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4. Perspektiven

Die Dringlichkeit einer an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierten Lohn- und Gehaltspolitik beherrschte den Dialog zwischen Experten der Interessenorganisationen und Vertretern aus Management wie Betriebsrat ostdeutscher Betriebe. Die ersten Arbeitskämpfe bzw. die Androhung von Arbeitsniederlegungen sind Anzeichen, daß ein Niveau von deutlich unter 50 Prozent der westlichen Einkommen Sprengstoff in die sich etablierenden Arbeitsbeziehungen legt. Sie sind Frühwarnsignale sozialer Spannungen.

Betriebsräte aus den neuen Bundesländern vermittelten ein Stimmungsbild aus den Betrieben, welches das tarifpolitische Klima wiedergibt, in das die Tarifverhandlungen eingebettet sind und das die Tarifparteien perspektivisch nicht aussparen können, ohne den "sozialen Frieden" weiter zu riskieren.

Wenn östliche Arbeitnehmer zu Wort kommen, ist ihre Position anscheinend eindeutig: Die Bereitschaft zu einer zeitlich gestreckten Lohn- und Gehaltszurückhaltung (im Vergleich zum Westen) ist zwar unter der Bedingung, daß dadurch Arbeitsplätze erhalten bleiben bzw. neu geschaffen werden, nach wie vor vorhanden; gleichwohl stößt dieses Zugeständnis an Grenzen, wenn die Unternehmenspolitik der kommenden Monate und Jahre diese keineswegs selbstverständliche Verzichtserklärung nicht anerkennt und ihre Ziele darauf abstimmt. Der Produktivitätswille der Beschäftigten und der Konsens, wesentliche Lohn- und Gehaltssteigerungen erst dann einzuklagen, wenn die Arbeitsproduktivität gestiegen ist, laufen ins Leere, falls Investitionen nicht durchgeführt werden. Dort liegt ein wichtiger Meilenstein für Produktivitätsfortschritte: durchaus anerkannt wird z.B. die hohe Fertigungstiefe und der Personalüberhang der Unternehmen; als einfallslose ad-hoc Sanierungspolitik bewerten die Beschäftigten jedoch die unternehmenspolitische Fixierung auf Personalabbaumaßnahmen, ohne daß konkrete Schritte angegangen werden, die übrigen Wirtschaftlichkeitsfaktoren in den Maßnahmenkatalog einzubeziehen. Die Anzeichen häufen sich, daß der ursprüngliche Tenor in den Belegschaften, höher gesteckte Tarifziele zunächst zu vermeiden, im Zuge der Freisetzungsprozesse und des Zusammenbruchs des Arbeitsmarktes in den neuen Bundesländern umschwingt.

Daher ist der Schutz vor Arbeitsmarktrisiken ein weiteres Aufgabengebiet, auf dem die Tarifpolitik Zug um Zug in Bewegung geraten muß. Im Vordergrund der Erwartungen steht die Absicherung von (den neuen) Problemgruppen des Arbeitsmarktes. Insbesondere ältere Arbeitnehmer, gering Qualifizierte und Frauen aus kinderreichen Familien könnten sich als die gesellschaftlichen Umbruchs- und betrieblichen Rationalisierungsverlierer herauskristallisieren. Die Freisetzung älterer Arbeitnehmer ohne Arbeitsmarktchancen kann durch Vorruhestandsregelungen sozial abgefedert werden. Weiterbildungskonzepte und die Schaffung von neuen Mustern betrieblicher Arbeitskarrieren sind für die Gruppe der gering qualifizierten Arbeitnehmer bereits im Planungshorizont der Entscheidungsträger verankert. Auf diesen Feldern sind erste

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Tarifverträge entwickelt worden. Völlig offen sind dagegen Fragen der zukünftigen Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit, wie eine ostdeutsche Betriebsrätin betonte. Eine Frauenerwerbstätigkeitsquote von bis zu 90 Prozent war in der ehemaligen DDR nicht ungewöhnlich. Diese Quote wird im Verlauf von Rationalisierungsprozessen deutlich absinken. Gleichzeitig wird die sozialpolitische Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen durch den Abbau unterstützender Infrastrukturen zurückgefahren. Ob und wie diese Entwicklung tarifpolitisch angegangen werden kann, dazu wurden von den Tarifparteien bislang kaum erfolgversprechende Konzepte vorgelegt.

Die Erwartungshaltungen der Arbeitnehmer Ost bestätigen einmal mehr: Beschäftigungsrisiken, neue Qualifikationsanforderungen und Produktivitätserfordernisse stellen nicht nur Anforderungen an die Tarifpolitik. Sie kann nicht isoliert, sondern muß in ihrer Verzahnung mit der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik gesehen werden. Die Steuerungsfähigkeit der Tarifpolitik endet dort, wo andere, übergeordnete Politikfelder die Rahmenbedingungen setzen. Tarifpolitik ist stets in Abhängigkeit von den sozialen, ökonomischen und politischen Umständen zu sehen, unter denen sie betrieben wird. Die Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen der Tarifpolitik bewies an vielen Stellen diese Abhängigkeit. Einige Politiken aus dem Umfeld der Tarifpolitik wurden von den Konferenzteilnehmern dahingehend überprüft, inwieweit sie das tarifpolitische Geschäft erleichtern könnten, indem durch geeignete Maßnahmen der Handlungsdruck abgesenkt wird, unter dem die Tarifverhandlungen derzeit zu führen sind. Andiskutiert wurden etwa strukturpolitische Anstrengungen, mit dem Ziel, eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen, die ihrerseits nicht nur neue Arbeitsplätze schafft, sondern vor allem zur Verbesserung des Investitionsklimas beiträgt. Darüber hinaus insistieren besonders Gewerkschaftsvertreter darauf, kurzfristige beschäftigungs- und qualifikationspolitische Sofortmaßnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden zu starten, um den zu erwartenden Notstand der hohen Arbeitslosigkeit abzumildern. Die Arbeitgeberseite verhält sich in dieser Hinsicht konservativer. Ihre Organisationen stehen staatlichen Beschäftigungsinitiativen distanziert gegenüber, indem sie auf Erfahrungen mit Programmen in der alten Bundesrepublik Ende der 70er Jahre verweisen, die nach ihrer Interpretation zu beschäftigungs- und wirtschaftspolitischen Fehlentwicklungen (Werften/ Stahlindustrie) geführt haben. Das unternehmerische Rezept lautet anders: Größere Wirkungskraft besitzen strukturpolitische Unterstützungsleistungen, die die Steuerlast der Unternehmen senken und damit das Investitionsvolumen erhöhen. Ein Überdrehen der Steuerschraube dagegen wird zwangsläufig weitere Investitionshemmnisse aufbauen.

Sozialdemokratische Politiker wie Arbeitnehmer aus den neuen Ländern äußern Skepsis gegenüber steuerpolitischen Entlastungen der (West-) Unternehmen und setzen andere Akzente, da sie nicht zu Unrecht auf ökonomische Entwicklungen im Westen hinweisen. Wirtschaftsdaten legen offen, wie Umsatz und Gewinnspanne westlicher Unternehmen durch die neuen Absatzregionen im Osten angezogen ha-

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ben, da die neuen Märkte (noch) vom Westen aus bedient werden. Forderungen nach einer Vermögensrückverteilung von West nach Ost sind aus diesem Grund naheliegend. Der Transferprozeß wäre mit der Maßgabe zu verknüpfen, daß die Mittel für den Aufbau von Infrastrukturen und einer effizienten gewerblichen Wirtschaft im Osten eingesetzt werden. In diesem Kontext gewinnt die Diskussion über eine einigungsgewinnbezogene Abgabe der Arbeitgeber und eine Ergänzungsabgabe der Höherverdienenden an Bedeutung.

Mit dem Schlenker zu anderen Polltikfeldern wurde der Aktionsraum der Tarifpolitik verlassen. Die diskutierten Vorschläge zeigten jedoch die Verbindungslinien und belegten, wie unabdingbar weitere, politisch initiierte Transferhilfen aus dem Westen sind, denn eine poduktivitätsorientierte Lohn- und Gehaltspolitik wird umso mehr erzwungen, je weniger es den neuen Ländern gelingt, im Windschatten der alten Länder eine moderne Wirtschaft aufzubauen. Die Tarifpolitik muß von einer wirtschaftlich und sozial rationalen Modernisierungspolitik zwischen den alten und neuen Ländern getragen werden. Das legt den Gedanken nahe, eine konzertierte Strategie von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften zu entwickeln, bei der der "runde Tisch" unter anderen Vorzeichen wieder aufleben könnte. Wenn die Tarifunion wünschenswertes Nahziel ist, hat der sicher steinige Weg dorthin viel zu tun mit der Konzessionsbereitschaft der Tarifparteien, der modernisierungspolitischen Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen und der Bereitschaft der Bevölkerung, einen gesamtdeutschen Solidarpakt mit seinen kurzfristigen Opfern, aber mittel- und langfristigen Chancen zu unterstützen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

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