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Jean Monnet und das neue Gesicht Europas nach dem Zweiten Weltkrieg : [Rede Bundeskanzler ... am 29. Mai 1997 in Paris] / Helmut Schmidt. - [Electronic ed.]. - Paris, 1997. - 30 Kb, Text Franz. Ausg. u.d.T.: Jean Monnet et le nouveau visage de l'Europe apres la deuxieme guerre mondiale. - Electronic ed.: Bonn: EDV-Stelle der FES, 1998 © Friedrich-Ebert-Stiftung Meine Damen und Herren!
Ich habe das Glück gehabt, in meinen Leben eine größere Zahl von Freunden in
Frankreich zu gewinnen. An erster Stelle nenne ich natürlich Valéry Giscard d'Estaing,
aber auch Raymond Barre, auch François Mitterrand, auch Jacques Delors. Ich habe eine
große Hochachtung gehabt gegenüber Marjolin in den fünfziger und sechziger Jahren. Aber der erste Franzose, den ich näher kennengelernt habe, das war Jean Monnet. Ich
hatte das Glück, ihm zum ersten Mal zuzuhören Ende der vierziger Jahre - ich bin nicht
mehr ganz sicher, ob es 1947 oder 1948 gewesen ist - anläßlich einer kleinen
Veranstaltung in Straßburg. Ich war damals schon - und bin darin durch ihn ganz
wesentlich gefestigt worden - der Überzeugung, daß die Idee der europäischen
Integration eine strategisch notwendige Idee war. Ich komme darauf nachher noch einmal
zurück. Jean Monnet war im gleichen Jahr geboren wie mein Vater, also eine Generation vor
mir. Der große Altersunterschied, aber eben auch Monnets kluger, welterfahrener
Überblick über die Lage Europas, über die Möglichkeiten Europas, der hat von Anfang an
einen sehr spürbaren Abstand zwischen dem jungen Mann - ich war damals 30 - und dem alten
erfahrenen Mann geschaffen. Einen mir persönlich sehr deutlich spürbaren Abstand, der
auf meiner Seite nur Bewunderung und später Verehrung zugelassen hat. Nachdem Monnet aus
der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl ausgeschieden war
und sein Komitee, das Aktionskomitee "Pour les Etats Unis d'Europe" gegründet
hatte - wir sprachen später immer nur vom "Monnet-Komitee" - ist er und ist
sein Komitee - ich bin 1955, es kann auch Anfang 1956 gewesen sein, Mitglied des
Monnet-Komitees geworden - für mich eine überaus lehrreiche Schule gewesen. Ich habe zu einem wichtigen Teil durch dieses Komitee und durch diesen Mann die
Probleme Europas zu durchschauen gelernt, die wesentlichen Elemente zur Lösung der
Probleme, aber auch die tausend kleinen Details. Monnet war durchaus ein Mann, der nicht
nur in großen Linien denken konnte, sondern der auch die Details beherrschte. Das kann
man von heutigen Politikern in der Regel nicht mehr sagen. Das Komitee war eine Art privater Gesprächsgruppe, zusammengesetzt aus Politikern der
westeuropäischen Staaten. Es diente Monnet als Resonanzboden für die Erörterung seiner
Gedanken. Er war ein fähiger, aber zugleich ein überaus taktvoller Lehrer, der niemanden
bloßstellte. Und er war ein kluger Erfinder tragfähiger Kompromisse, Kompromisse
zwischen divergierenden Interessen, divergierenden Auffassungen der Nationen oder der
Staaten. Zugleich ging sein Denken - und das war eigentlich ganz untypisch für einen
Franzosen - schrittweise vor. Der Engländer Sir Karl Popper würde vom «peace-meal
social engineering» gesprochen haben. Das Wort war damals noch nicht erfunden. Aber das
war charakteristisch für Jean Monnet, er war ein Mann des Peace-meal engineering, weniger
«social engineering» aber eher «political engineering». Er trug nie endgültige
vollständige Entwürfe vor, sondern er hat uns, den Mitgliedern seines Komitees, damals
beigebracht, in Prozessen oder in Entwicklungen zu denken. Wobei er stets sein eigenes
großes Ziel ganz offenkundig nicht aus den Augen verloren hat. Monnet hatte sein
internationales Komitee nicht etwa nur aus Menschen zusammengesetzt, die der gleichen
politischen Schattierung angehörten. Vielmehr fanden sich hier Sozialisten,
Sozialdemokraten, Liberale, Konservative zusammen. Zum Teil waren es politisch sehr
erfahrene Leute, zum Teil waren es, wie ich selbst, jüngere Politiker. Als das
Monnet-Komitee begann, war ich noch nicht einmal 40 Jahre alt -. Übrigens sind Giscard
d'Estaing und ich uns in diesem Komitee zum ersten Mal begegnet. Auch Edward Heath bin ich
zum ersten Mal in den fünfziger Jahren im Monnet-Komitee begegnet. Als ich dann anderthalb Jahrzehnte später in Bonn Regierungschef geworden bin, da hat
mich Monnet zweimal auf meine Bitte hin besucht, weil ich ihn um Rat fragen wollte, und er
hat mir seinen Rat gegeben. In meinen Augen war er einer der klarsten, der am stärksten
folgerichtig denkenden Politiker, die ich in der internationalen Politik in vier
Jahrzehnten kennengelernt habe. Monnet war in meinen Augen über weite Strecken seines
Lebens ein Politiker, aber er war ein Politiker ohne Amt und ohne Auftrag. Ein offizielles
öffentliches Amt hat er nur eine relativ kurze Zeit in Brüssel ausgeübt. Er war
eigentlich ein Mann ohne Macht. Er war aber ein Mann, der Ideen und Vorstellungen
entwickelte und der sich dann die Leute suchte, die ihrerseits genug Macht und Einfluß
hatten, um seine Vorstellungen zu verwirklichen: eine ganz ungewöhnliche Vorgehensweise
in der Politik. Auf diese Weise ist es 1950 zum Schuman-Plan gekommen, auf dieselbe Weise ein paar
Jahre später zum Pléven-Plan, der hier in Paris 1954 gescheitert ist (worüber meine
Partei in Deutschland gejubelt hat - und ich selbst war entsetzt). Monnet hat in beiden
Fällen, sowohl Robert Schuman, als auch René Pléven den öffentlichen Ruhm gelassen.
Ihm kam es viel mehr auf die Sache an, als auf die Befriedigung menschlicher Eitelkeit.
Das Monnet-Komitee war übrigens, wenn ich es richtig verstehe -, eigentlich seit Mitte
der 50er Jahre, ich glaube 1955 haben wir damit begonnen -, der eigentliche Wegbereiter
für Euratom, später für die Römischen Verträge und für den Gemeinsamen Markt. Später hat sich dann Monnet auf die Erweiterung der Europäischen
Wirtschaftsgemeinschaft, der EWG, und ganz besonders auf die von ihm erstrebte Mitwirkung
und Mitgliedschaft Englands konzentriert. Zwei der ganz großen Probleme begegneten wir
da: Einerseits war es zunächst notwendig, die politische Klasse in Frankreich von einer
Revision der Grundsatzentscheidung zu überzeugen, die General de Gaulle am Anfang der
sechziger Jahre gegen England getroffen hatte, also eine Revision des Vetos des Generals
gegen den Beitritt Englands. Andererseits war da das andere Problem, daß man die
Engländer dazu bewegen mußte, überhaupt ein zweites Mal beitreten zu wollen, nachdem
Harold McMillen Anfang der sechziger Jahre an de Gaulle gescheitert war. So dauerte es bis
hinter das Ende der sechziger Jahre - de Gaulle war inzwischen verstorben - bis sein
Nachfolger Georges Pompidou und in London Edward Heath den Beitritt Englands tatsächlich
zustandebrachten. Es ist 1977 gewesen, als ich zum letzten Mal einen persönlichen Brief von Monnet
bekam. Er war damals schon 87 oder 88 Jahre alt und auch dieses Mal, wie schon so oft
vorher, war sein Brief begleitet von einer Flasche Cognac. Er pflegte uns zu Weihnachten
oder zu Geburtstagen kleine Briefchen zu schicken und eine Flasche Monnet-Cognac
beizufügen. Ich selbst bin mehr ein Whisky-Trinker als ein Cognac-Trinker. Aber es hat
immer Leute gegeben bei mir zu Hause, die Monnets Cognac gerne getrunken haben. Zwei Jahre
später ist er gestorben und der französische Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing
und der deutsche Bundeskanzler, ich selbst, haben an der Totenfeier für Monnet gemeinsam
teilgenommen. Einen seiner Briefe habe ich kürzlich erneut in der Hand gehabt, er stammte aus dem
März 1967. Dieser Brief enthielt eine Skizze der psychologischen und politischen
Fortschritte beim Aufbau der europäischen Integration, der Europäischen Gemeinschaften
seit dem Schuman-Plan und er enthielt folgendes wörtlich: "Durch diese Fortschritte
rücken der Beitritt Englands zum Gemeinsamen Markt, die Gleichberechtigung zwischen dem
vereinten Europa und den USA, die friedliche Koexistenz zwischen Ost und West, die
Vereinigung der heute getrennten Deutschen und schließlich, der Beginn einer Gestaltung
des Friedens ihrer Verwirklichung wesentlich näher". So der visionäre Wortlaut aus
einem Brief Jean Monnets an mich, 1967, heute vor 30 Jahren. Monnet war immer ein sehr weit in die Zukunft blickender Mann. Und tatsächlich sind im
Laufe der Jahrzehnte fast alle die von Monnet postulierten Aufgaben gelöst worden. Er war
übrigens selbst ein Mann, der immer zur Geduld ermahnt hat, wohlwissend, daß nur ein
steter Tropfen letztlich dann doch den Stein höhlen kann, wie ein deutsches Sprichwort
behauptet. Für mich, meine Damen und Herren, steht fest, daß ohne diesen sehr
beharrlichen Mann, der zugleich ein sehr bescheidener war, ohne diesen Mann mit dem
sicheren Blick für die Zukunft und mit dem Augenmaß für das jeweils Mögliche, daß wir
ohne ihn nicht dort angelangt wären, wo wir heute stehen. Ohne Jean Monnet wäre es nicht
zu der ungemein wirksamen Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn gekommen, die in der
ersten Hälfte der sechziger Jahre begonnen und die während der sieben Jahre, in denen
Giscard d'Estaing und ich gleichzeitig an der Spitze der beiden Regierungen standen, einen
gewissen Höhepunkt oder sagen wir besser ein Hochplateau erreicht hat. Manche der
Vorstellungen Monnets sind heute noch nicht verwirklicht, z.B. die Überwindung des
Einstimmigkeitsprinzips. Dies bleibt abzuwarten. Vielleicht gelingt dies demnächst in
Amsterdam, wahrscheinlich aber auch dort nicht. Was die Schaffung einer europäischen Währung betrifft - auch das ein Gedanke, der von
Monnet stammt -, so haben wir ja leider in den frühen neunziger Jahren erlebt, daß wegen
naiver nationaler Prestigeeitelkeiten vier Regierungen (in Rom, in Paris, in London und in
Bonn) das Europäische Währungssystem praktisch zerstört haben, welches Giscard
(d'Estaing) und ich Ende der siebziger Jahre, auf Monnets Gedanken fußend, ins Leben
gerufen hatten und von dem wir annahmen, daß der ECU - der sich dann im Laufe der
achtziger Jahre sehr wohl auf den internationalen Finanzmärkten und Kapitalmärkten der
Welt etabliert hatte - der Kern oder der Anker der späteren gemeinsamen Währung sein
würde. Das alles ist leider 1992/93 abgebrochen worden, durch uneinsichtige Regierungen,
die geglaubt haben, mit Hilfe ihres Maastrichter Vertrages etwas sehr viel Besseres in die
Welt zu setzen. Das letztere mag auch so sein. Nur haben sie in Kauf genommen, daß zwischen dem
Inkrafttreten der gemeinsamen Währung, genannt EURO, und der Zerstörung des ECU und des
EWS sieben Jahre der Wirrnis liegen, mit einem Jahrmarkt der Eitelkeiten insbesondere auch
in Frankfurt und in Bonn, aber nicht nur dort. Gleichwohl bin ich ziemlich sicher, daß
wir am 1. Januar 1999 den EURO bekommen werden. Eine kleine Rolle spielt dabei die Frage,
welche europäische Politik die Regierung einschlagen wird, die nach dem kommenden Sonntag
hier in Paris gebildet werden muß. Ich bin also im Grunde sehr optimistisch, auch was die Beteiligung Italiens an der EWU
von Anfang an angeht, die übrigens für Monnet selbstverständlich gewesen wäre.
Optimistisch deshalb, weil im Grunde die Europäische Gemeinschaft - später genannt
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, noch später genannt Europäische Union - inzwischen
schon fünf schwere interne Krisen überwunden hat. Die erste Krise entstand durch das
vorhin erwähnte Scheitern des Pléven-Plans, also der Schaffung einer Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft, im Jahre 1954. Alle Krisen wurden überwunden, weil die
leitenden Politiker oder - um das schöne Wort zu gebrauchen - die Staatsmänner sich in
diesen Krisen schließlich und endlich doch auf die der ganzen Konzeption zugrunde
liegenden vitalen strategischen Interessen der eigenen Nation besonnen haben. Einige haben
länger gebraucht, ein paar Jahre, diese strategischen Interessen selbst zu erkennen und
zu akzeptieren und entsprechend zu agieren. Einige andere haben sie viel früher
verstanden. Ich will Ihnen diese strategischen Motive noch einmal wiederholen, wie sie sich im
Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben: Bei Jean Monnet - ähnlich wie bei der Rede von
Winston Churchill in Zürich im Herbst 1946 - hat sicherlich ein doppeltes Motiv am Anfang
gestanden. Zum einen die Bildung einer Barriere gegen stalinistischen Expansionismus und
gegen das Vordringen der kommunistischen Ideologie im Süden Europas - auch in Frankreich
- und zum anderen die Einbindung Deutschlands in eine größere Einheit. Deutschland, das
war damals Westdeutschland mit rund 40 Millionen Menschen, inzwischen ist es ein
vereinigtes Deutschland mit rund 80 Millionen Menschen. Die Einbindung Deutschlands, die
Selbsteinbindung Deutschlands, ist heute noch wichtiger als sie damals war. Monnet war
einer von denen - übrigens Churchill auch - ,die von Anfang an gewußt haben, das geht
nur, wenn die Franzosen bereit sind, sich selbst auch einzubinden. Ich will hierbei
lediglich anfügen, weil Churchill ein Engländer war, machte er ganz klar, England würde
nicht dazugehören, England habe ja das Commonwealth. Etwas ähnliches könnte man heute
noch aus dem Munde einiger englischer Politiker oder Politikerinnen hören. Im Laufe der sechziger Jahre kam ein anderes strategisches Motiv hinzu: nämlich das
wirtschaftsstrategische Motiv. Weil inzwischen jedermann in Europa erkennen konnte, daß
die Beteiligung am Gemeinsamen Markt für die eigene Nation, für die eigene
Volkswirtschaft erhebliche ökonomische Vorteile mit sich brachte, die man allein auf sich
gestellt so nicht hätte erreichen können. Das Motiv des ökonomischen Vorteils ist sehr
viel später z.B. auch das Motiv für den Beitritt Österreichs gewesen oder Schwedens
oder Finnlands. Im Laufe der neunziger Jahre - im Zeitalter der sogenannten Globalisierung der
Wirtschaft - ist ein viertes strategisches Motiv hinzugekommen. Man muß sich klarmachen,
was das Schlagwort der Globalisierung eigentlich bedeutet, vielleicht auch, was es
verdeckt. Es sind nämlich mehrere Faktoren, die das Phänomen der sogenannten
Globalisierung herbeigeführt haben. Der erste Faktor ist der unglaubliche technologische Fortschritt, z.B. auf dem Felde
des Verkehrs (Containerverkehr über die Ozeane oder des Luftverkehrs), noch stärker auf
dem Felde der Telekommunikation mit Hilfe von Satelliten und Computern, dazu die
erstaunlichen technischen Fortschritte im Finanzverkehr rund um den Erdball, 24 Stunden am
Tage, wobei die smarten jungen Leute tagsüber in Hemdsärmeln vor ihren Screens sitzen,
nachts das Handy neben dem Kopfkissen liegen haben, um jederzeit agieren und reagieren zu
können. Der erste Faktor für die Globalisierung ist also der weltumspannende
technologische Fortschritt. Der zweite Faktor ist die Tatsache, daß - beginnend in den achtziger Jahren, aber dann
kataraktartig zu Beginn der neunziger Jahre - sich die Zahl der Teilnehmer an der
Weltwirtschaft verdoppelt hat. Als wir Mitte der siebziger Jahre - ich sage wir und meine
den französischen Präsidenten und den deutschen Kanzler - die sogenannten
Weltwirtschaftsgipfel ins Leben riefen, angesichts einer weltwirtschaftlichen Krise,
nämlich einer Preisexplosion für Erdöl und Erdgas, da meinte man de facto die westliche
Weltwirtschaft, man meinte die Handvoll OECD-Staaten plus Japan. Von Korea und Taiwan
redete man damals noch als "little tigers". Inzwischen sind das sehr erwachsene
Tiger geworden. Mittlerweile sind sämtliche ehemaligen Republiken der Sowjetunion auch
Teilnehmer der Weltwirtschaft geworden, des weiteren alle Staaten des ehemaligen
"Comecon", oder wie es auf deutsch hieß, des "Rats für gegenseitige
Wirtschaftshilfe", ich nenne hier nur Polen, die alte Tschechoslowakei, Ungarn,
Rumänien, Bulgarien usw. Aber am Allerwichtigsten: Dank Deng Xiaoping ist China mit einer
Bevölkerungszahl von zwölfhundert Millionen heute ebenfalls an der Weltwirtschaft
beteiligt, und Indien mit 900 Millionen Menschen ist ebenso auf dem Wege, ein Faktor der
Weltwirtschaft zu werden. In Deutschland ist der größte Teil der Software, mit denen wir unsere Computer
füttern, in Indien hergestellt worden. Inzwischen gibt es längst High-Technology, die
aus Japan kommt und demnächst werden wir erleben, vielleicht in spätestens 20 Jahren,
daß sogar langlebige hochkomplizierte Investitionsgüter wie Passagierjetflugzeuge aus
China kommen werden und vorher schon Propellerflugzeuge aus Indonesien. Diese werden
billiger sein als Propellerflugzeuge aus Eindhoven. Dazu kommt die Explosion der Weltbevölkerung, insbesondere in der zweiten Hälfte
unseres Jahrhunderts. Am Anfang dieses Jahrhunderts waren wir 1,6 Milliarden Menschen,
heute sind wir ungefähr 6 Milliarden Menschen, also eine Vervierfachung der Menschheit in
nur einem einzigen Jahrhundert! Unvorstellbar! Wir rücken immer näher zusammen. Alles
das kann man zusammenfassen unter dem Stichwort "Globalisierung". Ein wichtiger
Faktor der Globalisierung muß hier aber noch genannt werden: nämlich die im Grunde
vernünftige, sehr weitreichende Liberalisierung des Verkehrs mit Waren und
Dienstleistungen, des Kapitalverkehrs und des Geldverkehrs. Ich sagte, im Grunde
vernünftig, führt sie doch zu einer stärkeren Arbeitsteilung weltweit. Aber die
Globalisierung führt eben auch dazu, daß Nationen, die mit geringen Löhnen zufrieden
sind und die zufrieden sind mit geringen Sozialleistungen, daß die auch zufrieden sein
können mit der Erzielung geringerer Preise und Entgelte für ihre Güter und für ihre
Leistungen. Aber wir hier, in Frankreich, in Deutschland, in Belgien, in Holland, in
anderen Teilen Westeuropas, wir sind hohe Löhne und hohe Sozialleistungen gewohnt und
merken plötzlich, daß wir nicht schritthalten können mit all denen, die gleich gute
Produkte herstellen - in Pilsen, in Prag, oder in Shenzen, in Kanton oder in Seoul oder
Taipeh, aber billiger als wir. Unsere Politiker stehen nun wie der Ochs vor dem
geschlossenen Scheunentor und wissen nicht, wie man das Tor aufmacht. Gleichzeitig mit der Globalisierung entwickelt sich eine neue Machtkonfiguration auf
der Welt. Viele Amerikaner bilden sich ein, sie könnten z.B. durch die Erweiterung ihres
Instrumentes NATO, aber auch auf andere Weise, die USA als einzige Supermacht auch für
das 21. Jahrhundert etablieren. Ich glaube, dies bleibt ein Wunsch. Sie übersehen, daß
inzwischen China zu einer Weltmacht aufsteigt, in zwanzig Jahren werden die chinesische
Volkswirtschaft und die chinesischen Exporte (nicht nur die chinesischen Importe) genauso
umfangreich sein, wie diejenigen Japans; in dreißig Jahren werden sie genauso groß sein
wie diejenigen der USA; vielleicht zehn Jahre später genauso groß wie die Exporte und
Importe der Europäischen Union. China nicht als Weltmacht anzusehen ist ein schwerer
Fehler, der zu schweren strategischen "blunders" im Laufe der kommenden
Jahrzehnte führen kann. Ebenso ist es ein folgenreicher Fehler, nicht zu begreifen, daß
Rußland trotz seiner immensen internen Schwierigkeiten - die vielleicht 25 Jahren dauern
werden, vielleicht aber auch 50 Jahre - gleichwohl eine Weltmacht ist und bleibt. Schon
allein wegen seines riesigen Territoriums. Darin steckt viel Öl und Erdgas und viele,
viele weitere Mineralien, die noch nicht exploriert, geschweige denn schon exportierbar
sind. Außerdem hat Rußland immer noch weit über 10.000 nukleare Waffen. Es wäre auch
ein Fehler, sich einzubilden, daß Japan seine Qualität als finanzielle Weltmacht
verlieren wird - auch wenn dieses Land heute in großen Schwierigkeiten steckt, über die
sich andere hämisch der Schadenfreude hingeben. In dieser globalisierten Wirtschaft und angesichts dieses demnächst entstehenden
Kartells von Weltmächten können Länder wie Holland oder Belgien oder Italien oder
Frankreich oder Deutschland oder die Tschechische Republik oder Polen ihre Interessen
allein nicht wirksam verfolgen. Dies ist ganz ausgeschlossen. Auch wenn es viele Franzosen
und noch mehr Engländer gibt, die ihr Land auch heute noch für eine Weltmacht halten. Es wird aber notwendig sein, die eigenen Interessen nicht unter den Tisch kehren zu
lassen, z.B. nicht auf den Feldern, die möglicherweise in den kommenden Jahrzehnten eine
ganz große Bedeutung erlangen werden, nämlich: die Reinhaltung unserer Atmosphäre und
die Reinhaltung der Ozeane und des Wassers. Aber schon auf den viel näher liegenden
Feldern - wie dem Währungsgefüge der Welt, der Kontrolle über die spekulativen
Finanzmärkte der Welt, selbst auf dem herkömmlichen Konfliktfeld der Handelspolitik, auf
dem Felde der Abrüstung, auf dem Gebiet der Verhinderung von Waffenhandel und Handel mit
Panzern und mit Militärflugzeugen - werden die kleinen und mittleren Staaten Europas, zu
denen wir gehören, nicht in der Lage sein, einzeln und jeder für sich gegenüber den
Giganten ihre Interessen wirksam zu vertreten. Dies ist ein neues, zusätzliches
strategisches Motiv für die Fortsetzung der europäischen Integration. Man kann
eigentlich nur nachdrücklich die Weitsicht Jean Monnets bewundern, dessen Brief ich
vorhin vorgelesen habe, in dem er von der Gleichberechtigung zwischen dem Vereinigten
Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika sprach. Heute würde er hinzufügen: Und
China - und Rußland. Ich war nie ein europäischer Idealist. Das muß ich ihnen bekennen. Ich war und bleibe
ein Anhänger der europäischen Integration aus dem eigenen Interesse meines Volkes. Aus
dem eigenen Interesse seines Volkes war auch Jean Monnet ein Anhänger der europäischen
Integration. Nicht aus Schwärmerei - Monnet war ein Mann, der nüchtern kalkulieren
konnte - , sondern aus den vitalen Interessen der Franzosen und der Deutschen heraus ist
das Gebäude Europäische Union entstanden. Aus diesem vitalen Interesse
heraus haben die Staatsmänner in allen Krisen letztlich doch immer wieder einen
vernünftigen, nach vorne weisenden Ausweg gefunden. Das werden sie auch tun vor dem 1.
Januar 1999, wenn es sich darum handelt, die gemeinsame europäische Währung, genannt
EURO, ins Werk zu setzen. Dieser verzwickte und reichlich komplizierte, teilweise auch
Überflüssiges enthaltende Maastrichter Vertrag gibt ihnen dafür ja auch das
vernünftige Werkzeug an die Hand. Jeder, der mir im Augenblick noch nicht glaubt, möge
heute abend dann zuhause den Vertrag selbst in die Hand nehmen und die Artikel 104c und
109 lesen. Da steht nichts drin von strikter Einhaltung, von Staatsdefizit -
Quote von 3,0. Da steht auch nichts drin von strikter Einhaltung einer
Schuldenquote des Staates von 60%. Sondern da steht, daß der Europäische Rat (das sind
also die Regierungschefs und die Staatschefs im Europäischen Rat) zu berücksichtigen
hat, ob ein Land, das sich an der gemeinsamen Währung beteiligen will, auf dem richtigen
Weg ist oder nicht. Sehr vernünftig! Deswegen habe ich vorhin gesagt, Italien wird nach
meiner Meinung wahrscheinlich von Anfang an dabei sein. Ich würde es jedenfalls dringend
wünschen, weil Italien auf dem richtigen Weg ist. Wenn ich vorhin sagte, ich war nie ein Idealist oder ein Schwärmer, dann will ich hier
in diesem Zusammenhang betonen: Das, was wir unter der geistigen Ägide Jean Monnets
angefangen haben, nämlich vor beinahe 50 Jahren mit dem Schuman-Plan, datiert von Mai
1950, haben wir nie in der Absicht verfolgt, etwa unsere nationalen Identitäten zu
verschmelzen oder aufzugeben, unsere nationalen Sprachen aufzugeben, unser nationales
kulturelles Erbe aufzugeben. Alles das wollen wir - alle Mitgliedsstaaten der EU! - uns
erhalten! Dies ist nun allerdings ein in der Menschheitsgeschichte einmaliges Vorhaben. Ob
Sie zurückgehen in die Jahrtausende des alten Ägypten oder in die Jahrtausende des
Zweistromlandes zwischen Euphrat und Tigris, oder ob sie nur etwas mehr als zweitausend
Jahre zurückgehen, in die Zeiten Alexanders des Großen, oder zweitausend Jahre
zurückgehen in die Zeiten des Römischen Reiches, oder ob sie nur 60 Jahre zurückgehen
in die Zeiten Hitlers, oder weniger als 60 Jahre in die Zeiten des stalinschen
Imperialismus: Noch niemals in der ganzen Weltgeschichte haben sich Völker aus eigenem
Entschluß und freiwillig zur Vereinigung aufgemacht, nicht unter dem Druck eines
Eroberers, nicht unter dem Daumen eines allmächtigen Kaisers, nicht unter dem Druck eines
Diktators, sondern freiwillig aus der Erkenntnis ihrer eigenen Interessen. So schwierig wie die europäische Integration auch bleiben wird und wieviele Krisen wir
dabei auch noch erleben werden: Weil die strategischen Grundprinzipien inzwischen
vordringen in das Bewußtsein der leitenden Politiker - bei manchen etwas später, bei
manchen eher, auch der nachwachsenden Politiker -, deswegen bin ich durchaus nicht
pessimistisch. Abschließen möchte ich mit einer letzten Bemerkung über den großen Franzosen Jean
Monnet. Er war ein Regisseur, nicht einer, der selbst auf der Bühne die erste tragende
Rolle spielte. Der Regisseur, der am Theater Shakespeare aufführen will - sei es ein
Drama oder sei es der "Sommernachtstraum" oder "Was ihr wollt" -, der
kann gezwungen sein, Streichungen im Text Shakespeares vorzunehmen, weil sonst das Stück
zu lang ist. Er kann sich neue Bühnenbildner holen, dann sieht der
"Sommernachtstraum" auf der Bühne ganz anders aus als vor dreißig oder vierzig
Jahren. Aber Jean Monnet war mehr als ein Regisseur am Theater in diesem Sinne. Er
brauchte auch keinen Shakespeare. Sondern der Regisseur schrieb sein Drama selbst. Er
hatte alles im Kopf. Er hat sein Stück selbst erfunden, er hat es im Gespräch mit
anderen abgerundet, ehe er es wirklich auf die Bühne brachte, oder ehe er den nächsten
Akt auf die Bühne brachte. Sein Drama bestand aus vielen Akten, einer nach dem anderen.
Er hat hier probiert und dort probiert, abgerundet, vielleicht auch mal einen ganzen Akt
vorübergehend zurückgestellt, auch einmal eine Szene ganz gestrichen und ersetzt durch
eine andere, weil er das weltpolitische Theater nicht überspannen und überfordern
wollte. Er war in meinen Augen ein einzigartiger Mann, ein Kerl, wie man in Deutschland
auch wohl sagt, ein Genie. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1998 |