FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 48]



8. Gewerkschaftliche Positionen zum Förderkonzept


Die deutschen Gewerkschaften haben sich von Anfang an die Diskussion um die richtige Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik für die Menschen in den neuen Bundesländern eingeschaltet. Sie haben sehr schnell festgestellt, daß die wirtschaftliche Krise in den neuen Bundesländern mehr als eine begrenzte regionale Krise ist. Nach ihrer Ansicht kann der Zusammenbruch der Wirtschaft auf dem Gebiet der früheren DDR als der ökonomische Infarkt dieses Gebietes bezeichnet werden. Sie glauben nicht daran, daß die wirtschaftliche Talfahrt in den neuen Ländern zu Ende ist und ein Aufschwung in naher Zukunft erfolgen könnte. Wenn die Prognosen zutreffen, daß bei einer Reduzierung der Zahl der Erwerbstätigen auf etwa 6 Millionen zur Jahreswende 1991/92 und einer Zahl von zusammen 3,5 Millionen Arbeitslosen und Kurzarbeitern zu rechnen ist, sind dies beschäftigungspolitische Verhältnisse, die es nach Ansicht der Gewerkschaften in dieser Form in Deutschland noch nicht gegeben hat und die einen kaum überschaubaren wirtschaftlichen und sozialen Sprengstoff in sich bergen.

In dieser Entwicklung kommt auch die Überschätzung der zunächst durch die Bundesregierung betriebenen marktwirtschaftlichen Schocktherapie zum Ausdruck, die nicht in der Lage war, die schwerwiegenden regionalen und sektoralen Krisenprobleme so zu bewältigen, daß sie sozial- und arbeitsmarktpolitisch vertretbar sind. Nach Ansicht der Gewerkschaften gibt es international keine Beispiele dafür, daß große Strukturkrisen in kurzer Zeit marktwirtschaftlich bewältigt worden sind. Alle in letzter Zeit genannten Beispiele, etwa der Stahlkrise in Pittsburgh in den USA oder in Glasgow, machen deutlich, daß die Bewältigung des Strukturwandels und die Verringerung der dort jeweils sehr hohen Arbeitslosigkeit nur durch sehr hohe Abwanderungszahlen von Menschen aus den jeweiligen Regionen erreicht wurde. Die Gewerkschaften akzeptieren diese Strategie der passiven Sanierung nicht als gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Leitbild für das Gebiet der früheren DDR.

Allerdings sehen sie die Bewältigung des Strukturwandels im Ruhrgebiet nach der Krise in den früheren industriellen Kernbereichen des Ruhrgebiets in der Montanindustrie ebenso wie einige strukturpolitische Ansätze in Schweden als Konzepte an, die zumindest teilweise auf die neuen Bundesländer übertragen werden können.

Der DGB hatte Ende Januar/Anfang Februar 1991 ein "Wirtschafts- und beschäftigungspolitisches Sofortprogramm für die neuen Bundesländer" gefordert.

Die Elemente dieses Sofortprogramms waren:

  1. Sofortiger Beginn eines Infrastukturprogramms

  2. Massive Förderung von Wohnungsbau und Energieeinsparung

  3. Umwelt- und energiepolitische Dringlichkeitsmaßnahmen

    [Seite der Druckausg.: 49]

  4. Großzügige Finanzierung von Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik anstelle von Arbeitslosigkeit

  5. Stabilisierung der Betriebe und Beschäftigung in der Umstellungszeit

  6. Mobilisierung privater Investitionen

  7. Beseitigung administrativer Hemmnisse durch Personaltransfer und Einrichtung arbeitsfähiger Strukturen

  8. Schnelle Reformen bei der Treuhandanstalt

  9. Sozial verträgliche Finanzierungsgrundsätze.

Die strukturpolitische Konzeption der bundesdeutschen Gewerkschaften für die neuen Bundesländer insgesamt baut auf diesen Einzelvorschlägen auf und beinhaltet drei wesentliche Bereiche:

  1. Die Auflage eines öffentlichen Infrastrukturprogramms.

  2. Die Entwicklung einer integrierten Strukturpolitik für die Betriebe und Regionen.

  3. Die Organisation einer modernen und intelligenten Strukturpolitik.

Die Durchführung eines öffentlichen Infrastrukturprogramms für die neuen Bundesländer wird von den Gewerkschaften als beschäftigungswirksame und gleichzeitig finanzierbare Kernmaßnahme der Wirtschaftspolitik für den Aufbau der neuen Bundesländer angesehen. Dabei bezieht sich der DGB auf ein vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) erstelltes Gutachten. Darin wurde untersucht, welche Konzepte ein öffentliches Infrastrukturprogramm mit einem Volumen von 15 Milliarden DM pro Jahr zugunsten der neuen Länder über einen längeren Zeitraum hin hätte. Das Ergebnis war, daß mit einem solchen Infrastrukturprogramm ein Beschäftigungseffekt von maximal 200.000 Personen in Ostdeutschland und von maximal 50.000 Erwerbstätigen in Westdeutschland erreicht werden könnte. Der DGB hat klar gemacht, daß ein solches Programm angesichts der riesigen Aufgaben in den neuen Bundesländern keinesfalls ausreicht, hält die Verbesserung der Infrastruktur aber für einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung der Arbeitsmarktsituation und vor allem für die Voraussetzung für die Ansiedlung privater Unternehmen und Existenzgründer. Außerdem werden dadurch auch die Arbeits- und Lebensbedingungen für die Menschen in den neuen Ländern verbessert und damit ebenfalls der Zwang zur Abwanderung reduziert.

Zweitens wird die Integration der Strukturpolitik für Betriebe und für Regionen gefordert. Nachdem es für die Treuhandanstalt immer schwieriger wird, eine erfolgreiche Privatisierung durchzuführen, da die begehrtesten Unternehmen verkauft sind, muß ein Strukturkonzept für die

[Seite der Druckausg.: 50]

nicht von vornherein überlebensfähigen Unternehmen gefunden werden. Es gibt Unternehmen, deren Überlebensfähigkeit auf mittlere Frist zwar derzeit nicht feststeht, die aber im Prinzip Überlebenschancen haben, wenn sie nicht unmittelbar zu Schleuderpreisen verkauft werden, sondern auf den Verkauf durch Sanierungsmaßnahmen vorbereitet werden. Die Gewerkschaften haben daher vorgeschlagen, für eine längere Übergangszeit eine Treuhand-lndustrie-Holding mit Sanierungsauftrag zu gründen, die gezielt Investitionen in die Modernisierung des Kapitalstocks in den neuen Ländern vornimmt, darüber hinaus Unternehmer und Leitungskräfte sowie die Arbeitnehmer qualifiziert und die Produktentwicklung und Markterschließung unterstützt.

Zu diesem ersten Schritt einer regional und betrieblich integrierten Strukturpolitik muß nach Ansicht der Gewerkschaften die Verknüpfung mit einer beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitischen Flankierung kommen, die vor allem durch die Einrichtung von Beschäftigungsgesellschaften erreicht werden kann. Beschäftigungsgesellschaften sollten als Brücke und nicht als Dauerlösung gedacht werden. Vordringlich ist, daß auf der anderen Seite dieser "Brücke" neue wettbewerbsfähige und wirtschaftlich gesunde Arbeitsplätze entstehen, die die von den Beschäftigungsgesellschaften aufgefangenen Menschen aufnehmen können. Außerdem müssen die Beschäftigungsgesellschaften und die Sanierungskonzepte der Unternehmen mit regionalen Entwicklungskonzepten verknüpft werden, da die wirtschaftliche Zukunft von Regionen gerade in den neuen Bundesländern nur vor dem Hintergrund der Entwicklung einzelner großer Unternehmen, die dort ihren Standort haben, gesehen werden kann.

Drittens besteht Strukturpolitik nach Ansicht der Gewerkschaften nicht nur darin, Geld zu verteilen, Fördertöpfe zu entwickeln und Investitionen anzustoßen, sondern auch aus Ideen, Kommunikation, Initiativen und Konsensbildung. Darauf hingewiesen wurde, daß dieser Punkt international in anderen Ländern, vor allem in Großbritannien, in den USA und in Schweden früher als in Deutschland erkannt worden ist. Beispiel in der Bundesrepublik ist die Gemeinschaftsinitiative "Montanregionen" der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, die von den Gewerkschaften als Grundmodell für die konsensorientierte und dezentralisierte Bewältigung des Strukturwandels und der Organisation der regionalen Wirtschaftsförderung angesehen wird. Diese Zukunftsinitiative war eine Abkehr von der in der Vergangenheit sehr stark zentralisierten Wirtschaftsförderung, da die wirtschaftlichen Kräfte und handelnden Akteure vor Ort zur Einigung auf gemeinsame Entwicklungsvorstellungen und -projekte und auf gemeinsame regionale Interessen zusammengebracht wurden. Dadurch wurde gleichfalls eine längerfristige Orientierung in die regionale Strukturpolitik gebracht, die notwendig ist, da der Strukturwandel sich in Zeiträumen von 10 bis 30 Jahren abspielt und die Politik entsprechend längerfristig organisiert werden muß.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Dezember 2001

Previous Page TOC Next Page