise im Übergang von der sozialistischen Plan- zur sozialen Marktwirtschaft gekennzeichnet, sondern durch eine tiefe Strukturkrise (Strukturbruch), die weit gravierendere Auswirkungen hat als konjunkturell bedingte Strukturkrisen, wie sie in der alten Bundesrepublik im Ruhrgebiet und an der Saar (Stahl) oder an der Nordseeküste (Werften) zu bewältigen waren. Durch den Deindustrialisierungsprozeß in der Ex-DDR sind Wirtschaftskreisläufe auseinandergebrochen, die auch für das Funktionieren von Dienstleistungsbranchen wie dem Fremdenverkehr bedeutsam sind. Die Talsohle des Niedergangs ist wohl noch nicht erreicht, man kann - so prognostizieren namhafte Wirtschaftswissenschaftler - frühestens 1995 mit einem allgemeinen Aufschwung rechnen.

Auch in Mecklenburg-Vorpommern befinden sich wie in den anderen neuen Bundesländern Wirtschaft und Arbeitsmärkte in einer gravierenden Umbruchsituation. Es bestehen tiefgreifende regionale Struktur- und Beschäftigungseinbrüche. Zugleich gibt es auch Chancen für einen zukunftsorientierten Umbau der Wirtschaft, für den allerdings strukturpolitische Initiativen und eine offensive Arbeitsmarktpolitik unverzichtbare Voraussetzungen sind.

Das Land Mecklenburg-Vorpommern war 1989 der Lebensraum von ca. knapp zwei Mio. Einwohnern; davon waren 51,2 % Frauen und 48,8 % Männer. Sein Wirt

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schafts- und Naturraumpotential bestimmt weitgehend die Lebensqualität der Menschen. Möglichkeiten und Grenzen seines wirtschaftlichen und natürlichen Gesamtpotentials haben einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklungsperspektive dieses Landes. Das Territorium hat mit 24.000 qkm Fläche einen Anteil von 8% an der Gesamtfläche Deutschlands (oder 22 % der Nutzfläche der ehemaligen DDR). Die Wohnbevölkerung lebt in 6 Stadtkreisen und in 31 (küstennahen) Landkreisen und 1117 Gemeinden. Diese Gliederung ist nicht nur auf die Industrieansiedlungen und historischen Wohnstandorte, sondern auch auf eine bevorzugte Wohnlage an der Küste sowie auf die mit Landwirtschaft und dem Tourismus verbundenen Beschäftigungsmöglichkeiten zurückzuführen.

Der steile, katastrophale Niedergang der Wirtschaft in den neuen Bundesländern (der mit dem abrupten Übergang von einer staatssozialistischen Wirtschaft zu einer kapitalistischen Marktwirtschaft zu tun hat) mit seinen dramatischen Auswirkungen auf die soziale Lage seiner Bewohner lenkt verstärkt das Augenmerk auf den Wirtschaftszweig Fremdenverkehr. dem eine schnelle positive Entwicklung zugetraut wird. Besonders Mecklenburg-Vorpommern, das einen insgesamt schwachen Industrialisierungsgrad aufweist, dessen Küstenbewohner vom Niedergang der Werftindustrie und der nachgelagerten Zulieferindustrie besonders betroffen sind, und diejenigen Bewohner des Hinterlandes, deren Beschäftigung im Bereich der Produktion und Verarbeitung land- und fischwirtschaftlicher Erzeugnisse von weiterem Arbeitsplatzabbau betroffen ist, setzt auf diesen Wirtschaftszweig.

Wirtschaftspolitische Instrumentarien jedoch, die darauf abzielen, daß der Dienstleistungsbereich Tourismus arbeitsmarktpolitische Lokomotivfunktion übernehmen soll, sind der Situation nicht angemessen. Es sind vielmehr Konzepte einer übergreifenden und abgestimmten Struktur- und Regionalpolitik gefordert, die Industrie- und branchenpolitische Maßnahmen mit einer aktiven Beschäftigungspolitik verknüpfen. Derartige Ansätze sind in der Landespolitik Mecklenburg-Vorpommerns derzeit nicht zu erkennen. Im Wirtschaftsministerium wird das Fehlen von Daten und Fakten als Voraussetzung für die Erstellung von Landes- und Regionalplänen beklagt, die Opposition verweist diese Aufgabe an die Regierungsparteien. Bei einem derartigen Politikdefizit entwickelt sich Tourismus wie jeder andere Wirtschaftszweig nach den (spontanen) Gesetzen des Marktes, die sich eher an kurzfristigen Gewinninteressen orientieren. So wird u.U. nicht zu verhindern sein, daß sich die Fehler, die in den alten Bundesländern bei der Entwicklung des Fremdenverkehrs gemacht wurden, wiederholen.

Die tragenden Säulen der Wirtschaft Mecklenburg-Vorpommerns waren bislang die Produktion und Verarbeitung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, der Maschinen- und

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Fahrzeugbau, Bau und Baumaterialien, die Leichtindustrie und der maritime Bereich mit Fischfang und Fischverarbeitung sowie Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft. 83% der Betriebe und 77% der Arbeitsplätze konzentrierten sich 1989 in den drei Wirtschaftsbereichen Lebensmittelindustrie, Maschinen- und Fahrzeugbau und Leichtindustrie.

1989 waren in Mecklenburg-Vorpommern 1.069 Mio. Menschen erwerbstätig (Frauen:

516,2 Tausend = 48,4% und Männer: 552,6 Tausend = 51,6%), das entspricht einer Erwerbsquote von 83%. Davon waren in den Sektoren nichtproduzierendes Gewerbe 24%, in der Industrie 23%, in der Landwirtschaft 20%, im Handel 11%, bei Post und Verkehr 10%, in Bildung, Wissenschaft und Kunst 9%, im Baugewerbe 7% und in Gesundheit und Soziales ebenfalls 7% beschäftigt.

Nach einer neuen repräsentativen Erhebung vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ist die Zahl der Erwerbstätigen in Mecklenburg-Vorpommern im Zeitraum von November 1989 bis März 1991 um 155.000 oder 15% zurückgegangen. Die stärksten Arbeitsplatzverluste mußte die Landwirtschaft hinnehmen. Weiter gingen in der Leicht- und Lebensmittelindustrie, im verarbeitenden Gewerbe, im Bauwesen und im Handel Arbeitsplätze verloren. Mit dem Zusammenbruch der Ostmärkte gibt es auch einen massiven Auftragsrückgang und Beschäftigungseinbruch in der Werftindustrie. Zuwächse verzeichnen nach dieser Erhebung die Bereiche Banken und Versicherungen, andere Dienstleistungen und das Verkehrsgewerbe.

Mecklenburg-Vorpommern hat seit Ende 1989 einen Wanderungsverlust der Bevölkerung von mehr als 80.000 Menschen zu verkraften, wovon 65% im arbeitsfähigen Alter waren. Gegenwärtig pendeln 35-40.000 Arbeitnehmer aus Mecklenburg-Vorpommern nach Schleswig-Holstein und Hamburg.

Im August 1991 betrug die Arbeitslosenquote 13,9%, sie weist eine Spannweite von 10,7% (in Greifswald) bis 20,1% (in Bützow) auf. Jeder sechste Beschäftigte war von Kurzarbeit betroffen; der durchschnittliche Arbeitsausfall betrug knapp 60% der Normalarbeitszeit.

Frauen sind von der Arbeitslosigkeit in besonderem Maße betroffen. Der Frauenanteil an der Arbeitslosigkeit stieg auf 55%, die Quote der arbeitslosen Frauen liegt mit 15,8% um 3,7% höher als die der Männer mit 12,1%. Frauen sind zudem nur in geringem Maße als Pendlerinnen anzutreffen, sie stellen gleichzeitig mit einem Anteil von 96% die Nachfrage bei Teilzeitarbeitsplätzen. Auch regional, also in den Kreisen entwickelte sich die Arbeitslosigkeit sehr unterschiedlich. Es gab zum Beispiel Rückgänge um 10,7% (in Strasburg) und Zunahmen um 11,9 % (in Anklam). Im August 1991 vermittelten die Arbeitsämter 9.500 Arbeitssuchende an neue Arbeitsplätze; fast 70% der Vermittlungen erfolgten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

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Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, wie Kurzarbeitergeld, berufliche Qualifizierung, ABM, Altersübergangs- und Vorruhestandsgeld entlasten den Arbeitsmarkt Mecklenburg-Vorpommerns im August 1991 um 240.000 Personen. Ohne diese Maßnahmen würde sich eine um 23,6 Prozentpunkte höhere Arbeitslosenquote errechnen.

Unterschiedliche Entwicklungen von Arbeitsplatzangebot und Nachfrage zeichneten sich im August 1991 ab. Im Arbeitsamtsbezirk Rostock hielt der Trend des wachsenden Angebotes an offenen Stellen auf dem regionalen Arbeitsmarkt im Bereich der Dienstleistungen und Gaststätten mit über 500 Stellenangeboten an. Das Arbeitsamt Stralsund hingegen meldete für den gleichen Zeitraum einen Verlust von ca. 2.000 Arbeitsplätzen, wobei u.a. die Bereiche Dienstleistungen und Gaststätten mit einem Anteil von fast 20% besonders betroffen waren. Ähnlich verhält es sich im Bezirk Schwerin.

Fazit: In Mecklenburg-Vorpommern gehen weiterhin mehr Arbeitsplätze verloren als neue entstehen. Auf dem Arbeitsmarkt wird kurzfristig keine Besserung eintreten. Der Arbeitsplatzabbau wird vielmehr bis weit in das Jahr 1992 anhalten. Der Arbeitsmarkt weist auf absehbare Zeit große Ungleichgewichte auf, sowohl regional und sektoral wie auch geschlechts- und qualifikationsspezifisch, d.h. er weist auch in sehr disparater Weise den Menschen Lebensperspektiven zu.

Eine genaue Bezifferung der Beschäftigung und Arbeitslosigkeit im Fremdenverkehr, in der Hotellerie und Gastronomie in Mecklenburg-Vorpommern gibt die Statistik nicht her. Die Beschäftigten der Bereiche Dienstleistung und Gaststätten sind zusammengefaßt und enthalten Bereiche wie Wissenschaft, Bildungswesen, Kunst, Kultur, Gesundheit, Körperkultur und Sport.

Für einzelne Fremdenverkehrsorte und vor allem Dörfer, deren Landwirtschaft brachfällt, sind die Erwartungen des Beschäftigungseffektes durch den Ausbau des Tourismus sehr hoch gesteckt. So werden die Verhandlungen über ein von dem Tourismusunternehmen TUI über die Errichtung des bisher größten Touristenzentrums Mecklenburg-Vorpommerns am westlichen Rand des damaligen DDR-Gebietes rund um Pötenitz und Harkensee von den Gemeinden unterstützt. Dort hatte der Zusammenbruch der Landwirtschaft zu einer Erwerbslosenquote von 16% mit steigender Tendenz geführt. Die Aussicht, daß die Investition von 300 Mio. DM 600 Dauerarbeitsplätze schaffen würde, erscheint verlockend. Geplant sind Hotels und Ferienhäuser, ein Clubdorf Robinson, ein Reiterhof sowie Sportanlagen, die insgesamt 3.000 Touristen aufnehmen könnten. Die Pläne, das Projekt so zu konzipieren, daß es den Maßstäben eines "Sanften Tourismus" gerecht wird, läßt den Widerstand der Umweltschutzorganisationen schmelzen. Die Vertreter der

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Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten befürchten, daß bei Projekten dieser Größenordnung die Möglichkeit, die öffentlichen Töpfe entsprechend der Projektgröße anzuzapfen, die Entwicklung des Wirtschaftszweiges insgesamt prägt und dadurch die Weichen für die gesamte Region in eine bestimmte Richtung gestellt werden.

Es ist klar, daß angesichts der bemerkenswerten natürlichen Voraussetzungen Mecklenburg-Vorpommerns und fehlender sonstiger Alternativen der Ausbau des touristischen Angebotes als Erwerbsquelle von hoher Erwartung besetzt ist und sich in diesem Sektor spontan vielfältige Aktivitäten entwickeln.

Hier muß die öffentliche Verwaltung die Aufgabe erfüllen, die räumliche Entwicklung Mecklenburg-Vorpommerns richtungsweisend und zusammengefaßt aufzuzeigen, sowie orientierende und koordinierende Arbeiten zur territorialen Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung durchzuführen;

Einzelentscheidungen auf örtlicher Ebene müssen daraufhin überprüft werden, ob sie im wirtschaftlichen Gesamtrahmen ihren Platz finden.

Der Zusammenhang aller Gebietsfunktionen (z.B. Industrie, Landwirtschaft, Dienstleistungen) und aller Bedürfniskomplexe wie Arbeiten, Erholen, Wohnen, Bilden, Kommunizieren ist bei der Entwicklung jedes einzelnen zu beachten, um die Lebensqualität in der Gesamtheit (auf Landes-, Kreis- und Gemeindeebene) so günstig wie möglich zu gestalten. Der Tourismus kann nur unter bestimmten Bedingungen vorrangige Förderung erfahren: wenn er der Bevölkerung die gewünschten wirtschaftlichen Vorteile vor allem in Form von Einkommen und Arbeitsplätzen bringt, wenn er als Wirtschaftszweig dauerhaft verankert werden kann und die übrigen Lebensqualitäten nicht beeinträchtigt. D.h.. auch in den touristischen Zielgebieten ist eine möglichst breitgefächerte Wirtschaftsstruktur anzustreben. Die Land- und Forstwirtschaft, das Handwerk und Gewerbe, die Klein- und mittelständische Industrie und die nichttouristischen Leistungen sind mit mindest gleicher Priorität wie die Tourismusentwicklung auszustatten. In Gebieten mit stark wachsendem Tourismus - in sogenannten Großfremdenverkehrsgebieten - ist der Förderung dieser anderen Wirtschaftsaktivitäten erste Priorität zu geben.

Deshalb sind auch alle touristischen Investitionsvorhaben im Rahmen von Raumordnungs- und Landesplanungskonzepten zu genehmigen und zu realisieren. Mit dem l. Raumordnungsbericht Mecklenburg-Vorpommern vom September 1990 ist eine Bestandsaufnahme zum Raum und den Lebensbedingungen als Ausgangssituation für die Raumordnungs-, Landes- und Regionalplanung gegeben. Er liefert eine erste fundierte Grundlage für künftiges raumbezogenes politisches Handeln.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

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