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Zur biographischen Geschichtsschreibung

Die Geschichtsschreibung der deutschen Arbeiterbewegung, die in den letzten Jahren einen so erfreulichen Aufschwung genommen hat, sparte zwei große Bereiche weitgehend aus: die Darstellung einzelner Gewerkschaftsverbände und die Lebensläufe ihrer Repräsentanten. Gewiß: Gerade im letzten Jahrzehnt hat es bedeutende Fortschritte auf dem Gebiet der Gewerkschaftsforschung gegeben und auch die Situation bei der Darstellung der wichtigsten Vorläuferorganisationen der Gewerkschaft ÖTV muß als vergleichsweise günstig angesehen werden. Dennoch gelten nach wie vor Helga Grebings bittere Worte: Viele Berufs- und Industriegewerkschaften "sind gerade dem Namen nach bekannt" [ Helga Grebing: "Sozialer Wandel, Konflikt und gewerkschaftliche Organisation. Einleitende Bemerkungen zum Symposium über die Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918", in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 15 (1979); H. 2, S. 229.] . Auch von einer "Einbettung" der gewerkschaftlichen Entwicklung in die sozio-ökonomische und politische Zeitsituation wird noch lange nicht die Rede sein können. [ Michael Schneider: "Gewerkschaften und Emanzipation, methodologische Probleme der Gewerkschaftsgeschichtsschreibung über die Zeit bis 1917/18", in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. XVII (1977), S. 418.] Es fehlen für den Bereich des öffentlichen Dienstes, des Transport- und Verkehrswesens vollständig die Einzeldarstellungen der Verbandsgeschichte der christlichen Gewerkschaften für die Zeit vor 1933, über kleinere Gewerkschaftsorganisationen (Friseure, Feuerwehrmänner, Gärtner etc.) sind wir nur durch zeitgenössische Selbstdarstellungen unterrichtet. Völlig ausgeblendet blieben bislang die freigewerkschaftlichen Beamtenorganisationen und die Angestelltenorganisationen, die als Vorläuferorganisationen der Gewerkschaft ÖTV zu gelten haben. Interessierte, die sich über die Geschichte des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" informieren wollen, müssen immer noch zur gewerkschaftseigenen "Jubiläumsliteratur" [ Zu diesem Thema s. Gerhard Beier: "Glanz und Elend der Jubiläumsliteratur. Kritische Bestandsaufnahme bisheriger Historiographie der Berufs- und Industriegewerkschaften", in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 19 (1968), S. 607-614.] aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik greifen. Den zeitgenössischen Doktorarbeiten sind diese Standardwerke aus der Feder der Verbandsangestellten hoch überlegen.

Die Gründe, die zur großen Distanz der akademischen Geschichtsschreibung der Gewerkschaftsgeschichte geführt haben, sind schnell aufgezählt. Die Quellen sind weit verstreut und mühselig aufzufinden. Verbandseigene Archivalien haben Krieg und Faschismus nicht überstanden. Erfolge gewerkschaftlicher Arbeit lassen sich nicht spektakulär darstellen. Hinter langen Tabellen von Ecklöhnen, Arbeitszeiten und Urlaubstagen verschiedener Branchen verbirgt sich oft eine monatelange Arbeitsleistung, die von vielen akademischen Lehrern nur unzureichend gewürdigt wird. Gewerkschaftspolitik ist mit Kompromissen verbunden, scheinbar steht die Gewerkschaftsseite immer auf der Seite der "Verlierer", vergleicht man gewerkschaftliche Ansprüche zu Beginn eines Lohnkonfliktes mit dem Ergebnis eines Tarifabschlusses. Häufig - dies gilt besonders für das Kaiserreich - waren die Niederlagen der Arbeitnehmer bitter und führten zu raschem Niedergang der kleineren Organisationen. Der Solidaritätsgedanke, der Kompromiß, kleine Fortschritte bei der Entlohnung, Verbesserungen bei der Arbeitsplatzgestaltung entziehen sich einer spektakulären Darstellung. Kurzum: Gewerkschaftsgeschichte taugt nicht zur "Heldengeschichtsschreibung". Junge Wissenschaftler werden von solchen Themen kaum angezogen. Dies gilt für die deutsche wie für die internationale Geschichtsschreibung.

Überraschend ist allerdings die Abstinenz der deutschen Geschichtsschreibung im Bezug auf die Darstellung von Lebensläufen namhafter Repräsentanten aus der Arbeiterbewegung. Seriöse Biographien von führenden Gewerkschaftern sucht man in den Katalogen der einschlägigen Spezialbibliotheken in der Regel vergebens. Auch die Situation auf dem Gebiet lexikalischer Hilfsmittel ist eher bescheiden. 1983 appellierte der polnische Historiker Feliks Tych an die deutschen Historiker der Arbeiterbewegung, sich ihrer Verantwortung bewußt zu werden und ihre Kraft endlich zu bündeln, wichtige Lücken auf dem Gebiet der "Enzyklopädistik der deutschen Arbeiterbewegung" zu schließen. Vor allem "eine relativ geringe Präsenz von Gewerkschaftern" falle in den einschlägigen Nachschlagewerken auf. [ Feliks Tych: "Lexikalische Hilfsmittel zur Geschichte der Arbeiterbewegung", in: IWK. Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Jg. 19 (1983), H. 2, S. 154.] Zählt man Gewerkschaftsbiographien in den jüngsten, erschienenen großen Nachschlagewerken zusammen [ Exemplarisch seien genannt: Heiner Budde: Weder Kapitalismus noch Sozialismus. Die Entwicklung christlich-sozialer Politik im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Mit Lebensbildern ehemaliger, christlicher Gewerkschafter und Politiker. Königswinter 1985. Sie waren die ersten. Frauen in der Arbeiterbewegung. Hrsg. von Dieter Schneider. Frankfurt am Main 1988. Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. Hrsg. Werner Röder u. Herbert A. Strauss. München [u.a.] 1980 Gerhard Beier. Schulter an Schulter. Schritt für Schritt. Lebensläufe deutscher Gewerkschafter. Von August Bebel bis Theodor Thomas. Köln 1983. Wilhelm Heinz Schröder: Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918. Biographisch-statistisches Handbuch. Düsseldorf 1986.] , addiert man dazu die "versteckten Biographien" in zahlreichen Doktorarbeiten und Gesamtdarstellungen [ Mustergültig der biographische Anhang von Willy Buschak: Von Menschen, die wie Menschen leben wollten. Die Geschichte der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten und ihrer Vorläufer. Köln 1985. ] so hat sich die Situation in den letzten Jahren sichtlich gebessert, von einer befriedigenden Situation kann aber immer noch nicht gesprochen werden. Hierbei handelt es sich allerdings um ein typisches deutsches Phänomen. Im Ausland hat die "biographische Kultur " der Arbeiterbewegungsgeschichtsschreibung eine große Tradition. Besonders in den romanischen Ländern stehen die biographischen Nachschlagewerke der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung auf hohem Niveau. Natürlich geht es den französischen, italienischen ung angelsächsischen Autoren nicht um einen besonderen Personenkult. Biographische Arbeiten müssen eingebettet sein in den allgemeinen, sozialhistorischen Zusammenhang; die Lebensläufe führender Gewerkschafter stehen "für etwas". [ Treffend beschreibt es Jutta Seidel "Individual- und Kollektivbiographie: zwei Wege historischer Erkenntnis", in: 'Andere' Biographien und ihre Quellen. Biographische Zugänge zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Ein Tagungsbericht. Wien 1992, S. 11: "Wenn das Anliegen auf 'biographische Totalität' zielt, auf die Gesamtwirksamkeit der Persönlichkeit in ihrer Zeit, auf ihre unverwechselbare Individualität und Psychologie, wird die komplexe Beschreibung aller Lebensebenen den Brennpunkt für die gesamte Konzeption und Darstellung bilden, gewiß aber nicht losgelöst vom allgemeinen historischen Prozeß, sondern in ihm eingebettet." ] Erst in der Zusammenschau vieler kollektiver Lebensdaten mit der allgemeinen, historischen Entwicklung macht biographische Forschung Sinn. Dennoch: Auch die Darstellung eines einzelnen Lebens zählt. Verkörpert doch ein einzelnes Leben exemplarisch die Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten der Emanzipation des arbeitenden Menschen.

Durch den "Filter individueller Lebensläufe" läßt sich die breite Palette gewerkschaftlicher Deutungen gesellschaftlicher und politischer Krisen und die Vielfalt gewerkschaftlicher Handlungsentwürfe vorstellen. Frühe, prägende Faktoren in den Lebensläufen, die soziale Herkunft, das regionale Milieu, die gesellschaftliche Mentalität während der Berufsausbildung, die generationsspezifische Erfahrung führender Repräsentanten bieten vielfache Erklärungen für den politischen und theoretischen Standort der Gewerkschaften für das Kaiserreich und der ersten und zweiten deutschen Republik. [ Ich folge hier den Herausgebern Peter Lösche, Michael Scholing und Franz Walter in: Vor dem Vergessen bewahren. Lebenswege Weimarer Sozialdemokraten. Berlin 1988, S. 9. Der Biographienband enthält u.a. die eine Biographie von Siegfried Aufhäuser. ] Eine Gruppe west- und ostdeutscher Historiker, geprägt durch ihre unterschiedlichen Lebensläufe, hat den Sachverhalt vor geraumer Zeit auf den Begriff gebracht: "In Biographien ist gelebte Gesellschaftsgeschichte realisiert. Biographische Arbeit ist ein Mittel, wie Gesellschaftsmitglieder sich selbst Geschichte [...] lebbar machen. Gesellschaften reißen Lebensgeschichten mit sich, ermöglichen oder beenden sie, erzwingen Zustimmung oder Ablehnung und manchmal beides. Lebensgeschichten zeigen, wie eine Gesellschaft ist und wie sie geworden ist. Schließlich zeigen die Lebensgeschichten derer, die eine Gesellschaft nicht duldete, vertrieb oder vernichtete, welche humanen Möglichkeiten eine Gesellschaft nicht realisiert hat." [ Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktion gelebter Gesellschaftsgeschichte. Opladen 1995, S. 10.] Diese Aussage trifft auf die Gewerkschaftsrepräsentanten in besonderem Maße zu. der Glaube an eine bessere Zukunft, an ein menschenwürdiges Leben in Kaiserreich und Weimarer Republik, Entrechtung und Verfolgung während des Faschismus und der ungebrochene Optimismus der unmittelbaren Nachkriegszeit spiegeln sich im Ablauf dreier Gewerkschaftergenerationen wieder. Es muß nur begonnen werden, sie aufzuschreiben. Erfreuliche Ansätze in der biographischen Geschichtsschreibung der letzten Jahren sind in jüngster Zeit fast zum Erliegen gekommen. Diese Tatsache soll allerdings nicht entmutigen. Das Motto dieser Arbeit hat Ulrich Borsdorf vor knapp zwanzig Jahren vorformuliert: "Die Gewerkschaftsführer aus der Namenlosigkeit in ihren Funktionen und aus der Anonymität in ihren Organisationen zu lösen, sie als Typen mit ihren individuellen und durch den Funktionswandel und die Geschichte der Gewerkschaften geprägten Zügen vorzustellen", sollte hier begonnen werden. [ Ulrich Borsdorf: "Deutsche Gewerkschaftsführer - biografische Muster", in: Gewerkschaftliche Politik: Reform und Solidarität. Zum 60. Geburtstag von Heinz O. Vetter. Köln 1977, S. 41. ]

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Selbstzeugnisse

Noch karger als mit wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Biographien aus der Gewerkschaftsbewegung sieht es mit Selbstbiographien der Betroffenen aus. Auch hier lehrt der Blick über die nationalen Grenzen hinweg, daß dies nicht naturnotwendigerweise so sein muß. In Großbritannien, dem Mutterland der Gewerkschaftsbewegung, finden sich zahlreiche und wichtige Selbstzeugnisse, die für interessierte Laien, Mitglieder, Gewerkschaftsfunktionäre und neugierige Historiker subjektiv den Weg vom Handarbeiter zum verantwortungsbewußten und verantwortlichen Repräsentanten der eigenen Organisation beschreiben.

Die sehr strenge "Schule" der deutschen Arbeiterbewegung, die weit in die Gewerkschaftsbewegung hinein von der historisch-materialistischen Idee der Klassenkampftheorie bestimmt war, ließ ganz offensichtlich kein Klima entstehen, in dem biographische Selbstdarstellungen gedeihen konnten. Die Vorstellung, daß die eigene Person exemplarisch für den Gesamtaufstieg der eigenen Klasse stehen könnte, kam den meisten Verantwortlichen überhaupt nicht in den Sinn. Im Gegenteil: die "Überhöhung" der eigenen Person wurde scharf bekämpft; biographische Würdigungen waren selten und wurden knapp gehalten. Individuelle Noten herauszustreichen war verpönt; und wenn es geschah, waren sie oft Quelle von Zank und Hader. Dieser erkennbare Mangel an Individualität war nicht zuletzt auf das Selbstverständnis der Gewerkschaftsrepräsentanten zurückzuführen, "die das Kollektiv, das sie repräsentierten, auch insofern verkörperten, als sie ihren persönlichen Lebensweg ganz hinter ihre Funktion in der Gewerkschaftsbewegung zurücktreten ließen". [ Klaus Schönhoven: Expansion und Konzentration. Studien zur Entwicklung der Freien Gewerkschaften im Wilhelminischen Deutschland 1890 bis 1914. Stuttgart 1980, S. 233.]

Die großen Verbände der Vorläuferorganisationen der Gewerkschaft ÖTV und ihre gewählten Funktionäre wichen von diesem Modell nicht ab. Die eigene Person wurde extrem zurückgenommen, Ansätze eines scheinbaren Personenkultes sofort bekämpft. Oswald Schumann, der über dreißig Jahre als Vorsitzender die Geschicke seiner Gewerkschaft bestimmt hatte, brachte es auf dem 13. Bundestag des "Deutschen Verkehrsbundes" im August 1928 auf den Begriff: "Wer in den Dienst der Organisation tritt, muß sich damit abfinden. Er darf dabei auf besondere Anerkennung nicht rechnen; denn dafür, daß ich meine Pflicht tue, also mir selbst genüge und mir Beruhigung verschaffe, daß ich doch zur Entwicklung der Dinge etwas beigetragen habe, brauche ich keinen besonderen Dank." [ Protokoll über die Verhandlungen des 13. Bundestages abgehalten im Volkshaus Leipzig, Zeitzer Straße 32 vom 12. bis 17. August 1928. Berlin 1928, S 114.] Wenige Jahre vorher hatte der Chefredakteur des "Courier. Zentralorgan für die Interessen der im Handels-, Transport- und Verkehrsgewerbe beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands. Publikationsorgan des Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" in einem Rückblick "25 Jahre Deutscher Transportarbeiter-Verband" es in seinen Worten gesagt: "Wir sind als moderne Menschen Gegner jedes Personenkultes, unser 'Courier' hat dieses Gesetz stets scharf in seinen Spalten zum Ausdruck gebracht, dort haben Namen und Personen nie eine Rolle gespielt." [ Courier, 23. Jg. Nr. 53 (31. Dezember 1921).] Was diese Worte Hans Drehers für Gewerkschaftsbiographen bedeuten, die der familiären Herkunft, dem beruflichen Werdegang und dem gewerkschaftlichen Aufstieg nachspüren wollen, braucht an dieser Stelle nicht besonders betont zu werden. Die erste Verbandsgeschichtsschreibung des Gewerkschaftsvorsitzenden Schumann und des Chefredakteurs Dreher mit dem programmatischen Titel: "Die ökonomischen Vorbedingungen und das Werden der Organisation. Ein Ausschnitt aus der Geschichte der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter-Bewegung Deutschlands" wurde daher folgerichtig fast ohne Namen geschrieben. Personen treten bestenfalls als Antragsteller von Resolutionen oder in dem Text der Resolutionen selbst auf.

Die gänzliche Zurücknahme der eigenen Person nach außen hin war bei den Transportarbeitern besonders extrem. Nicht ganz so stark ausgeprägt war diese "biographienfeindliche" Einstellung bei den freigewerkschaftlichen Gemeindearbeitern. Das Verbandsorgan "Gewerkschaft" räumte zu besonderen Ereignissen den Lebensläufen der herausragenden Repräsentanten mehr Platz ein. Dennoch gab es auch im "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" Tendenzen, scharf vorzugehen, wenn "persönliche Dinge" ins Spiel kamen. Als der Chefredakteur der "Gewerkschaft", der gelernte Drucker Emil Dittmer, 1911 in einem unterhaltsamen, feuilletonistischen Artikel eigene Erlebnisse während seinen Urlaubes mit Betrachtungen über die Arbeitsbedingungen der bayrischen Wasserbauarbeiter mischte, kam es zu scharfen Kontroversen auf dem kommenden Verbandstag. Voller Empörung rief das Vorstandsmitglied Richard Maroke aus: "Was geht es die Gesamtheit der Kollegen an, wo der Redakteur seinen Urlaub verbringt, wann er aufgestanden ist usw. Das sind keine weltbewegenden Dinge, die in der 'Gewerkschaft' stehen müssen [...]." [ Protokoll der Verhandlungen des 6. Verbandstages abgehalten vom 2. bis 8. Juni 1912 in der 'Schießstätte' auf der Theresienhöhe in München. Berlin 1912, S. 64.] Die unversöhnliche Haltung allem Persönlichen gegenüber wurde für kurze während des I. Weltkrieges aufgehoben. Die eingezogenen Verbandsfunktionäre lieferten in ihrer Gewerkschaftspresse Kriegsbilder ab, die fast lyrisch zu nennen sind. Zu keinem Zeitpunkt sonst sprachen hartgesottene Interessenvertreter so offen über sich und ihre Stimmungen. Spätestens jedoch mit dem Verbot durch die Zensurbehörden, die mit solchen Stimmungsbildern dem Feind keine Hinweise geben wollten, kam diese Art persönlicher Preisgabe in der Gewerkschaftspresse wieder zum Erliegen.

Das Urteil über die "Biographienfeindlichkeit" in der Gewerkschaftsbewegung gilt in dieser Härte allerdings nur für die beiden großen, freigewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen der Transport- und Gemeindearbeiter. Diese beiden Gewerkschaften, die unter schwierigen Bedingungen meist Arbeiter in Hilfsarbeiterfunktionen organisierten, versammelten freilich die meisten Mitglieder, die vor der nationalsozialistischen Machtergreifung zu den Vorläuferorganisationen der Gewerkschaft ÖTV zu zählen sind.

In den christlichen Vorläuferorganisationen pflegte man ein anderes Verhältnis zu den Vorstandsmitgliedern. Verbandsjubiläen der gewählten Repräsentanten wurden ausgiebiger gewürdigt. Zu gegebenem Anlaß teilte man auch familiäre Dinge mit (Silberhochzeit, Zahl der Kinder und Enkelkinder). Auch auf die Lebensbedingungen der Eltern wurde stärker hingewiesen. Im christlichen Milieu spielten die engen, persönlichen Beziehungen eine viel wichtigere Rolle. Relativ gut ist auch die biographische Überlieferung bei den kleineren freigewerkschaftlichen Vorläuferverbänden. Bei den gewerkschaftlich organisierten Friseuren, die 1932 den Weg zum "Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs" fanden, gehörten ausgiebige Würdigungen der engeren Vorstandsmitglieder zum guten Ton. Eine gleiche Aussage kann man für die Presse der organisierten Gärtner treffen, die sich 1929 dafür entschieden, mit den Transport-, Verkehrs- und Gemeindearbeitern zu fusionieren. Zu herausragenden Jubiläen befragten die Redakteure Veteranen, die oft bisher unbekannte Details aus der allerersten Gewerkschaftsphase der Gärtner preisgaben, deren nationale Gründung bis ins Jahr 1889 zurückreichte. Das Herausstreichen der besondere Leistungen einzelner hatte bei den kleineren Verbände sicher seine Bedeutung. In rückständigen Gebieten bei niedrigem Organisationsgrad hing es oft vom mutigen und selbstbewußten Auftreten einzelner bekennender Gewerkschafter ab, ob sich überhaupt eine Organisation vor Ort bildete.

Autobiographien oder autobiographische Berichte aus der Feder von Gewerkschaftsrepräsentanten der Vorläufergewerkschaften der ÖTV lassen sich praktisch an einer Hand abzählen. Vom 2., ehrenamtlichen Vorsitzenden des christlichen "Zentralverbandes der Gemeindearbeiter und Straßenbahner" stammt die autobiographisch gefärbte Geschichte der Kölner Straßenbahnen: "45 Jahre Kölner Straßenbahnen. Lebenserinnerungen aus Betrieb und Gewerkschaft". Köln 1949, die viel über Milieu und Geist der rheinischen, christlichen Gewerkschaften aussagt. Aus der Feder des Vorstandsmitglieds des "Gesamtverbandes der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs", dem späteren Arbeitsminister von Baden-Württemberg David Stetter, stammt unmittelbar aus der Nachkriegszeit ein kleiner Privatdruck "Als ich noch der Hütejunge war", der Einblick in die ländlichen Strukturen Württembergs um die Jahrhundertwende gibt. Wer will, kann daraus die strukturellen Bedingungen ablesen, die zum Aufstieg des "Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter" führten: Industrialisierung, Krise des ländlichen Sektors, Wanderbewegung von der Stadt zum Land, Verdingen in der Großstadt als kommunaler Hilfsarbeiter. Es ist kein Zufall, daß beide genannten Arbeiten in keiner großen, öffentlich zugänglichen Bibliothek auszuleihen sind. Von Albert Störmer stammt in anonymer Form kurz vor seinem Tode 1922 ein Lebensbericht, der Realität und Wunschdenken stark mischt. Die Lebenserinnerungen des ersten schillernden Vorsitzenden der Seeleutegewerkschaft - einem totalen Außenseiter im gewerkschaftlichen Milieu - überarbeitete Carl Lindow der Redakteur der "Schiffahrt". Seinen Lesern präsentierte er die Lebensgeschichte in den zwanziger Jahren quasi als Fortsetzungsroman. Die Autobiographie Josef Orlopps wird heute in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv verwahrt. Das Manuskript "Für den Sieg der Arbeiterklasse", kurz vor seinem Tod 1960 verfaßt, geht nicht über eine orthodoxe Interpretation der Geschichte der Arbeiterbewegung aus leninistischer Sicht hinaus. Sie "lebt" nur auf den ersten Seiten bei der Beschreibung der persönlichen Lebensumstände, der Familiensituation und seiner Wanderzeit. Von Louis Brunner, dem gelernten Drechsler und großen Autodidakten der Gewerkschaftsstatistik ist bekannt, daß er im hohen Alter eine biographisch gefärbte Gewerkschaftsgeschichte verfaßt hat. Das Manuskript des Vorstandsmitglieds des "Deutschen Verkehrsbundes" muß heute leider als verschollen gelten. Unauffindbar ist auch Franz Köhlers autobiographischer Roman "Aus dem Seemannsleben. Wie Tedje zu einer Seejacke kam". Monatelange Fernleihbestellungen nach diesem Werk verliefen im Sande. Ein Manuskript Richard Nürnbergs verwahrt die Familie. Der Text des ehemaligen Lokalisten, Krankenkassenexperten und Kassierers im "Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs" konnte in die vorliegende Arbeit leider nicht einfließen.

Für die Zeit nach 1949 hat sich die biographische Situation deutlich gebessert. Im "ÖTV-Magazin" (und seinen Vorläufern) werden führende Persönlichkeiten der Gewerkschaft angemessen gewürdigt. Das generell wachsende Interesse der Öffentlichkeit an persönlichen Lebensbereichen hat gesellschaftlich tiefen Wandel hinterlassen. Auch Gewerkschaften "befriedigen" die legitime Neugier der Medienvertreter nach dem gelebten Leben ihrer Repräsentanten. Verwehrte der erste, gewählte Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV einigen Journalisten wegen unfairer Berichterstattung zeitweise den Zutritt zu Pressekonferenzen, werden Kurzbiographien der gewählten gHV-Mitglieder seit 1968 im Pressedienst angeboten.

Das Interesse der Medienvertreter konzentriert sich jedoch ausschließlich auf die Person des Vorsitzenden oder der Vorsitzende. Schon im "Spiegelarchiv" wird man größere Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über die 2. Gewerkschaftsvorsitzenden in der Regel vergeblich suchen. Es bleibt den Gewerkschaften deshalb selbst vorbehalten, ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Frauen und Männer zu schreiben.

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Aufnahmekriterien



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Freie Gewerkschaften

Welche Frauenund Männer sind im vorliegenden Nachschlagewerk gewürdigt? Der Zeitraum der Geschichte der Gewerkschaft ÖTV und ihrer Vorläufergewerkschaften umfaßt eine Epoche vom Ausgang des Sozialistengesetzes (1889/1890) bis in die Neuzeit. Für eine Spanne von mehr als 100 Jahren galt es, repräsentativ auszuwählen, alle Richtungen und Organisationen angemessen zu berücksichtigen und die Gewerkschaftsrepräsentanten entsprechend zu "gewichten". Außerdem mußten die Kriterien klar und nachvollziehbar sein.

Rasch kristallisierte sich heraus, daß das Lexikon für die Zeit vor 1933 alle Vorsitzenden der freigewerkschaftlichen Arbeiter-, Angestellten- und Beamtengewerkschaften enthalten sollte, die in der Tradition der Gewerkschaft ÖTV stehen. Für diese Richtungsgewerkschaft - sie neigte politisch zur Sozialdemokratie - ist die Situation vor 1918 recht übersichtlich. 1896/97 entstanden die großen Zentralverbände der Transport-, Handelshilfs- und Gemeindearbeiter, die 1930 zur zweitgrößten Gewerkschaft im Deutschen Reich fusionierten. 1910 hatten sich die organisierten Seeleute und Hafenarbeiter mit den Transport- und Handelshilfsarbeitern zum "Deutschen Transportarbeiter-Verband" zusammengeschlossen, der 1923 im "Deutschen Verkehrsbund" mündete. Bereits während des Kaiserreiches (aber auch während der Weimarer Republik) stießen kleinere Verbände zum großen freigewerkschaftlichen Strom der Arbeiter im rasch expandierenden Transport- und Verkehrsgewerbe. Auch der "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" nahm im Verlaufe seiner Geschichte kleinere Organisationen auf, die es zu berücksichtigen galt.

Aus heutiger Sicht ungewöhnlich ist die Aufnahme von Eisenbahnern, Postbediensteten, Gärtnern, Hausgehilfinnen und Portiers in das biographische Lexikon. Diese Berufe werden heute von anderen Gewerkschaften als der ÖTV vertreten. Der "Verband der Eisenbahner Deutschlands" suchte von 1908 bis 1916 Schutz unter dem Dach des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes", um Verfolgungen und Unterdrückungen zu entgehen. Für die Zeit der Gründung bis zum dritten Nachkriegsjahr wurden deshalb alle Eisenbahnervorsitzenden verzeichnet. Auch der "Zentralverband der Hausangestellten Deutschlands" - heute im Organisationsbereich der Gewerkschaft NGG verankert - muß ebenfalls als Vorläuferorganisation der Gewerkschaft ÖTV gesehen werden. 1923 fusionierte der kleine Verband, der ohne Unterstützung einer leistungsstarken Organisation nicht leben konnte, mit dem "Deutschen Verkehrsbund". Alle Vorsitzende dieser typischen Frauengewerkschaft sind bis zum Jahr 1923 im vorliegenden Band dokumentiert. 1929/1930 stießen die organisierten Gärtner mit ihrer langen und stolzen Verbandstradition zu den Verkehrs- und Gemeindearbeitern. Dies machte Sinn, denn die stärkste Gruppe innerhalb dieser Gewerkschaft waren Beschäftigte auf kommunalen Friedhöfen, in botanischen Gärten und kommunalen Verwaltungen. Die Gärtner selbst hatten erst 1904 zu einer organisatorischen Einheit gefunden. Die mitgliederstärkste Gärtnergewerkschaft, der eher wirtschaftsfriedlich orientierte "Allgemeine deutsche Gärtner-Verein", wählte erst ab der Jahrhundertwende eine "wirtschaftliche Richtung" in den Vorstand. Seit dieser Zeit kann man mit gutem Gewissen von einer Gärtnergewerkschaft sprechen. Die "neutralen" oder gewerkschaftsfeindlichen Vorsitzenden wurden für die Zeit vor 1900 nicht berücksichtigt. Hingegen zeichnet der Band das Schicksal aller freigewerkschaftlichen Gärtnervorsitzenden nach, die sich seit 1890 zur Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands bekannten.

Kaum eine Interessenvertretung war so zersplittert wie die Beschäftigten der diversen Postverwaltungen. Der große Traum, 1923 einen einheitlichen Verkehrsbund (unter Einschluß des Post- und Eisenbahnpersonals) zu gründen, mußte bald ausgeträumt werden. Nur der "Zentralverband deutscher Post- und Telegraphenbediensteter" stieß als Arbeiterorganisation zur freigewerkschaftlichen Bewegung. Seine beiden Vorsitzenden erhielten deshalb einen Eintrag.

Der reichsweite Zusammenschluß der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter kam in Deutschland 1896 vergleichsweise spät. Bislang hatten sich die Beschäftigten nur lokal organisiert. Auch nach 1896 blieben die Strömungen, die eine nationale Zentralorganisation ablehnten, stark. Es lag deshalb auf der Hand, auch die "Vertrauensmänner" der lokalen Gewerkschaftsorganisationen ("Vertrauensmännerzentralisation") im biographischen Band zu berücksichtigen. Mit der Aufnahme der Biographie von Oswald Grauer wurde eine große Ausnahme gemacht: Als Vorsitzender des "Verbandes der Geschäftsdiener, Packer und Berufsgenossen" steht er für die bedeutendste Lokalorganisation vor Gründung der Zentralorganisationen der Gemeinde- und Transportarbeiter.

Nach der Novemberrevolution 1918 änderten sich die Organisationsbedingungen für die Gewerkschaften grundlegend. Beamte erhielten als Frucht der nationalen Umwälzung das Koalitionsrecht zugesprochen. Angestelltenorganisationen, die bislang mit den Arbeitern unter einem Dach ihre Interessen vertraten, näherten sich anderen - ehedem berufsständischen Gruppen - an, die sich zu "richtigen" Gewerkschaften wandelten.

Neben dem Arbeiterdachverband "Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund" (ADGB), der freilich auch "gemischte" Verbände aufnahm, entstand 1921 der "Allgemeine freie Angestelltenbund" (AfA) und der "Allgemeine deutsche Beamtenbund" (ADB). Im Rückblick kann diese Zersplitterung nur als unheilvoll angesehen werden. Weitsichtige Gewerkschaftsvorsitzende wie Oswald Schumann konnten sich mit der "Dreisäulentheorie" nie anfreunden, fanden jedoch für ihre Organisationsvorstellungen keine Mehrheit.

Die Frage, welche Angestelltengewerkschaft als klassische Vorläufergewerkschaft der ÖTV zu bezeichnen ist, fällt nicht leicht. Die meisten Angestelltenmitglieder aus den heutigen Organisationsbereichen der ÖTV rekrutierte der 1919 aus verschiedenen Verbänden zusammengeschlossene "Zentralverband der Angestellten". Unter den führenden Repräsentanten dieser Gewerkschaft wurde deshalb eine Auswahl getroffen. Unbestritten auch, daß der "Verband deutscher Schiffsingenieure" nach der Novemberrevolution 1918 zu den Vorläufergewerkschaften zu zählen ist. Aufgenommen wurden allerdings nur die "Weimarer Biographien" der Vorsitzenden; die berufsständische, "gewerkschaftsfeindliche" Phase des Berufsverbandes im Kaiserreich blieb unberücksichtigt.

Absolut verwirrend stellt sich die Situation bei den freigewerkschaftlichen Beamtenorganisationen vor 1933 dar. Über 20 Organisationen schlossen sich nach dem Weltkrieg unter einem Gewerkschaftsdach zusammen. Durchgängig kamen die Organisationen aus dem öffentlichen Dienst. Repräsentanten folgender Beamtengewerkschaften fanden in das Nachschlagewerk Eingang: "Reichsverband deutscher Justizwachtmeister", "Reichsgewerkschaft deutscher Kommunalbeamten", "Bund sächsischer Staatsbeamten", "Allgemeiner preußischer Polizeibeamten-Verband", "Reichsverband der Justizbürobeamten", "Reichsverband der Steuer- und Zollbeamten Deutschlands", "Bund der Beamten und Anwärter der Reichs- und Staatsverwaltungen". Gewerkschaftliche Organisationen waren in Deutschland erst mit der Einführung rechtsstaatlicher Strukturen möglich. Deshalb finden sich im Lexikon vor allem "Weimarer" Biographien aus der Beamtenbewegung. Vor 1918 konnten die Beamtenorganisationen nur als Standesorganisationen fungieren, obgleich viele Forderungen der unteren Beamtenrepräsentanten "quasigewerkschaftlichen" Charakter trugen. Einige der alten Vorsitzenden bekannten sich auch nach der Staatsumwälzung ganz bewußt zur gewerkschaftlichen Orientierung ihrer alten Organisation und lehnten mit der Kraft ihrer Autorität den Anschluß an den Deutschen Beamtenbund ab. Auch diese Beamtenvorsitzenden wurden im Nachschlagewerk aufgenommen.

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Christliche und liberale Gewerkschaften, sonstige Organisationen

Eine ähnliche Struktur wie die freien Gewerkschaften wiesen auch die christlichen Gewerkschaften auf, die in den neunziger Jahren mit ihren starken Zentren im Rheinland, in Bayern, Oberschlesien und Teilen Süddeutschlands beachtlichen Zulauf fanden. Für die christlichen Gewerkschaften wurden deshalb identische Aufnahmegründe für das biographische Nachschlagewerk zu Grunde gelegt. Alle Vorsitzenden der christlichen Organisationen fanden Berücksichtigung, deren Gewerkschaften deutlich in der Tradition der Gewerkschaft ÖTV standen.

Zwei große Ströme galt es bei den Arbeitergewerkschaften zu berücksichtigen, die sich 1900 im "Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften" zusammenschlossen: den "Zentralverband christlicher Fabrik- und Transportarbeiter Deutschlands" (nebst Vorläuferorganisationen) und den "Zentralverband der Arbeitnehmer öffentlicher Betriebe und Verwaltungen" (nebst Vorläuferorganisationen). Unter den Vorläuferorganisationen des "Zentralverbandes" war besonders der christliche "Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege" wichtig, der 1922 mit den christlichen Gemeindearbeitern fusionierte. Aus Gleichheitsgründen fand auch der christliche "Deutsche Gärtner-Verband" Aufnahme, dessen Mitglieder sich nach dessen Auflösung zum Ende der Weimarer Republik hin größtenteils im "Zentralverband der Arbeitnehmer öffentlicher Betriebe und Verwaltungen" sammelten.

Der nach der Novemberrevolution entstandene "Gesamtverband deutscher Beamten-Gewerkschaften" gab 1926 sein gewerkschaftliches Eigenleben auf und fusionierte mit dem Deutschen Beamtenbund. Vorsitzende dieser Strömungen blieben unberücksichtigt. Gewisse "gemischte" Verbände der christlichen Organisationen machten den Zusammenschluß mit dem Deutschen Beamtenbund nicht mit und schlossen sich 1926 im "Gesamtverband deutscher Verkehrs- und Staatsbediensteten" zusammen. Dieses komplizierte gewerkschaftliche Gebilde bot in erster Linie Post- und Eisenbahnerverbänden ein Dach. Aus diesem Lager kam u.a. der spätere 2. Vorsitzende der Gewerkschaft ÖTV Karl Gröbing, der seine Karriere in der "Deutschen Postgewerkschaft" begann. Die Vorsitzenden der christlichen Post- und Eisenbahnergewerkschaften fanden im Nachschlagewerk keine Berücksichtigung, hingegen wurde der Repräsentant der christlichen "Deutschen Wasserstraßengewerkschaft" aufgenommen. Christliche Angestelltengewerkschaften mit ihren Repräsentanten blieben "außen vor", weil eine klare Zuordnung nicht zu treffen war. Natürlich gab es im "Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten" oder im "Bund angestellter Akademiker und technisch-naturwissenschaftlicher Berufe" auch Kolleginnen und Kollegen des öffentlichen Dienstes. Aber sie waren in einer Standesgewerkschaft in einer extremen Minderheit.

Die ehedem so starke, liberale Gewerkschaftsbewegung kann auf keine nennenswerte Vorläufergewerkschaft der ÖTV zurückblicken. Ansätze einer liberalen Straßenfegergewerkschaft von lokaler Bedeutung im Berliner Raum brachen vor 1914 zusammen. Durch das Aufsaugen kleinerer Berufsorganisationen im Angestelltenbereich kann vom Namen her in den zwanziger Jahren von liberalen Angestelltengewerkschaften gesprochen werden (z.B. "Verband deutscher Schiffahrtsangestellter"). Diese Splitterverbände hinterließen jedoch keine nennenswerten Spuren. Aus diesem Grund finden sich im vorliegenden Band keine Persönlichkeiten von liberalen Gewerkschaftsorganisationen, die sich seit 1920 im Dachverband "Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände" zusammengeschlossen hatten.

Vertreter von beruflichen Standesorganisationen im Bereich des öffentlichen Dienstes fanden aus prinzipiellen Gründen keinen Eingang. Völlig unberücksichtigt blieben auch kommunistische und syndikalistische Abspaltungen im Seeleute- und Hafenarbeiterbereich. Diese Splitterorganisationen stehen nicht in der organisatorischen Tradition der Gewerkschaft ÖTV.

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Gewichtungen

Wäre von jeder Vorläuferorganisation vor 1933 nur die oder der Vorsitzende berücksichtigt worden, so wäre es zu einer unübersehbaren "Schieflage" gekommen. Natürlich mußte auch im biographischen Band eine Gewerkschaft mit mehr als 100.000 Mitgliedern anders bewertet werden als eine 2000-Mann-Beamtengewerkschaft. Auch die Dominanz der Mitgliederzahlen der freien Gewerkschaften galt es abzubilden. Zusätzlich wurden deshalb für die freigewerkschaftlichen, großen Arbeitergewerkschaften "Deutscher Verkehrsbund" und "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" (nebst Vorläuferorganisationen) alle besoldeten Vorstandsmitglieder, Ausschußvorsitzende und "Chefredakteure" mit aufgenommen. Mit dieser Auswahl konnte eine stimmige Verteilung von Bedeutung und Verbandsvielfalt erreicht werden. Redakteure hatten in den Gewerkschaften vor 1933 eine zentrale Bedeutung. Ihr Einfluß wird heute in der Rückschau meist unterschätzt. Sie galten als die "Intellektuellen in der Arbeiterbewegung", saßen meist mit Stimmrecht im Vorstand, gaben zentrale, organisatorische Impulse und fühlten sich in der Regel der Bildungsarbeit verbunden. Sie steuerten die Meinungsbildung im Verband an entscheidender Stelle mit. Persönlichkeiten wie Emil Dittmer, Carl Lindow oder Hans Dreher belegen diese These nachhaltig.

Die Gewerkschaftsausschüsse spielten vor allem vor 1914 eine zentrale Rolle. Ausschußvorsitzende hatten Macht und Einfluß. Ausschüsse fungierten als Kontrollorgan des Vorstandes,; sie hatten in der Regel fünf Mitglieder. Der Sitz des Ausschusses durfte mit dem des Verbandsvorstandes nicht identisch sein. Der Sitz des Kontrollorgans wurde von der Generalversammlung jeweils neu bestimmt. Neben der Aufgabe, die Amtsführung des Vorstandes zu überwachen, hatte der Ausschuß Beschwerden gegen die Verbandsleitung entgegenzunehmen und die Kasse in regelmäßigem Abstand zu kontrollieren. Bei vielen Verbänden galt der Ausschuß als höchste Instanz zwischen den Verbandstagen. Mitglieder durften in der Regel kein anderes Amt in der Organisation bekleiden. [ Klaus Schönhoven: Expansion und Konzentration (a.a.O.), S. 241] Die Ausschußvorsitzenden stehen deshalb im vorliegenden Lexikon für das ehrenamtliche Element in der Gewerkschaftsbewegung. Ihre kollektive Biographie steht stellvertretend für die unübersehbare Zahl derer, die ohne Entlohnung das Beste für ihre Organisation gaben.

Bei den übrigen Gewerkschaften, die zeitweise über 20.000 Mitglieder musterten, fanden neben den Vorsitzenden weitere Mitglieder im biographischen Nachschlagewerk Berücksichtigung. Diese Erweiterung bei der Auswahl gilt für die beiden christlichen Arbeiterverbände und den "Zentralverband der Hausangestellten".

Schaut man genau auf die Auswahl der Persönlichkeiten vor 1933, so läßt sich nicht verleugnen, daß viele wichtige Persönlichkeiten fehlen. Selbstverständlich war jeder Bezirksleiter des "Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter" "mächtiger" und "wichtiger" als ein Vorsitzender einer kleinen Beamtengewerkschaft. Die Ungleichgewichtung galt es jedoch zu akzeptieren. Die Lebensschicksale vieler gewählter Repräsentanten stehen stellvertretend für den Weg unterschiedlicher Einzel- und Berufsgewerkschaften hin zur Einheitsgewerkschaft nach 1945. Der breite Strom der großen Arbeiterorganisationen, das Einmünden berufständischer Gruppen in die Angestellten- und Beamtenorganisationen und der Zusammenfluß nach 1945 kann vielleicht am besten durch das individuelle Schicksal mit all seinen Verästelungen dokumentiert werden. Es ist kein Zufall, daß von so unterschiedlichen Menschen, aus so unterschiedlichen Elternhäusern, mit so unterschiedlichen Erfahrungen die Idee der Einheitsgewerkschaft nach Krieg und Faschismus als das schutzwürdigste Gut des demokratischen Neubeginns angesehen und verteidigt wurde.

Einige kleinere Verbände, die in der Planung ursprünglich vorgesehen waren, konnten mit ihren Vorsitzenden nicht aufgenommen werden, weil die Quellensituation ausgesprochen schlecht war. Dies gilt für zwei vom "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" aufgesogene Verbände. Der "Verband der Bademeister und Bademeisterinnen Deutschlands" stieß 1909 zu den organisierten Gemeindearbeitern. Bislang hatte er eine eigene Zeitschrift - die "Badereform" - herausgegeben. Diese Zeitschrift ist verschollen. Damit ist die einzige Quelle für biographische Recherchen verloren. Die 1919 gegründete freigewerkschaftliche "Filmgewerkschaft" fand gegen den Widerstand mancher gestandener Gewerkschafter rasch Anschluß an den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund. Ihre Zeitung "Filmgewerkschaft" hat sich nur in Einzelnummern im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv erhalten. Von daher war es unmöglich, Namen und Daten ihrer Repräsentanten zu erfahren. In der Schlußphase der Weimarer Republik schloß sich die "Filmgewerkschaft" nach schweren Mitgliederverlusten 1930 dem "Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs" an. Schlecht stellte sich auch die Quellensituation beim "Verband deutscher Kapitäne und Steuerleute der Handelsschiffahrt und Hochseefischerei" dar. Diese Angestelltengewerkschaft unter dem Dach des "Allgemeinen freien Angestelltenbundes" gab als Verbandsblatt den "Nautiker" heraus. Diese Zeitschrift fehlt in deutschen Bibliotheken und Archiven. Der Vorsitzende (oder Geschäftsführer?) Wilhelm Uhlenbruck hielt nach 1933 den Nazis mutig stand, sein gewerkschaftlicher Lebensweg bleibt jedoch im Dunkeln.

Ohne Spuren in der Geschichte blieben auch die ersten drei Vorsitzenden des 1903 gegründeten christlichen "Verbandes für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege". Erst mit dem zweiundzwanzigjährigen Georg Streiter trat 1907 ein Mann an die Spitze dieser Organisation, der Gewerkschaftsgeschichte schrieb, und als Vertreter der Deutschen Volkspartei kurzfristig im Reichstag saß.

Nicht einfach war die Entscheidung beim "Zentralverband der Angestellten" (ZdA). Die Gewerkschaft ÖTV als größte Angestelltengewerkschaft in der Bundesrepublik Deutschland kann sich zu Recht auf die große Tradition dieser kämpferischen Angestelltengewerkschaft berufen, die innerhalb des Gewerkschaftsspektrums "links" stand. Viele Repräsentanten der ÖTV darunter das Vorstandsmitglied Alexander Langhans - kamen aus der Schule des ZdA. Nur: Der "Zentralverband" rekrutierte als Berufsgewerkschaft Angestellte aller Sparten. Berücksichtigung fanden im Biographienband alle Vorsitzenden und Redakteure des "Zentralverbandes" und seiner wichtigsten Vorläuferorganisation "Zentralverband der Handlungsgehilfen und -Gehilfinnen Deutschlands". Ferner wurden die Vorstandsmitglieder berücksichtigt, die für das "Behördenpersonal" Verantwortung trugen. Von den übrigen Vorläufergewerkschaften des ZdA fanden der "Zentralverein der Büroangestellten" und der "Verband der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen und Berufsgenossen Deutschlands" mit ihren Vorsitzenden Berücksichtigung. Diese kleinen Gewerkschaften "bereicherten" das biographische Lexikon mit prominenten Persönlichkeiten; darunter befindet sich beispielsweise der ehemalige Reichskanzler Gustav Bauer. Sicher: Nach 1949 verwahrten viele ÖTV-Mitglieder ein Mitgliedsbuch des "Deutschen Werkmeister-Verbandes" oder des "Bundes der technischen Angestellten und Beamten". Die klassischen Angehörigen des öffentlichen Dienstes waren in diesen Gewerkschaften unterrepräsentiert. Keiner ihrer Repräsentanten wurde daher aufgenommen. Vom großen "Gesamtverband der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes und des Personen- und Warenverkehrs" wurde die Existenz dieser kleinen Gewerkschaften bestenfalls geduldet; Reibungen mit den kleineren Verbänden gehörten auf den Gewerkschaftstagen schon fast zur Tagesordnung. Die Schwäche der deutschen Gewerkschaften vor 1933 zeigte sich nicht zuletzt in der Zersplitterung ihrer Organisationen und den Energien, die Gewerkschaftsvorsitzende gegeneinander richteten.

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Nachkriegszeit

Zu den "Lehren der Geschichte" gehörte für die Gewerkschafter der unmittelbaren Nachkriegszeit die Überzeugung, nur der nationale Zusammenschluß aller Arbeiter, Angestellte und Beamten aller politischen Überzeugungen in einer Einheitsgewerkschaft, garantiere die demokratische Stabilität und den angemessenen Schutz aller Arbeitnehmer. Der gewerkschaftliche Konzentrationsprozeß wurde von den westlichen Alliierten eher geduldet, denn tatkräftig gefördert. Knapp vier Jahre mußten die Gewerkschaftsrepräsentanten warten, ehe ihre gewerkschaftliche Vision in Erfüllung ging. Bis dahin spielte sich das Gewerkschaftsleben lokal und regional ab. Dies hatte auch Konsequenzen für die Auswahl der Persönlichkeiten im vorliegenden Biographienband: Alle Landesvorsitzenden und Bezirksvorsitzenden der Vorläufergewerkschaften der ÖTV fanden Berücksichtigung.

Für die Zeit von 1949 bis 1964 werden alle Mitglieder des geschäftsführenden Hauptvorstandes mit ihren Lebensläufen vorgestellt. Dazu kommen noch die jeweiligen verantwortlichen Redakteure, die nicht dem geschäftsführenden Hauptvorstand angehörten. Als "Aufnahmekriterium" galt als Stichtag die Wahl auf dem Dortmunder Gewerkschaftstag 1964. Alle in Dortmund Gewählten fanden im Biographienband Berücksichtigung. 1964 kann als Zäsur in der Gewerkschaftsgeschichte der ÖTV gelten. Mit dem Rücktritt Adolph Kummernuss' ging die Nachkriegsära der Gewerkschaft zu Ende, die Gewerkschaft hatte sich als fester Faktor in der Bundesrepublik etabliert. Die erste Vorstandsgeneration trat 1968 endgültig zurück. Neue Vorstandsmitglieder mußten völlig neue Aufgaben lösen. Die Republik war volljährig geworden. Spätestens mit den Tarifauseinandersetzungen der späten sechziger Jahre wurde auch in der Geschichte der Gewerkschaft ÖTV ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Was für die Vorläufergewerkschaften der ÖTV gilt, hat auch für die Zeit nach 1949 Gültigkeit. Jeder einzelne Bezirksvorsitzende der Gewerkschaft ÖTV war im "überhistorischen" Sinne "wichtiger" als jeder Vorsitzende einer kleinen Gewerkschaft vor 1933. Mancher ÖTV-Bezirksvorsitzende war "mächtiger" als manch gewähltes Mitglied des geschäftsführenden Hauptvorstandes. Aber auch in solchen Fällen galt: die Standardisierbarkeit, die Gleichheit und Überprüfbarkeit der Kriterien ließen Ausnahmen vom gewählten Schema nicht zu. Die Auswahlkriterien stellen somit einen Kompromiß dar. Tradition und Geschichte der ÖTV und ihrer Vorläufergewerkschaften halten die Balance zu "Bedeutung" und "Wichtigkeit".

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Wie sind die Lebensläufe aufgebaut?

Jeder einzelner Lebenslauf wurde individuell gestaltet. Jede einzelne Biographie sollte aus sich heraus verständlich sein, ohne große Spezialkenntnisse der Gewerkschaftsbewegung. Von daher werden viele Fakten in den Lebensläufen wiederholt, die auch im Geschichtsband vorkommen.

Die veränderten Bedingungen gesellschaftlichen Handelns vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik der achtziger Jahre schlagen sich in den Lebensläufen der einzelnen, gewählten Vorstandsmitglieder nieder. Wie in einem Brennglas läßt sich an Hand einzelner Lebensläufe die Veränderung der Sozialstruktur der Gesellschaft, der sozialen Grundlagen und Bedingungen gesellschaftlichen Handelns, der Mentalität und der geänderten Bildungschancen der deutschen Gesellschaft verfolgen. Die unterschiedlichen Schicksale der Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen stehen für eine sich verändernde Welt.

Trotz des Anspruchs, individuelle Lebensläufe zu verzeichnen, sollten die Biographien "vergleichbar" bleiben, um allgemeine Rückschlüsse ziehen zu können. Bei aller Individualisierung wurde versucht, standardisierte Größen in die Lebensläufe einfließen zu lassen, die es ermöglichen sollten, die gefundenen Ergebnisse zu werten. [ Ich folge hier Wilhelm Heinz Schröder: Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten (a.a.O.), S. 41.] Folgende Informationen wurden angestrebt:

- Informationen zum Personenstand:
Geburts- und Sterbedaten, Beruf des Vaters, Religionsbekenntnis, Familienstand;

- Informationen zur Sozialisation:
Schul-, Hochschul-, Berufsausbildung, Militärdienst, regionale Mobilität, Eintritt in die Gewerkschaftsbewegung, Eintritt in die politische Bewegung, Dauer der unselbständigen und privaten Berufstätigkeit;

- Informationen zur hauptamtlichen Berufskarriere:
alle hauptamtlichen Berufspositionen bzw. Positionen, die als Haupterwerb dienen;

- Informationen zu öffentlichen Ämtern:
alle wichtigen ehren- und nebenamtlichen Funktionen - soweit sie nicht schon bei den hauptamtlichen Tätigkeiten eingehen;

- Informationen zu parlamentarischen Mandaten und Ämtern:
alle Mandate einschließlich Informationen zum jeweiligen Wahlkreis; alle wichtigen ehren- und nebenamtlichen Ämter - soweit sie nicht schon bei den hauptamtlichen Tätigkeiten und bei den anderen ehrenamtlichen Funktionen mit eingehen.

Diese Fülle der Daten zu erschließen macht ungewöhnlich viel Mühe und Arbeit. Hinter einem einzigen Todesdatum verbergen sich oft jahrelange Briefwechsel. Hinter jeder Lücke steht ein gleich großer Suchaufwand, der für einen Außenstehenden nicht sichtbar ist. Dieser Aufwand wird in der Regel von niemanden honoriert. Kein Hochschulangehöriger kann sich in seiner Einrichtung damit brüsten, bislang unbekannte Lebensdaten von scheinbar unwichtigen Gewerkschaftern herausgefunden zu haben. Seine beruflichen Chancen vermehren sich nach solcher Arbeit nicht. Auch die beste Gewerkschaftsforschung hat die aufwendige Mühe biographischer Nachforschungen oft gescheut. So finden sich zwar im Bd. 3 der "Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert". Köln 1980, der die Weimarer Republik behandelt, im biographischen Anhang die Namen des ehemaligen Hafenarbeitervorsitzenden Johann Döring, des Vorsitzenden der Berufsfeuerwehrmänner Erich Grollmus, des Eisenbahnvorsitzenden Hermann Jochade, des Friseurvorsitzenden Karl Lorenz, des Mitvorsitzenden des Gesamtverbandes Fritz Müntner und des Feuerwehrvorsitzenden Hans Weilmaier. Durchgängig fehlen jedoch bei den genannten Persönlichkeiten die Geburts- oder Sterbedaten. Um es noch einmal zu sagen: Es bleibt der Gewerkschaftsgeschichtsschreibung selbst vorbehalten, ihre Repräsentanten angemessen zu würdigen.

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Was sagen die Gewerkschaftsbiographien im Längsschnitt aus?

Läßt man die unterschiedlichen Lebensläufe Revue passieren, fallen ganz spezielle Merkmale ins Auge, die wichtig sind und die es gilt festzuhalten. Die Auswertung kann nur knapp und kusorisch bleiben. Sie soll zur weiteren Bearbeitung des Themas anregen. Aufstrebende soziale Bewegungen zeichnen sich in der Regel durch ihr junges Alter aus. Mit dem Aufstieg sozialer Bewegungen, nach erfolgreichem Streit und Kampf, nach ihrer Anerkennung durch langes Ringen, nach Rückschlägen und Erfolgen "etablieren" sich die Aktiven. Dies ist kein Werturteil.

Die "Durchleuchtung" der Altersstrukturen sozialer Bewegungen eignet sich als ein hervorragendes Instrument, um Reife und Entwicklung festzustellen. Wie sieht es damit bei den Vorläufergewerkschaften der ÖTV aus? Über die Gründergeneration der Gewerkschaftsführer hat der Gewerkschaftshistoriker Ulrich Borsdorf bereits einige allgemeine, interessante Aussagen gemacht. Die "Männer der ersten Stunde" waren ausgesprochen jung. [ Ulrich Borsdorf: "Deutsche Gewerkschaftsführer..." (a.a.O.), S. 22.] Sie absolvierten einen schnellen Aufstieg in zentrale Positionen und blieben dort bis zum Ende der Weimarer Republik. Die "Gründergeneration" - so hat es Ulrich Borsdorf herausgefunden - wurde zwischen 1860 und 1870 geboren.

Stimmen die Aussagen auch für unsere Gewerkschafter? Für die Gründungsrepräsentanten des "Zentralverbandes der Handels-, Transport- und Verkehrsarbeiter Deutschlands" (gegründet 1896) stimmen sie mit einer Ausnahme. Der 1865 geborene Oswald Schumann übernimmt 1896 auf dem Gründungskongreß als Zweiunddreißigjähriger die Führung des Verbandes und gibt sie erst 1932 wieder ab. Die zweite wichtige Führungspersönlichkeit ist sogar noch jünger. Der Redakteur Hans Dreher hat gerade seinen 30. Geburtstag absolviert, als der Verbandstag ihn zum neuen Redakteur des Verbandsblattes bestimmt. Als junger Endzwanziger hat er die theoretischen Grundlagen für die gewerkschaftliche Zentralisation der Handels- und Transportarbeiter gelegt. Von dem Berliner Aktivisten Johannes Hoffmann können wir mit gutem Grund nur vermuten, daß er zumindestens Oswald Schumann im Alter nicht übertraf. In jeder Hinsicht als eine Ausnahmepersönlichkeit für die vielen Vorläufergewerkschaften der ÖTV vor dem I. Weltkrieg muß der 1847 in Berlin geborene Carl Kaßler angesehen werden, der sich in den sechziger Jahren als gelernter Tischler in der Hauptstadt seine ersten gewerkschaftlichen Sporen verdiente. Die Gründer entstammten bereits einem proletarischen Milieu; ihre Väter verdienten sich bereits als Handarbeiter ihren Lebensunterhalt. Das Weltbild der jungen Handelshilfs- und Transportarbeiter wurde in der Regel nicht durch eine scheinbare agrarische Idylle geprägt, das eher eine wirtschaftsfriedliche Stimmung wachsen ließ. Der Vater Schumanns arbeitete als Müller; in den Berliner Taufbüchern ist der Beruf des Vaters von Carl Kaßler lapidar als Arbeiter vermerkt.

Ihre "politische Erziehung" hatten die Gewerkschaftsgründer noch bewußt unter den Bedingungen des Sozialistengesetzes "genossen". Arbeiterunterdrückung war für sie stets ein Thema. Als hauptamtliche Funktionäre prägten sie diese frühen Erfahrungen nachdrücklich. Typisch für die Funktionsträger der ersten Stunde war ihre Herkunft aus kleinstädtischem oder dörflichem Milieu. [ Klaus Schönhoven: Expansion und Konzentration (a.a.O.), S. 237.] Typisch für deutsche Gewerkschaftsführer war auch die Berufswahl der Gründer des "Zentralverbandes": Dreher war gelernter Former, Kaßler gelernter Tischler. Metall- und holzverarbeitende Berufe mit ihren starken handwerklichen Traditionen zählten zu den Säulen der frühen deutschen Gewerkschaftsbewegung. Eher atypisch wirkt das Schicksal Oswald Schumanns, der keinen Beruf erlernt hatte und als junger Mann seinen Lebensunterhalt ohne Gesellenbrief verdiente.

Für die allererste "Führungscrew" der Gemeindearbeiter stellt sich die Alterssituation ähnlich wie die des "Zentralverbandes" dar: ihre Gründer sind relativ jung. Der vierundzwanzigjährige Bruno Poersch stellte sich 1896 an die Spitze der Berliner Gasarbeiter und wird als Führungspersönlichkeit bestätigt. Robert Fiebig ist 35 Jahre alt, als ihm der "Verband der in Gemeindebetrieben beschäftigten Arbeiter und Unterangestellten" die ehrenamtliche Leitung anvertraut. Gustav Aßmann - nach Bruno Poersch der nächste hauptamtlich beschäftigte Gewerkschaftsfunktionär - gehört ebenfalls der "Gründergeneration" an (geboren 1864). Er tritt 1902 mit 38 Jahren hauptamtlich in die Gemeindearbeiterbewegung ein. Faßt man andere Merkmale ins Auge, entdeckt man bei den frühen, organisierten Gemeindearbeitern eher Untypisches. Das Leitungspersonal kommt aus Branchen, deren handwerklicher Charakter durch die Konzentration des Kapitals extrem bedroht ist. Für Schuhmacher, Tapezierer und Sattler bieten die expandierenden, großstädtischen Gemeindebetriebe neuen Lebensunterhalt. Die gewerkschaftliche Führung spiegelt diesen Trend. Aßmann und Poersch sind gelernte Sattler, der gelernte Beruf Fiebigs bleibt im Dunkeln. Auffällig ist die "Ostdominanz" der Leitungsgruppe; als klassische Zuwanderergruppe aus den östlichen, deutschen Landesteilen wählten sich die Gas- und Elektrizitätsarbeiter zumindest geographisch ihre entsprechenden Repräsentanten. Fiebig - der typische, städtische Berliner Gemeindearbeiter schlechthin - stammt aus Schlesien, Aßmann kommt aus der Nähe von Stettin, Poersch aus Ostpreußen.

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Wandel nach 15 Jahren?

1912 hatte sich im "Deutschen Transportarbeiter-Verband" viel getan. Zwei Jahre zuvor stießen die organisierten Hafenarbeiter und Seeleute zur Organisation; die Bewegung hatte sich enorm in die Breite und Tiefe ausgedehnt. Mit 225.000 Mitgliedern war die größte Hilfsarbeitergewerkschaft der Welt dabei, die Rechte einer bislang vernachlässigten Gruppe nachhaltig und nachdrücklich anzumelden. Ergab sich aus dem Wachstum eine Veränderung der sozialen Struktur der Führungsgruppe? Zählt man die hauptamtlichen Vorstandsmitglieder Oswald Schumann, Johann Döring, Carl Kaßler, Friedrich Himpel, Max Pause, Paul Müller, die beiden Leiter der Reichssektionen (Eisenbahner: Louis Brunner, Straßenbahner: Hermann Rathmann), den Redakteur Hans Dreher und den Verbandsausschußvorsitzenden August Lüdecke zusammen, ergibt sich ein gutes Bild der "Führungsstruktur" des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes". Acht der zehn Gewerkschaftsfunktionäre gehörten der Gründergeneration der zwischen 1860 und 1870 Geborenen an. Vierfünftel der Führungsgruppe zählte zwischen 41 und 48 Jahren. Nur Kaßler drückte den Altersdurchschnitt nach oben. Mit dem ehemaligen Seemannsvorsitzenden Paul Müller meldete sich die nächste "Führungsgeneration" zu Wort, die zwischen 1875 und 1890 das Licht der Welt erblickte. Das Durchschnittsalter der Führungsgruppe lag bei 47,2 Jahren. Das Lebensalter der Vorstandsmitglieder war mit der Bewegung "mitgewachsen". Eine ehedem junge Gewerkschaftsbewegung mit durchschnittlich sehr jungen Mitgliedern war in die "besten Lebensjahre" gekommen. Auffällig ist die Herkunft aus den mitteldeutschen und norddeutschen Regionen. Nur Louis Brunner und Hans Dreher entstammten Orten südlich der Mainlinie. Brunner gab seinen Beruf als Elfenbeinschnitzer frühzeitig auf und ließ sich bereits als Zweiundzwanzigjähriger in Hamburg nieder. Dreher, in Österreich geboren, kam mit 25 Jahren nach Berlin. Bis auf den Ausschußvorsitzenden August Lüdecke, der als Ehrenamtlicher in Magdeburg wohnte, setzte sich die Leitungsgruppe aus Persönlichkeiten zusammen, die als junge Menschen entweder nach Berlin oder nach Hamburg gekommen waren, um "ihr Glück" zu machen. Die Dominanz der beiden Handels- und Transportmetropolen des deutschen Reiches spiegelte sich klar in der Zusammensetzung der Führungsmannschaft wider. Von allen untersuchten Persönlichkeiten kam nur Oswald Schumann aus Ostdeutschland. Westdeutsche fehlten völlig.

Von 6 untersuchten Gewerkschaftern ist der Vaterberuf bekannt. Paul Müller war unehelicher Herkunft, seine Mutter arbeitete als Dienstmagd. Alle Väter arbeiteten als vorindustrielle Handarbeiter. 50 % der Väter arbeiteten als Müller mit überlangen Arbeitszeiten, frühen gesundheitlichen Schäden, ohne Perspektiven auf eine dauerhafte Verbesserung der Lebenssituation. Interpretiert man die wenigen Zeugnisse richtig, vermittelte das proletarische und vorproletarische Milieu der Väter den "Gewerkschaftern der ersten Stunde", den Wert gradueller Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen.

Von 9 untersuchten Gewerkschaftsfunktionären ist die Konfession bekannt. Bis auf den Österreicher Hans Dreher waren alle protestantisch getauft. Von 6 Persönlichkeiten ist bekannt, daß sie später aus der Kirche austraten. Vier Gewerkschafter hatten ein Handwerk gelernt; 6 Gewerkschafter waren ungelernt oder arbeiteten bevor sie hauptamtlich angestellt wurden als angelernte Arbeiter. Die unsichere Quellenlage läßt allerdings nicht in jedem Fall ein sicheres Urteil zu. Der ehemalige Hafenarbeitervorsitzende Johann Döring verdingte sich sofort nach der Schulentlassung als Hafenarbeiter, Friedrich Himpel mußte als ungelernter Hausknecht zum Lebensunterhalt der kinderreichen Familie beitragen, August Lüdecke war ungelernter Handelshilfsarbeiter, Paul Müller fuhr direkt nach der Schule zur See, Hermann Rathmann und Oswald Schumann arbeiteten unmittelbar nach der Volksschule als ungelernte Fabrikarbeiter. Somit hatte die Führungsgruppe des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" kurz vor dem Weltkrieg ein Gesicht erhalten, das sie von fast allen Gewerkschaften unter dem Dach der Generalkommission der Gewerkschaften deutlich unterschied. Die größte Hilfsarbeiterbewegung des Deutschen Reiches hatte in freier Wahlentscheidung die Männer an die Spitze gesetzt, die ihren beruflichen Alltag kannten und "Bescheid wußten". Der gelernte Weber Max Pause, der gelernte Elfenbeinschnitzer Louis Brunner und der gelernte Tischler Carl Kaßler ragten mit ihren vorindustriell-handwerklichen Berufen eher wie Zeugen einer untergegangenen Welt in die moderne Transport- und Verkehrsarbeiterbewegung hinein.

Der "Deutsche Transportarbeiter-Verband" stellte sich somit als eine Bewegung dar mit starkem Standbein im protestantischen Milieu Nord- und Mitteldeutschlands, mit den Zentren Berlin und Hamburg dar, Armut und Rückständigkeit des Elternhauses hatten die Gewerkschaftsrepräsentanten aus den Klein- und Mittelstädten in die Großstädte getrieben. Ohne Chance auf individuellen Aufstieg innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gelang es ihnen, in der "Lebensschule" Gewerkschaft - trotz formal schlechter Berufsbildung - eine herausragende Position einzunehmen. Der Verband war ein Kind der "modernen", kapitalistischen Entwicklung. Der industrielle Kapitalismus zog entwurzelte Menschen in den expandierenden Produktionsprozeß hinein. Die Gewerkschaft bot den Menschen Stütze und Halt.

Das Vertrauen der Mitglieder des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes" in seine Repräsentanten war erstaunlich stabil. Ein beträchtlicher Vertrauensvorschuß für die Leitenden wurde auf den Verbandstagen stets neu bestätigt. Ein scheinbar übermächtiger Gegner auf der Kapitalseite, der seit der Jahrhundertwende auch noch gut organisiert war, wartete nur auf Dissonanzen im Gewerkschaftslager. Das spürten auch die Mitglieder. Es gab auf den Gewerkschaftstagen praktisch keine Abwahl. "Innerhalb einer Welt von Feinden" [ Adolf Braun: Die Gewerkschaften ihre Entwicklung und Kämpfe. Eine Sammlung von Abhandlungen. Nürnberg 1914, S. 83.] vertrauten die Delegierten den Arbeitern, die ihre Arbeitsbedingungen kannten, stets aufs Neue die Führung an. Die Auswahl der Leitungsgremien der Gewerkschaft, ihre Herkunft und ihr Denken entsprach der "Modernität" der gesellschaftlichen Entwicklung.

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Gemeindearbeiter

Als der 7. Verbandstag des "Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter" vom 24. bis 30. Mai 1914 den achtunddreißigjährigen Richard Heckmann zum neuen Verbandsvorsitzenden wählte, hatte der Gemeindearbeiterverband in der Zwischenzeit drei Vorsitzende "verbraucht". Dies war in den deutschen Gewerkschaften höchst ungewöhnlich. Die starken Bindungen an den kommunalen Arbeitgeber, scheinbare Privilegien der Beschäftigten in den Betrieben hatten im Verband zu anderen Aktionsformen als in den übrigen Gewerkschaftsorganisationen geführt. Vielen Forderungen der organisierten Gemeindearbeiter nach einer anderen Daseinsfürsorge standen die organisierten Maurer, Metallarbeiter, Holzarbeiter, Sattler und Drechsler völlig verständnislos gegenüber. Dieses "anders sein als andere" hatte zu vielen personellen Konflikten geführt. Der schwierige Selbstfindungsprozeß zu einem personell, finanziell und intern gefestigten Verband war mit dem Verbandstag 1914 jedoch endgültig abgeschlossen. Die Gemeindearbeitergewerkschaft musterte stolze 54.000 Mitglieder. Durchleuchtet man die Biographien der auf dem Vorkriegsverbandstag gewählten Vorstandsmitglieder Richard Heckmann, Emil Wutzky, Richard Maroke und Gustav Aßmann und zählt noch den gewählten Redakteur Emil Dittmer hinzu, kommt man zu einem aufschlußreichen Ergebnis.

Mit 42,8 Jahren lag der Altersdurchschnitt deutlich unter den leitenden Männern des "Deutschen Transportarbeiter-Verbandes". Der chronische Funktionärsmangel unter den organisierten Gemeindearbeitern hatte dazu geführt, daß jungen Leuten mit der Bereitschaft, echte Verantwortung zu übernehmen "die Tore offenstanden". Mit Heckmann und Maroke stellte der Verbandstag 1914 bereits zwei Männer der "2. Generation" (geboren zwischen 1875 und 1890) an die Spitze, die die Aufhebung des Sozialistengesetzes kaum bewußt erlebt haben dürften, und zu einer Zeit in die Gewerkschaft eintraten, als die Organisation bereits stark expandierte. [ Ulrich Borsdorf: "Deutsche Gewerkschaftsführer..." (a.a.O.), S. 28.]

Gewerkschaftliches Engagement und ein gewisser Grundrechtskatalog für gewerkschaftliche Freiheiten zählte für Männer wie Heckmann und Maroke zu den Selbstverständlichkeiten ihres Lebens. Auffällig bei den Gemeindearbeitern, daß drei der fünf Spitzenfunktionäre (Dittmer, Wutzky, Aßmann) nie in einem Beruf gearbeitet hatten, für deren Interessen sie stritten. Bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein war es dem "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" nicht möglich, ausreichend geschulte Spitzenfunktionäre aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Ähnliche Karrieremuster finden wir noch für die zwanziger Jahre bei Josef Orlopp und Hans Böhm, die als engagierte Funktionäre - ohne Berufserfahrung im engeren Sinne - vom "Deutschen Metallarbeiter-Verband" hin zum "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" wechselten. Typisch für den Verband, daß er vor dem I. Weltkrieg bei der Auswahl seiner Spitzenfunktionäre nicht auf Berlin zentriert blieb. Mit Richard Heckmann stand ein Süddeutscher an der Spitze, der bei aller Distanz zur Mannheimer Gemeindeverwaltung, als ein "proletarisches Kind" des süddeutschen Liberalismus einzuschätzen war. Ein Liberalismus, der in den Städten Organisationsbemühungen der Gemeindearbeiter nicht sofort im Keim erstickte, sondern ihnen einen gewissen Raum bot. Mit Richard Maroke stand ein zweiter Mann an der Spitze, der seine gewerkschaftliche "Ochsentour" nicht über Berlin machte, sondern sich in Chemnitz und Frankfurt am Main einen guten Ruf erworben hatte. Auffällig ist weiterhin, daß aus dem rheinisch-katholischen Milieu keiner der Funktionäre stammte. Alle Funktionäre - soweit dies zu ermitteln war - hatten die Kirche verlassen. Nur Heckmann war katholisch getauft. Drei von fünf Funktionären stammten aus dem Osten. Soweit zu ermitteln, entstammten die Väter aus proletarisch-kleinbürgerlichem Milieu. Wutzkys Vater hatte als Kellner gearbeitet, Richard Marokes Vater arbeitete als Aufschläger und gab seinem Sohn eine qualifizierte Ausbildung als Schmied mit, Heckmanns Vater verdingte sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Bis auf den Vorsitzenden Heckmann hatten alle Funktionäre einen Gesellenbrief erworben.

Welche Rückschlüsse kann man aus dem gezeichneten, buntscheckigen Bild ziehen? Die Gemeindearbeiterbewegung war vor dem ersten Weltkrieg eine relativ junge Bewegung. Das Alter der Führungsgruppe lag noch unter dem Alter der meisten anderen, deutschen Gewerkschaften. Als Bewegung mit sicheren Standbeinen in allen deutschen Großstädten verkörperte die Gewerkschaft den Verstädterungsprozeß, signalisierte sie das Anschwellen eines "tertiären Sektors" im Deutschen Reich und stand für die Wanderung vom Land in die Stadt. In diesem Sinne war der "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter " eine moderne Gewerkschaft, die im "Zukunftstrend" lag. Unübersehbar war der "östliche Anteil" unter den Mitgliedern und Funktionären, die im protestantischen und atheistischen Milieu beheimatet waren. Vom Aussterben bedrohte Berufe waren überproportional vertreten, ihnen bot der öffentliche Dienst eine Überlebenschance. Hilfsarbeiter spielten eine wichtige Rolle, auch wenn sie nicht dominierten.

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Angestellte

Wie stellt sich nun die Situation bei den Angestellten im deutschen Kaiserreich dar, deren gewerkschaftlicher Strom nur schmal floß? Als Angestellte sollen die Repräsentanten des alten "Zentralverbandes der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen Deutschlands" gefaßt werden sowie die Vertreter der Gewerkschaften, die sich später im "Zentralverband der Angestellten" vereinigten. Auch die beiden ersten "Gewerkschaftsgründer" des "Zentralverbandes" waren ausgesprochen jung, allerdings kamen sie aus großstädtischen Milieu. In diesem Punkt unterschieden sich die Angestelltenfunktionäre deutlich von den bereits untersuchten Arbeiterfunktionären. Gustav Segnitz, der erste Vorsitzende des Zentralverbandes, übernahm 1897 als Zweiunddreißigjähriger die Leitung des Verbandes. Seit seinem 8. Lebensjahr hatte er in Hamburg gewohnt. Max Josephson hatte gerade sein dreiunddreißigstes Lebensjahr begonnen, als ihm die Delegierten 1901 die Leitung des freigewerkschaftlichen Angestelltenverbandes anvertrauten. Der junge, jüdische Handlungsgehilfe hatte lange in Berlin gelebt und war mit zweiundzwanzig Jahren nach Hamburg verzogen. Er gab die Leitung 1912 ab.

Nimmt man 1912 als Stichjahr, wo eine neue Führung des "Zentralverbandes" (mit Berlin als neuem Verbandssitz) das Ruder übernahm, so lassen sich einige aufschlußreiche Bemerkungen über die Sozialstruktur der Leitung der organisierten Angestelltenbewegung machen. Als Basis der Aussage dienen die Lebensläufe des neuen Vorsitzenden des "Zentralverbandes" Otto Urban, des leitenden Redakteurs des "Zentralverbandes" Paul Lange, des Ausschußmitgliedes des "Zentralverbandes" Georg Ucko, des Vorsitzenden des Krankenkassenpersonals Karl Giebel, des Vorsitzenden des "Zentralvereins der Büroangestellten" Gustav Bauer und dessen Ausschußvorsitzenden Otto Haußherr. War die Angestelltenbewegung organisatorisch noch wenig entwickelt, so deutete sich doch nach der Jahrhundertwende ein gesellschaftlicher Wandel an: 1902 sah Berlin den ersten Angestelltenstreik in Deutschland überhaupt, der von jungen Aktivisten getragen wurde. Eine scheinbar unorganisierbare Gruppe von Arbeitnehmern klopfte an "das Tor der Geschichte". 1912 betrug das Durchschnittsalter der untersuchten Angestelltenfunktionäre 34,5 Jahre. Es lag damit deutlich unter dem der bislang untersuchten Repräsentanten der Arbeitergewerkschaften und wirft ein bezeichnendes Licht auf den jungen Entwicklungsstand der Angestelltenbewegung. Alle Gewerkschaftsführer der Angestellten sind "Kinder der Großstadt". Die Entscheidung, in eine der Großstädte des Deutschen Reiches zu ziehen, werden nicht aus eigener Entscheidung gefällt, sondern wurde schon im Kindesalter von den Eltern so entschieden. Ucko verzog als Kleinkind nach Berlin; beim späteren Reichskanzler Bauer fällte die Mutter eine entsprechende Entscheidung. Urban selbst wurde in Berlin geboren, Paul Lange in Leipzig. Nur von vier Vätern ließen sich Berufe ermitteln; 75 % hatten einen Handwerkerberuf gelernt. Der Vater Langes war Buchbinder, Giebels Vater arbeitete als Zimmermann, Haußherrs Vater verdiente sein Geld als Schuster. Aus der Reihe fällt der Vaterberuf Gustav Bauers: der Vater des späteren Reichskanzlers arbeitete bis zu seinem frühen Tode als Gerichtsvollzieher. Süd- und Westdeutsche fehlen in der Führungsgarnitur der Angestellten vollständig. Soweit zu ermitteln, hatten alle Funktionäre die Amtskirche verlassen, ursprünglich waren sie protestantisch getauft.

Nur der Redakteur Paul Lange hatte keinen Beruf gelernt; er begann seine Berufslaufbahn als angelernter Rechtsanwaltsgehilfe. Alle anderen Funktionäre hatten - zum Teil in renommierten Lehrstellen - eine qualifizierte Ausbildung als "Büroarbeiter" erhalten. Der Angestelltenberuf diente für die Angestelltengewerkschafter familiär als Aufstiegsberuf. Als typische Großstadtvertreter im protestantischen Milieu hatten sie sich ihrer Herkunftsklasse nicht entfremdet. Im Gegenteil: die proletarisch-kleinbürgerliche Sozialisation, verbunden mit einem gesellschaftlichen Aufstieg ließ bei den jungen Angestellten eine besonders "radikale Gesinnung" wachsen. Zählt man entsprechende politische Äußerungen zusammen, müssen die Angestelltengewerkschafter im Meinungsspektrum deutlich "links" eingestuft werden. Die kollektiven Angestelltenbiographien der Gewerkschaftsfunktionäre - kurz vor Ausbruch des Weltkrieges sicher atypisch - machen schlagartig deutlich, welches enorme Potential für die Gewerkschaften sich noch im Lager der Angestellten befand, das es erst zu "entwickeln" galt: Bessere Berufsbildung, gesellschaftlicher Aufstieg, höhere Bildungsbereitschaft in der Freizeit und engagiertes, gewerkschaftliches Verhalten schlossen sich nicht von vorneherein aus. Es lag stark in der Hand der Gewerkschaften selbst, ob sie dieses Potential nutzten oder nicht.

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Christliche Gewerkschaften

Verblüffend sind die Parallelen zwischen den freien "sozialdemokratischen" und den christlichen Gewerkschaften, wirft man einen Blick auf das Führungspersonal der untersuvhten Gewerkschaften Auch die christlichen Gewerkschaften, die seit der Jahrhundertwende erstarkten, stellen sich als junge aktivistische Gewerkschaften dar. 1912 trennte sich der "Zentralverband der Gemeindearbeiter und Straßenbahner" vom christlichen Hilfs- und Transportarbeiterverband. 1922 stieß der christliche "Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege" hinzu. Die Organisation nannte sich fortan "Zentralverband der Arbeitnehmer öffentlicher Betriebe und Verwaltungen". Nimmt man 1912 wiederum als Stichjahr, so fällt auf, daß die christlichen Gewerkschaftsleiter noch jünger waren als ihre freigewerkschaftliche Konkurrenz. Die Führungsspitze der christlichen Straßenbahner war durchgängig zwischen 1875 und 1878 geboren, entstammte aus dem katholischen, rheinisch-westfälischen Milieu und hatten als junge Handwerker den Aufstieg der christlichen Gewerkschaftsbewegung im Umfeld einer starken Zentrumspartei erlebt.

Noch interessanter ist allerdings der Blick auf das Lebensalter, als die christlichen Repräsentanten hauptamtlich von der aufstrebenden Gewerkschaftsbewegung angestellt wurden. Der Vorsitzende Peter Dedenbach war 31 Jahre, der Redakteur Heinrich Eickmann 27 Jahre und der Kassierer Fritz Krumbé 29 Jahre, als sie ihren handarbeitenden Beruf mit der Stelle eines "Gewerkschaftsbeamten" tauschten. Der ehrenamtliche 2. Straßenbahnervorsitzende Peter Heß war 27 Jahre alt, als er die wichtige Ortsgruppe der Kölner Straßenbahner mitbegründete. Sensationell niedrig das Alter des christlichen Krankenpflegers Georg Streiter, der mit 23 Jahren die Leitung des Verbandes übernahm und gleichzeitig hauptamtlich verpflichtet wurde. Alle christlichen Straßenbahner- und Gemeindearbeiterfunktionäre blieben bis 1933 im Amt. Als Mit- und Endfünfziger wurden sie von den Nazis vertrieben. Zwei der vier christlichen Straßenbahner- und Gemeindearbeiterfunktionäre waren "berufsfremd". Als gelernte Holzarbeiter kamen sie aus der klassischen, christlichen "Elitegewerkschaft". Auch hier sind die Parallelen zur freigewerkschaftlichen Konkurrenzorganisation verblüffend: Beide Verbände hatten - mangels einer gewachsenen Tradition - große Schwierigkeiten, Funktionäre aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Auffällig ist auch der starke Anteil "Ungelernter": Eickmann und Heß konnten zu ihrem Bedauern keine Berufsausbildung absolvieren, weil die erbärmlichen Lebensbedingungen im Elternhaus eine unmittelbare, finanzielle Unterstützung der Familien nötig machten. Durchgängig fällt das kleinbürgerlich-proletarische Herkunftsmilieu ins Auge. Friedrich Krumbés Vater verdingte sich als Tagelöhner. Peter Heß' Vater betrieb als Gastwirt eine kleine Kneipe im Rhein-Sieg-Kreis. Heinrich Eickmanns Vater arbeitete in Westfalen als Fuhrmann. Von Peter Dedenbachs Vater läßt sich nur vermuten, daß er aus dem Kölner Handwerkermilieu stammte.

Georg Streiter, der als preußisch-protestantischer Vertreter eine Minderheitenposition einnahm, vermerkte in seinen Lebensläufen den Beruf seines Vaters stets mit großem Stolz: Metallarbeiter in den Berliner Borsing'schen Werken. Dedenbach und Streiter (gelernter Handlungsgehilfe) waren direkt ins großstädtische Milieu eingebunden. Alle anderen - typisch der Straßenbahner Heß - zwang die Not, in die Großstadt auszuweichen. Für die katholischen Westdeutschen blieb die familiäre Bindung an die alte Heimat und die Verwandten eng. Nach 1933 bot sie den verfemten katholischen Gewerkschaftsfunktionären Schutz; hier überlebten sie die nationalsozialistische Barbarei. Die christliche Gewerkschaftsbewegung der Gemeindearbeiter war "Fleisch vom Fleisch" der deutschen Arbeiterbewegung. Durch nichts - es sei denn durch Glauben und regionale Herkunft - unterschied sie sich soziologisch von den freigewerkschaftlichen Mitstreitern.

Zunächst in regionaler Hinsicht unterschieden sich die christlichen Hilfs- und Transportarbeiter von ihren christlichen Gemeindearbeiterkollegen. Auch sonst springen deutliche Abweichungen ins Auge: Die Gründergeneration ist älter. Der Gründungsvorsitzende Hans Braun wird 1861 in Wertingen (Schwaben) geboren, sein Nachfolger Heinrich Oswald 1866 in Lalling (Deggendorf). Typisch vielleicht der Lebenslauf Oswalds: Der Vater arbeitet als kleiner, selbständiger Küfer mit eigener Landwirtschaft. Sein Sohn verdient als Dorfhirte und in der eigenen Landwirtschaft hinzu. Als entlassener Soldat findet er in einem Militärbetrieb Anstellung, dort kommt er mit der christlichen Gewerkschaftsbewegung in Kontakt. Bayrisch-agrarische Verhältnisse, starke, katholisch-konfessionelle Bindungen prägen die Lebensläufe der christlichen Hilfs- und Transportarbeiterfunktionäre. Deutlich fällt der Unterschied zur "modernen", großstädtischen Gemeinde- und Straßenbahnerbewegung ins Auge. Der Streit, der 1912 zum Auseinanderbrechen des christlichen Stammverbandes führte, rührte auch aus einer anderen Lebens- und Erfahrungswelt her. 1912 wird der eigenständige "Zentralverband christlicher Fabrik- und Transportarbeiter Deutschlands" aus der Taufe gehoben, dem sich nach dem I. Weltkrieg der "Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter" anschließt. Soziologisch-strukturell ändert sich 1912 einiges in der christlichen Gewerkschaftsbewegung der Vorläufergewerkschaften der ÖTV: Die Generation der "Mitdreißiger" übernimmt die Leitung des neuen Verbandes. Der neue Vorsitzende Peter Tremmel zählt gerade 36 Jahre; sein Stellvertreter Heinrich Kuhn ist ein Dreivierteljahr jünger. Der Redakteur Johannes Frankenberg hat drei Jahre mehr "auf dem Buckel". Martin Fromm übernimmt 1912 mit 33 Jahren die Leitung der christlichen Keramarbeiter. 1919 stößt er als Gleichaltriger (und künftiger 2. Vorsitzender) zu den organisierten Hilfs- und Transportarbeitern. Der neue Vorsitzende Tremmel stammt direkt aus dem großstädtischen-proletarisch Milieu; sein Stellvertreter zog mit seinen Eltern als Junge in die Großstadt. Johannes Frankenberg treibt die Not seiner Eichsfelder Heimat in die protestantische Großstadt; Martin Fromm atmet "großstädtische Luft" erst mit seiner hauptamtlichen Anstellung 1907 in Köln. Von der neuen Generation christlicher Gewerkschaftsführer des Transportgewerbes hat nur Johannes Frankenberg einen Beruf gelernt (Weber). Auch hier sind die Parallelen zum freigewerkschaftlichen "Deutschen Transportarbeiter-Verband" auffällig: Hilfsarbeiter wählen Hilfsarbeiter an die Spitze. "Fremde Helfer" werden nur in gewissem Maße geduldet und akzeptiert. 75% der Funktionäre kommen aus dem katholischen Milieu Süddeutschlands.

Der Trend zur "Modernisierung" des Verbandes - Ablösung der kleinbürgerlich-ländlichen Führungsschicht durch proletarisch-großstädtisch geprägte Menschen ist jedoch augenscheinlich. Bis auf die katholische Prägung und das "jugendlichere" Alter unterscheidet die christlichen Transportarbeiter nichts von der sozialdemokratischen Konkurrenzorganisation.

Ganz auffällig gehören alle einer Klasse an, nur die spezifische christliche Erziehung ließ sie einen anderen Lebensweg gehen. Verblüffend auch der Gleichklang zu allen anderen Biographien. Einmal gewählt, blieben die christlichen Transport- und Hilfsarbeiter (wenn auch nicht immer in der gleichen Funktion) bis 1933 im Amt. Den Reichstagsabgeordneten Tremmel vertreiben die Nazis mit 56 Jahren; den ehemaligen Redakteur Frankenberg mit 59 Jahren.

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Veränderung nach Weltkrieg und Revolution?

Die Novemberrevolution brachte für die deutschen Gewerkschaften einschneidende Veränderungen. Die Gesindeordnung fiel. Beamte erhielten das Koalitionsrecht zugesprochen. Berufsständische Organisationen wandelten sich zu "richtigen" Angestelltengewerkschaften. Die freien Gewerkschaften konnten den Mitgliederzulauf kaum fassen. Die alte Kriegspolitik der Gewerkschaften stand unter starkem Beschuß linksoppositioneller Kreise. Das Parteienspektrum wankte. Änderten sich auch die freigewerkschaftlichen Führungsgruppen?

1919 zogen der "Deutsche Transportarbeiter-Verband" und der "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" auf Gewerkschaftstagen Bilanz und wählten sich in demokratischer Wahl ein neues Gremium. Wirft man einen Blick auf den engeren Verbandsvorstand des "Deutschen Transportarbeiter-Verbands", so stellt man überrascht fest, wie wenig sich nach der Staatsumwälzung in der Führungsspitze der Gewerkschaften verändert hat. Mit Johann Döring, Hans Dreher, Friedrich Himpel, Max Pause und Oswald Schumann wählten die Delegierten die gleichen Funktionäre wie sieben Jahre zuvor in Breslau. Mit Ferdinand Bender und August Werner befinden sich zwei neue Gesichter in der Gewerkschaftsspitze. Mit einem Durchschnittsalter von 53,2 Jahren erreicht der Vorstand ein Rekordniveau. Im ersten Jahr der Weimarer Republik entsprach der Vorstand nahezu in allen Bereichen der Zusammensetzung um die Jahrhundertwende. Der Transportarbeiterverband machte in dieser Hinsicht keine Ausnahme von anderen Gewerkschaften. [ Detlev Brunner: Bürokratie un Politik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes 1918/19 bis 1933. Köln 1992, S. 110 ff. ] Erfahrung, Routine, gewerkschaftliche Spezialkenntnisse machten in den Augen der Delegierten die alten Funktionäre unentbehrlich. Mit 49 Jahren war Ferdinand Bender der "Benjamin" in der Gewerkschaftsspitze. Mit ihm rückte erstmals ein Nichtberliner/Nichthamburger in den Vorstand ein, sieht man von Benders kurzfristigem Aufenthalt als Junganarchist in der Reichshauptstadt ab. Das Berliner Element erfuhr jedoch insofern eine Stärkung, als mit August Werner der ehemalige Berliner Bezirksleiter nachrückte. Nach wie vor bestimmten die gewerkschaftlichen Erfahrungen der Gründergeneration aus den beiden größten deutschen Städten die Gewerkschaftspolitik der Massenorganisation mit nun gut einer halben Million Mitglieder. Mit dem gelernten Müller August Werner rückte neben dem gelernten Weber Max Pause ein zweiter "untergehender" Beruf in den Vorstand ein. Vier der sieben Vorstandsmitglieder (Himpel, Schumann, Werner, Dreher) hatten in ihrer Jugend als Hausdiener und Handelshilfsarbeiter gearbeitet; ihre ersten gewerkschaftlichen Sporen hatten sie sich in den Lokalorganisationen der späten achtziger Jahre verdient. Moderne Transportarbeiter fehlten im Vorstand. Die Entwicklung vom Pferdefuhrwerk zum Automobil hatte in der Gewerkschaftsspitze keinen Niederschlag gefunden. Linkssozialistischen Strömungen erteilte der Verbandstag eine Absage. Die Verbandsspitze blieb politisch völlig homogen. Durch das altersbedingte Ausscheiden Carl Kaßlers war der einzige Funktionär ausgeschieden, der phasenweise zur sozialistischen Kriegsopposition neigte. Die Anpassung an den gewerkschaftlichen Altersdurchschnitt, an die soziologische Veränderung im Gewerbe und an die regionale Verteilung der Mitglieder stand also noch aus. Die Anpassung mußte in den nächsten Jahren erfolgen, sollte die Gewerkschaft das Vertrauen nicht verlieren.

Dennoch waren die "alten Leute" erstaunlich "modern", was ihre gewerkschaftsorganisatorische Sichtweise anbelangte. Mit den überkommenen Vorstellungen einer Welt von Berufsgewerkschaften hatten sie nichts gemein. Dafür hatten alle ihren alten Beruf im Strudel moderner Veränderungen aufgeben müssen oder hatten nie einen solchen ausgeübt. Berufsständischer Dünkel war dem ehemaligen Hausdiener in einer Konditorei August Werner ebenso fremd wie dem "gelernten" Metallarbeiter und ehemaligen Anarchisten Ferdinand Bender. Für eine klare Ausrichtung auf das Industrieverbandsprinzip standen schon die beiden Vorständler, die Hilfsarbeiter Döring und Schumann. Konsequenterweise stand der "Deutsche Transportarbeiter-Verband" auf der Seite der gewerkschaftlichen Organisationsmodernisierer, die sich in der Frühphase der Weimarer Republik unglücklicherweise nicht durchsetzen konnten.

Auf dem 8. Verbandstag der Gemeinde- und Staatsarbeiter vom 1. bis 6. September 1919 in Nürnberg wählte die Organisation ebenfalls ihre Spitze neu. Vom fünfköpfigen Vorstand blieben Heckmann, Dittmer und Maroke im Amt. Mit Fritz Müntner und Paul Schulz rückten zwei Kräfte nach, die die Politik der Gewerkschaft bis 1933 nachhaltig beeinflussen sollten. Mit durchschnittlich 44,8 Jahren blieb der Vorstand vergleichsweise jung. Die Flexibilität der Vorstandsmitglieder (der Wechsel in kommunale Spitzenpositionen war keine Seltenheit) ließ einen häufigen Austausch der Eliten zu, der in den übrigen Gewerkschaften nicht gegeben war. Mit Müntner rückte neben Dittmer ein weiterer "Berufsfremder" in den Vorstand ein, der in einer anderen Gewerkschaft seine Verdienste erworben hatte. Mit dem gelernten Schuhmacher Schulz zog ein weiterer Berliner ein, dessen Beruf keine Zukunft mehr hatte und der als Gasarbeiter sein Brot verdienen mußte. Das "Sagen" im Vorstand hatten somit drei ehemalige Gasarbeiter und ein gelernter Sattler und Buchdrucker, die auf Grund gewerkschaftlicher Spezialkenntnisse "eingekauft" worden waren. Die Lebensläufe der Gemeindearbeiter bildeten einen festen Garant für die industrieverbandliche Ausrichtung der Gewerkschaft. Die Gasarbeiter "vergaßen nie", woher sie kamen. Vor allem Paul Schulz machte nie ein Hehl aus seinen "Erkenntnisquellen". Auffällig ist die Tatsache, daß Elektrizitätsarbeiter im Vorstand völlig fehlten. Wie die Angehörigen moderner Dienstleistungsberufe (Angestellte in Krankenhäusern etc.) standen sie gewerkschaftlich im zweiten Glied und warteten auf ihre Berufung. In der angemessenen Repräsentanz aller Berufe im Verband hatten die Gemeindearbeiter einen deutlichen Nachholbedarf. Repräsentanz von Frauen im besoldeten Vorstand war in den deutschen Gewerkschaften ein Fremdwort. Auf diesem Gebiet klafften Anspruch und Realität der Vorläufergewerkschaften der ÖTV am weitesten auseinander.

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Der Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs: Modernisierung mit Schönheitsfehlern

Als sich in der Zeit vom 7. bis 10. Oktober 1919 in der Berliner Hasenheide die Delegierten des "Deutschen Verkehrsbundes", des "Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter" zunächst in Sondertagungen, dann zu einer gemeinsamen Tagung zusammenfanden, um die neue, gewerkschaftliche "Großmacht" - den "Gesamtverband" - aus der Taufe zu heben, wählten sie einen gewaltigen, hauptamtlichen Vorstand mit 22 Persönlichkeiten. [ Es handelte sich um Oswald Schumann, Fritz Müntner (Vorsitzende), Johannes Döring, Otto Becker (stellvertretende Vorsitzende), August Reitz, Karl Polenske, Anton Reißner, Paul Schulz, Richard Nürnberg, Adam Ruppert, Ferdinand Bender, David Stetter, Hermann Rudolph, Wilhelm Kemptner, Josef Orlopp, Max Pause, Josef Busch, Emil Riedel, Gerhard Förster, Julius Scherff, Rudolf Lengersdorff, Emil Dittmer.] Eine solch große Anzahl war in der deutschen Gewerkschaftsbewegung ungewöhnlich, die sonst eher knauserig mit hauptamtlichem Leitungspersonal umging. Nur mit einer sehr großen Anzahl von hauptamtlichen Vorstandsmitgliedern waren die unterschiedlichen Interessen im heterogenen Gesamtverband offensichtlich unter einen Hut zu bringen. Unausgesprochen stand im Raum, daß eine solch große Zahl nicht auf ewig bleiben könne und daß die Organisation diese Zahl aus Kostengründen bald herunterfahren würde. Diese Vorstellung war realistisch, denn einige der Vorstandsmitglieder zeichneten sich durch ein ungewöhnlich hohes Lebensalter aus. Mit 55,9 Jahren lag das Durchschnittsalter im Vergleich zu den anderen Epochen der Gewerkschaftsgeschichte außergewöhnlich hoch. Das Durchschnittsalter lag sogar noch höher als der des 1928 gewählten Bundesvorstandes des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) mit 55,6 Jahren. [ Ulrich Borsdorf: "Deutsche Gewerkschaftsführer... " (a.a.O.), S. 27.] Das hohe Lebensalter hatte einiges mit den Spielregeln des Machtwechsels in den Gewerkschaften zu tun. "Delegationseliten" [ Klaus Beyme: Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland. München 1971, S. 125] besitzen eine starke Machtposition: Abwahl und vorzeitiges Ausscheiden aus den Vorständen war eine Seltenheit. Nach über 30 Jahren friedlicher, gewerkschaftlicher Entwicklung waren die ehedem jungen "Gewerkschaftsrevolutionäre" etabliert. Der über die Jahre gestiegene Altersdurchschnitt prägte die Führungsspitze. Unübersehbar wurde die neue Großorganisation von Veteranen geleitet: Oswald Schumann und Johann Döring standen seit 1896 an der Spitze ihrer Gewerkschaft. Seit über dreißig Jahren hatten sie als Fahrensmänner ihrer Organisation Gewerkschaftsgeschichte geschrieben. Das Gros der führenden Funktionäre war Mitte der siebziger Jahre geboren; die Erinnerungen an das Sozialistengesetz war noch nicht verblaßt. Der große "Gesamtverband" wurde zu Beginn der dreißiger Jahre nach wie vor von Männern geleitet, die "die Narben der Verbotszeit und doch zugleich den Lorbeerkranz eines heroischen Zeitalters" trugen. [ Klaus Tenfeld: Arbeitersekretäre. Karrieren in der deutschen Arbeiterbewegung vor 1914. Heidelberg 1993. S. 7] Für die Einschätzung der nationalsozialistischen Gefahr - oder besser die Unterschätzung der terroristischen Komponente des Faschismus - sollte das Durchschnittsalter der Funktionäre von zentraler Bedeutung sein. Daß Gewerkschaften in einem unterdrückenden Klassenstaat irgendwie überleben würden, gehörte zum unausgesprochenen Glaubensbekenntnis der Mit- und Endfünfziger.

Von einem echten Generationswechsel kann man eigentlich nur bei drei Funktionären sprechen: dem 1895 in Dresden geborenen ehemaligen Vorsitzenden der Dresdner Ortsgruppe des "Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter" Gerhard Förster, dem 4 Jahre später geborenen Kölner Gemeindearbeiter Rudolf Lengersdorff und dem 1890 geborenen Münchner Anton Reißner, der als Dreißigjähriger hauptamtlich vom "Deutschen Transportarbeiter-Verband" angestellt wurde. Die Führungspositionen in den deutschen Gewerkschaften waren seit dem stürmischen Aufstieg der Bewegung besetzt. Die nachfolgende Generation der nach 1890 Geborenen hatte es deutlich schwerer; ihre Wartezeit verlängerte sich zusehends, ehe sie Funktionen übernehmen konnte. Die Stunde der "neuen Generation" hätte in einer stabilen Demokratie spätestens 1935 geschlagen. Deutlich läßt sich feststellen, daß der überfällige Generationswechsel in der größten Vorläufergewerkschaft der ÖTV in den Jahren 1929/30 noch ausgeblieben war. Dennoch gab es Indizien für einen Modernisierungsschub, der einen notwendigen Wandlungsprozeß signalisierte. Erstmals zog (immer auf die untersuchten Stichjahre 1896/97, 1912/14, 1919 gerechnet) ein Beamter in den Vorstand ein: der vierundvierzigjährige Postschaffner Julius Scherff. Mit Gerhard Förster und Wilhelm Kemptner waren erstmals "richtige", gelernte Angestellte im Vorstand präsent. Mit dem gelernten Eisenbahnangestellten Wilhelm Kemptner war in der Weimarer Republik erstmals ein Mitglied in den Vorstand aufgestiegen, der als ehemaliger Mittelschüler einen "besseren" Schulabschluß vorweisen konnte. Rechnet man den angelernten Buchhändler Anton Reißner noch zu den "Büroarbeitern", ergibt sich für den 1929 gewählten Vorstand ein Arbeiteranteil von 81,8%. Trotz Rekrutierung neuer Mitgliederschichten blieb die Gewerkschaftsspitze ein Arbeitergremium, in dem Angestellte und Beamte nur einen "Minderheitenschutz" für sich reklamieren konnten. Der besoldete Vorstand blieb weiterhin ein reines Männerkollektiv. Nur 2 Frauen befanden sich unter den 24 unbesoldeten Vorstandsmitgliedern (Grete Philipp und Elsbeth Großklags). Ein weiterer Modernisierungsprozeß läßt sich auch in der regionalen Herkunft der Vorstandsmitglieder ablesen. Nahezu alle Regionen waren im Vorstand vertreten. Mit Rudolf Lengersdorff, Josef Orlopp, Hermann Rudolph und Julius Scherff erhielten das rheinisch-westfälische Industriegebiet und das Rheinland endlich die notwendige Repräsentanz im höchsten Gewerkschaftsgremium. Mit dem Bayer Anton Reißner, dem Badener Wilhelm Kemptner, dem Schwaben August Reitz und dem Hessen Adam Ruppert saßen im Vorstand Persönlichkeiten, die als junge Arbeiter in ihrer Heimat mehr gesehen hatten als preußische Pickelhauben. Das Berliner Moment überwog dennoch im Vorstand. 40,9% der Vorstandsmitglieder war entweder in Berlin aufgewachsen oder hatte die entscheidenden, beruflichen und gewerkschaftlichen Impulse in Berlin empfangen. Der ehemals starke Einfluß Hamburgs war im Gesamtverband völlig zurückgedrängt. Nur 2 Mitglieder (=9,1%) stammten noch aus Hamburg: der ehemalige Hafenarbeitervorsitzende Johann Döring und der ehemalige Gärtnervorsitzende Josef Busch. Die Gewichte hatten sich deutlich zu Ungunsten der alten Gewerkschaftshauptstadt und "heimlichen Hauptstadt des Sozialismus (August Bebel) verschoben. Die Entwicklung des Dienstleistungsgewerbes und des Transport- und Verkehrsgewerbes war in Deutschland in die Tiefe und Breite gegangen. Hafenarbeiter und Seeleute spielten in der zentralen Vorläufergewerkschaft der ÖTV keine dominierende Rolle mehr. 68,2% der Vorstandsmitglieder hatten einen Beruf erlernt. Der Charakter der Hilfsarbeiterbewegung ging langsam verloren, war allerdings noch deutlich auszumachen. Erstmals war mit dem gelernten Schlosser August Reitz ein Kraftfahrer im Vorstand vertreten, der für den revolutionären Wandel im Verkehrsgewerbe stand. Modernes Dienstleistungspersonal (Krankenhäuser, Gemeindeverwaltungen etc.) fehlte in der Gewerkschaftsspitze nach wie vor vollständig. 18,1% (alle, ehemalige Gemeindearbeiter) der Vorstandsfunktionäre im Gaswerk gearbeitet. Die "alte Schule" der Gemeindearbeiter dominierte weiterhin im Vorstand und prägte sein Weltbild. Nur von 10 Vorstandsmitgliedern kennen wir die ursprüngliche Konfession; das Verhältnis von getauften Katholiken zu getauften Protestanten beträgt 4:6. In der Normalisierung des Konfessionsproporzes spiegelt sich die Ausdehnung der Gewerkschaft wieder. Mit 28,1% "Berufsfremden" zählte der Gesamtverband eine ungewöhnlich hohe Zahl von Funktionären, die von den Gewerkschaften lange Jahre vorher als "Experten" angeworben und hauptamtlich angestellt wurden. Mangels Vergleichszahlen lassen sich keine Vergleiche zu anderen deutschen Gewerkschaften ziehen. Der Verdacht liegt allerdings nahe, daß der Gesamtverband in Deutschland eine Spitzenposition einnahm.

Von 14 Vorstandsmitgliedern ist der Vaterberuf bekannt. 78,6% der Väter hatten einen proletarisch-handwerklichen Beruf ausgeübt. Drei der Väter sind dem kleinbürgerlichen Milieu zuzuordnen. Nachdem der Vater von August Reitz eine kleine Essig- und Spirituosenfabrik ruiniert hatte, verließ er hochverschuldet die Familie und wanderte nach Amerika aus. Wilhelm Kemptners Vater verdiente als badischer Feldwebel seinen Lebensunterhalt. Paul Schulz' Vater betrieb eine kleine Schankwirtschaft. Durch die jüngeren Vorstandsmitglieder hatte sich der Anteil der in der Großstadt Geborenen (unter Hinzurechnung der heutigen Vororte) auf 31,6% erhöht. Dennoch: Das Antlitz der Gewerkschaft wurde 1929/30 noch deutlich von Funktionären geprägt, die das Sozialistengesetz nicht nur vom Hörensagen kannten. Der klassische Vorstandssekretär hatte als Kind eines Arbeiters früh den Weg in die Großstadt gefunden und war der Gewerkschaft um 1880 beigetreten. Sein Weltbild entstammte der "Blütezeit" des deutschen Kaiserreiches, das dem Arbeiter mehr zu bieten hatte als nur den "Verlust seiner Ketten". Die Funktionäre wußten, was deutsche Arbeiter der gewerkschaftlichen Kleinarbeit zu danken hatten. Politisch zählte das Dreiklassenwahlrecht und die Erfolge einer aufsteigenden Sozialdemokratie zu den prägenden Jugenderinnerungen. Den I. Weltkrieg hatten sie meist aktiv mitgemacht. Die Erlebnisse im Weltkrieg waren zwiespältig: Stolz blickte man auf die Anerkennung der Gewerkschaften als stabiler gesellschaftlicher Faktor; das Völkermorden verfestigte allerdings auch eine stabile pazifistische Grundüberzeugung. Die Weimarer Republik bedeutete für die meisten der jungen Radikalen die Erfüllung ihrer politischen und gewerkschaftlichen Träume. Der Vorsitzende Oswald Schumann hat dies in Diskussionen mit innerverbandlichen Kritikern oft genug betont. Jüngere Vorstandsmitglieder brachten 1929/30 "neues Leben" in den Vorstand. Angestellte, ein Beamter, Großstädter, West- und Süddeutsche, moderne Berufe deuteten den kommenden Wechsel an. Nur: angemessen war "das Neue" in der Gewerkschaftsspitze nicht repräsentiert. Der Wandel mußte noch kommen.

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November 1932: Sozialer Wandel angesichts tödlicher Bedrohung

Ende November 1932 teilte die Gewerkschaftspresse mit, daß die 5. Verbandsbeiratstagung einen neuen Verbandsvorstand gekürt habe. Ein Verbandstag hatte aus Kostengründen einem kleinen Gewerkschaftstag weichen müssen. In der Zwischenzeit war nach dem letzten Gewerkschaftstag viel geschehen. Mit der "Reichsgewerkschaft Deutscher Kommunalbeamter" stieß eine weitere Beamtengewerkschaft zum "Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs". Die Berufsfeuerwehrleute hatten ebenfalls ihren Anschluß durchgesetzt. Überdurchschnittlich viele Vorstandsmitglieder waren wegen Erreichung der Altersgrenze ausgeschieden. Überraschend für die meisten Außenstehenden war der Rücktritt des Gewerkschaftsgründers Oswald Schumann. Gemeinsam mit den beiden Kassierern trat er 1932 zurück, nachdem es ihm die übrigen Vorstandsmitglieder nicht verzeihen konnten, daß er Geld für das neue Gewerkschaftsgebäude ausgegeben hatte, ohne satzungsgemäß den Vorstand um Zustimmung zu bitten.

Der neue Verbandsvorstand präsentierte sich in deutlich verschlankter Form. [ Es handelt sich um folgende Persönlichkeiten: Anton Reißner, Otto Becker (Vorsitzende), Carl Polenske, August Reitz, Emil Dittmer, Paul Schulz, Julius Scherff, Josef Orlopp, Wilhelm Kemptner, Ferdinand Bender, David Stetter, Otto Schreiber, Franz Glöckl, Hermann Rudolph] Gravierende, finanzielle Schwierigkeiten in der Weltwirtschaftskrise zwangen die Gewerkschaft dazu, die Zahl der hauptamtlich angestellten Vorstandsmitglieder deutlich zu reduzieren. Künftig standen 14 Männer an der Spitze der Gewerkschaft. Mit Franz Glöckl und Otto Schreiber fanden sich zwei neue Gesichter im höchsten Gewerkschaftsgremium. Mit 51,3 Jahren lag das Durchschnittsalter gut 4 Jahre unter dem Vorstand, den die Delegierten knapp drei Jahre vorher gewählt hatten. Die Verjüngung war deshalb nicht so augenfällig, weil mit Gerhard Förster und Rudolf Lengersdorff die mit Abstand jüngsten Vorstandsmitglieder aus dem ehemaligen "Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter" ausgeschieden waren. (Lengersdorff als Opfer der Einsparungspoltik, Förster mit einem neuen Job im kommunalen Bereich in Dresden.)

Die auffälligste Tatsache war jedoch, daß das nun jüngste Vorstandsmitglied (Anton Reißner mit 42 Jahren) zu einem der neuen Mitvorsitzenden gewählt worden war. Mit diesem Wechsel hatte der Gesamtverband in der Führungsspitze nicht nur den Generationswechsel vollzogen, vielmehr hatte er einen "Büroarbeiter" mit an die Spitze gestellt und damit der soziologischen Veränderung der deutschen Erwerbsstruktur Rechnung getragen. Als weitere Modernisierung kann die Einbeziehung eines weiteren Kraftfahrers (Franz Glöckl) angesehen werden. Mit dem 1907 von Bayern nach Hamburg gewechselten Taxifahrer blieb die Repräsentanz der Hansestadt im Vorstand weiter erhalten. Mit 5 Ungelernten und Angelernten (=35,7%) blieb der soziale Charakter der Organisation im Vorstand ebenfalls erhalten. Deutlich ging allerdings der Anteil der "Berufsfremden" zurück (jetzt 21,4%). Nur noch Ferdinand Bender, Josef Orlopp und Emil Dittmer hatten nie in einem Beruf gearbeitet, den sie jetzt vertraten. Der Verband war auf dem besten Wege, seine Repräsentanten aus sich selbst zu rekrutieren. Unangetastet blieb die Dominanz der ehemaligen Gasarbeiter. Knapp drei Monate vor der faschistischen Machtergreifung hatte der Gesamtverband aus eigener Kraft eine erste Verjüngung durchgesetzt. Ein junger Mitvorsitzender stand für neue, innovative Ideen. Der Verband schöpfte bei neuen Vorstandsmitgliedern zunehmend aus eigenen Quellen. Generell waren damit nicht alle Führungsprobleme aus der Welt geschaffen (mangelnde Frauenrepräsentanz, mangelnde Repräsentanz der nach 1900 Geborenen, mangelnde Repräsentanz moderner Dienstleistungsberufe). Für den wohlwollenden Betrachter bestanden jedoch keine Zweifel daran, daß die Dienstleistungs- und Verkehrsgewerkschaft "Gesamtverband" diese Probleme würde noch lösen können. Der Sieg des Nationalsozialismus machte indes alle Hoffnungen zunichte.

In einer abnormen Situation mußten die deutschen Gewerkschaften nach 1945 neu beginnen. Eine ganze, "betrogene Generation" fiel für den Neuaufbau aus. War ein Neuanfang 1945 noch möglich? Welche Auswirkungen sollten Krieg und Faschismus auf die verantwortlichen Männer und Frauen der Gewerkschaft haben?

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1949 - Neubeginn oder Kontinuität?

Wer waren nun die Männer und wenigen Frauen, die wenige Jahre nach Kriegsende in verantwortliche Positionen aufrückten? Für die Zeit nach 1945 hat sich die Quellensituation bei der Rekonstruktion der Lebensläufe beträchtlich verbessert. Es besteht somit eine einzigartige, günstige Konstellation, hieb- und stichfest zu überprüfen, welche Funktionäre die neugeschaffene Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr leiteten. Für keine andere deutsche Nachkriegsgewerkschaft gibt es ein ähnlich gutes Sozialprofil. Um das Ergebnis auf ein möglichst breites Fundament zu stellen, wurden nicht nur die Mitglieder des 1949 gewählten geschäftsführenden Hauptvorstands (plus des verantwortlichen Redakteurs) "durchleuchtet", zur Ermittlung eines besseren Bildes wurden auch die Bezirks- und Landesleiter hinzugezogen, die bis 1949 die Bürde gewerkschaftlicher Verantwortung trugen. Als Stichjahr aller empirischer Aussagen gilt das Jahr 1949. Es fanden auch die Bezirksleiter (wie Hans Böhm) Berücksichtigung, die bereits 1949 andere Funktionen übernommen hatten. Alles spricht dafür, daß mit der getroffenen Auswahl tatsächlich die gewerkschaftliche Führungsgruppe erfaßt wurde. Manche ehemaligen Landes- und Bezirksleiter (bspw. Erich Raabe) verzichteten auf ein Amt auf Bundesebene, weil sie in den Bezirken für sich persönlich mehr Einfluß und mehr Veränderungsmöglichkeiten sahen. 21 führende Persönlichkeiten [ Es handelt sich um Hans Böhm, Peter Brückmer, Heinrich Davidsen, Franz Deischl, Emil Fritz, Karl Gröbing, Georg Gschrei, Georg Huber, Karl Köster, Konrad Koßbiel, Adolph Kummernuss, Alexander Langhans, Alexander Lauterwasser, Heinrich Malina, Karl Meißner, Fritz Müllé, Karl Müller, Max Neumann, Karl Oesterle, Erich Raabe, Edwin Will ] wurden "untersucht", darunter 10 gHV-Mitglieder (einschließlich Redakteur).

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Gliederung nach Geburtsjahrzehnten (in absoluten Zahlen)

1889.................1890-99..................1900-09
5.......................12...........................4

Das Durchschnittsalter aller untersuchten Funktionäre lag bei 55,2 Jahren; das der geschäftsführenden Hauptvorstandsmitglieder bei 52,7 Jahren. Das Durchschnittsalter muß als vergleichsweise hoch angesehen werden. Es entsprach in etwa dem des alten "Gesamtverbandes". Die terroristische Unterdrückung der Gewerkschaften hatte eine ganze Generation von Gewerkschaftern "ausfallen" lassen. Die gesellschaftlichen Erfahrungen der "nach 45er" unterschied sich kaum von denen der Gewerkschafter vor 1933. Die Führungsgeneration der ÖTV-Funktionäre erlebte Gründung und Untergang der Weimarer Republik bewußt. Sie erfuhr die Spaltung der politischen Arbeiterbewegung, die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung und die "Erosion in der Gewerkschaftsbewegung". [ Ulrich Borsdorf: "Deutsche Gewerkschaftsführer..." (a.a.O.), S. 36.] Die "Wiedergründer" erlebten den Nationalsozialismus als eine gewaltige Unterdrückung, die ihnen die berufliche Existenz raubte.

Von allen Funktionären kennen wir das Eintrittsdatum in die Gewerkschaft.

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Gliederung nach Eintrittsjahrzehnten (absolute Zahlen)

1900-1909..........................1910-1919...........................1920-1929
10..........................................17......................................4

Das Gros der Leitungsfunktionäre der ÖTV war noch zu Zeiten des Kaiserreiches in die Gewerkschaft eingetreten. Ihr Weltbild bei Gewerkschaftseintritt wurde durch das stetige Wachstum der Bewegung geprägt. Ihre Jugend vermittelte ihnen ein "gewerkschaftsoptimistisches" Bild: der Interessenvertretung der Arbeitnehmer schien ein ungebrochener Aufstieg bevorzustehen. Vieles von diesem Jugendoptimimus kam nach 1945 wieder zum Durchbruch. Die älteren Männer wirkten in vielen ihrer Aussagen zukunftsfreudiger als die unmittelbare Kriegsgeneration.

20 der 21 "durchleuchteten" Funktionären waren vor 1949 hauptamtlich angestellt; nur der Landesleiter Alexander Lauterwasser war stets ehrenamtlich tätig gewesen.

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Gliederung nach hauptamtlichen Einstellungsjahrfünften (absolute Zahlen)

1919...........1920-24.............1925-29.............1930-33.............1935-49
2.................... 2.......................11.......................1.......................4

Ein deutlicher Unterschied zu den leitenden Funktionären vor 1933 bestand in der besseren Berufsbildung. 95,3 der Funktionäre hatten erfolgreich eine Berufsausbildung absolviert. Nur der erste ÖTV-Mitvorsitzende Adolph Kummernuss stand noch in der alten Tradition seiner großen Hilfsarbeitergewerkschaft. Nach dem II. Weltkrieg kam es in der Gewerkschaft zu keinem Generationsbruch. Zu Beginn der demokratischen Neuentwicklung rückte "eine relativ homogene Schicht von Funktionären in die Führungsetage der Gewerkschaften" ein. 1933 mußten sie bis auf Georg Huber und Alexander Langhans (beide hatten als Bezirksleiter bereits Einfluß) in der "zweiten Reihe verharren", weil der verlangsamte Generationswechsel innerhalb ihrer Gewerkschaft keinen rascheren Aufstieg zuließ. Nach 1945 setzten sie das fort, was sie vor 1933 als Gewerkschaftsangestellte gelernt hatten. [ Klaus Schönhoven: "Nach der Ära Böckler. Die Führungskrise im Deutschen Gewerkschaftsbund 1951/52", in: Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag. München 1994, S. 173.] Insgesamt zeichnet sich die erste Generation der ÖTV-Funktionäre durch eine einheitliche Schul- und Berufsbildung aus. 90,6% hatten eine Volksschule besucht. Nur der Metallarbeiter Max Neumann und der gelernte Kaufmannsgehilfe Alexander Langhans besaßen die mittlere Reife. Nimmt man alle Funktionäre zusammen, so liegt der Arbeiteranteil bei 85,7%. Nur der gelernte Schlosser (und spätere Beamte des mittleren Dienstes), sowie der Angestellte Alexander Langhans und der gelernte Krankenpfleger Emil Fritz hatten keine typische Handarbeiterkarrieren hinter sich. Bezieht man die soziobiographischen Daten auf den engeren gHV so liegt der Arbeiteranteil bei 70%. Von 16 Männern ist der Väterberuf bekannt. 75% der Väter entstammten einem "lupenreinen", proletarischen Milieu. Drei der Väter sind dem kleinbürgerlichen Umfeld zuzurechnen: Der Vater Georg Hubers arbeitete als Kunsthändler, der Vater Franz Deischls als Buchhalter und der Vater Malinas als selbständiger Friseur. Nur der Vater Alexander Langhans' fällt mit seinem Beruf (Studienrat) "völlig aus dem Rahmen". 13 der führenden Funktionäre entstammten regionalen aus Süd- oder Südwestdeutschland, wo sie ihre entscheidendenn familiären, beruflichen und gewerkschaftlichen Impulse empfingen. 7 entstammten aus Nord- und Nordwestdeutschland, einer aus Berlin. Die Spaltung Deutschlands, die gewachsene Bedeutung des süd- und südwestdeutschen Raums für die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr schlugen sich - in deutlichem Unterschied zur Weimarer Republik in den Sozialbiographien nieder. Von 10 Funktionären wissen wir, daß sie die Kirche verlassen hatten. Auch in diesem Falle springt die bruchlose Kontinuität zu den Vorkriegsgewerkschaften ins Auge.

Die Gewerkschaft ÖTV stellt sich in ihrer Führungsgruppe 1949 als klassische Arbeitergewerkschaft mit typischem, familiären Arbeiterhintergrund dar. Durchgängig herrscht eine solide Berufsausbildung auf der Basis eines Volksschulabschlusses vor. Die Traditionen und der lebensgeschichtliche Hintergrund der deutschen Arbeitergewerkschaften vor 1933 prägen die Wiedergründer der ÖTV nach 1945.

Wie verhält es sich mit der gewerkschaftlichen Herkunft der Funktionäre? Aus einer vergleichenden Untersuchung wissen wir, daß Vorstandsmitglieder "selbstverständlich bereits vor Eintritt in die Führung Mitglied einer Gewerkschaft, fast ausnahmslos derjenigen, die später von ihnen geleitet wurde, bzw. - bei der älteren Generation - deren Vorläuferorganisation" waren. [ Claus Winfried Witjes: Gewerkschaftliche Führungsgruppen. Eine empirische Untersuchung zum Sozialprofil, zur Selektion und Zirkulation sowie zu Machtstellung westdeutscher Gewerkschaftsführungen. Berlin 1976, S. 118.] Bei der Gewerkschaft ÖTV liegen die Dinge anders. Nur 71,4% der Vorstandsmitglieder gehörten dem "Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs" und anderen "legitimen" Vorläufergewerkschaften der ÖTV an Unter "legitime" Vorläufergewerkschaften sollen der "Zentralverband der Angestellten", die christliche (später neutrale) "Deutsche Postgewerkschaft" und der "Deutsche Eisenbahner-Verband" gezählt werden. Nach dem Kriege suchte die ÖTV in der Britischen Zone lange, das Post- und Eisenbahnerpersonal zu organisieren. Die Funktionäre Karl Köster, Karl Gröbing und Heinrich Malina stützten diesen Kurs und verließen die ÖTV auch dann nicht, als sich eigenständige Gewerkschaften gebildet hatten. Zwei Spitzenleute stießen vor 1933 als "Berufsfremde" zur Organisation (Georg Huber und Hans Böhm). Überraschend hoch die Zahl der "Berufsfremden" nach 1945: Weder Max Neumann, noch Karl Raabe hatten je in einem ÖTV-Betrieb gearbeitet. Ungewöhnlich kurz auch die Zeiten der Beschäftigungen im öffentlichen Dienst der beiden Vorstandsmitglieder Karl Müller und Friedrich Müllé. Karl Müller legitimierte sich als ÖTV-Funktionär durch eine Anstellung im Arbeitsamt von November 1945 bis Juni 1947. Fritz Müllé arbeitete von April 1946 bis Juni 1948 als Angestellter in verschiedenen Ämtern für Vermögenskontrolle. Die "Blitzkarrieren" beider Gewerkschafter nach dem Krieg und die Karrieren der beiden "Berufsfremden" - immerhin 33,3% im geschäftsführenden Hauptvorstand - signalisierten für die Zeit nach 1945 den außerordentlichen Mangel an qualifizierten Führungspersönlichkeiten. Der über Jahre auf den Gewerkschaftstagen der ÖTV beklagte Verlust einer ganzen Gewerkschaftsgeneration schlägt sich in den ungewöhnlichen Gewerkschaftsbiographien der vier Vorstandsmitglieder nieder.

Interessante Aufschlüsse gibt ein Blick auf die Eintrittgsgewerkschaften in Kaiserreich und Weimarer Republik. Nur 7 Funktionäre (=33,3%) waren den "legitimen" Vorläufergewerkschaften der ÖTV beigetreten. Es handelt sich um die beiden Gärtner Karl Meißner und Karl Oesterle, den Seemann Heinrich Davidsen, den Hafenarbeiter Adolph Kummernuss, den Krankenpfleger Emil Fritz und den ZdA'ler Alexander Langhans. Acht der Leitungsfunktionäre (=38,6%) waren entweder dem "Deutschen Metallarbeiter-Verband" oder dem "Christlichen Metallarbeiter Verband Deutschlands" ursprünglich beigetreten. Die Ausweitung des tertiären Sektors, die Übernahme zentraler, qualifizierter Dienstleistungen durch den Staat und durch die Kommunen führte dazu, daß gut ausgebildete, tüchtige Metallarbeiter in den öffentlichen Dienst eintraten und in der neuen Gewerkschaft Funktionen ausübten. Das Sozialprofil der ersten Vorstandsgeneration spiegelt deutlich diesen Prozeß wieder. Die Leitungsspitze der ÖTV wurde deutlich durch ehemalige Angehörige dieser "Elitegewerkschaften" geprägt, bei deren Mitglieder es sich traditionell um sehr "bewußte" Gewerkschafter handelte.

Die Unterrepräsentation von Frauen (nach 1945 gab es überhaupt keine Frau in Spitzenpositionen) entsprach der mangelnden Repräsentanz in anderen deutschen "Eliten". Diese bedauerliche Tatsache war aber auch die einzige Gemeinsamkeit mit den Führungsgruppen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Eine Annäherung an das Sozialprofil deutscher Oberschichten gab es nicht in Ansätzen. Eine soziale Distanz zwischen der Mitgliederbasis - den kleinen Leuten - und der gewerkschaftlichen Führung der Nachkriegs-ÖTV gab es nicht. Soziologisch gesehen war die Leitung ein getreues Abbild des Ganzen. [ Claus Winfried Witjes: Gewerkschaftliche Führungsgruppen (a.a.O.) S. 370 f.]

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1964 - eine andere ÖTV?

1964 ging der erste Nachkriegsvorsitzende der ÖTV, der ungelernte Hamburger Hafenarbeiter Adolph Kummernuss, "von Bord". War der Führungswechsel mehr als ein Austausch an der Spitze? Hatte sich vielleicht der Charakter der ganzen Gewerkschaft verändert? Was sagt eine "Durchleuchtung" des geschäftsführenden Hauptvorstandes dazu aus?

1964 wurde mit Heinz Klucker, Albert Finke, Heinrich Jacobi, Fritz Müllé, Hans Faltermeier, Gerhard Kugoth, Gerhard Nürnberg, Gerhard Schmidt und Ingeborg Tönnesen ein neuer Vorstand gewählt. Der verantwortliche Redakteur Rudolf Vater nahm weiterhin mit beratender Stimme an den gHV-Sitzungen teil. Auffällig ist das deutlich niedrigere Durchschnittsalter des 64-Vorstandes verglichen mit den "Wiedergründern". Mit 39 Jahren drückte vor allem der jüngste bundesdeutsche Gewerkschaftsvorsitzende Heinz Kluncker das Durchschnittsalter auf 49,2 Jahre. Nur Fritz Müllé amtierte 1964 aus dem gHV der ersten Stunde. Ingeborg Tönnesen gehörte 1949 bereits dem Hauptvorstand an, als Bundesfrauensekretärin wurde sie allerdings erst 1952 in den gHV gewählt. Nur 5 der Funktionäre (Albert Finke, Heinrich Jacobi, Fritz Müllé, Gerhard Nürnberg und Ingeborg Tönnesen) waren der Gewerkschaft vor 1933 beigetreten. Erfahrungen als "Hauptamtliche" hatten nur Fritz Müllé und Albert Finke Erfahrungen als Funktionäre vor 1933 sammeln können. Der Generationsumbruch war gewaltig. Die schon in der Weimarer Republik tätigen Funktionäre der ÖTV, die 1949 nach dem Stuttgarter Gewerkschaftstag das Steuer übernahmen, hatten wegen fortgeschrittenen Alters die Leitung niedergelegt. Nach ihrem Ausscheiden rückten wegen des fast völligen Fehlens eines "Geburtsjahrzehnts" z.T. sehr junge Funktionäre nach. Während die ältere Führungsgeneration das 50. Lebensjahr deutlich überschritten hatte, als sie herausragende Positionen übernahm, traten sämtliche Mitglieder der neuen Generation im Alter von weniger als 50 Jahren in die Führungsspitze ein. 20% waren 1964 sogar jünger als 40 Jahre. [ Siehe auch Claus Winfried Witjes: Gewerkschaftliche Führungsgruppen (a.a.O.), S. 175.] Noch erstaunlicher ist die Veränderung der Sozialstruktur des geschäftsführenden Hauptvorstandes von 1964. Das Bildungsniveau verschob sich sichtbar nach "oben." 1932 verfügte ein Vorstandsmitglied und 1949 zwei Vorstandsmitglieder über die mittlere Reife. Einen Volksschlußabschluß besaßen 1964 4 Vorstandsmitglieder (=40%). 2 Mitglieder (=20%) besaßen die mittlere Reife. Zählt man Gerhard Kugoths "Notabitur" dazu, besaßen 4 Mitglieder (=40%) die Hochschulreife. Innerhalb von 15 Jahren waren die Volksschüler im gHV in die Minderheitenposition geraten. Wertet man Gerhard Kugoths abgebrochene Maurerlehre nicht, so hatten nur noch Albert Finke (Bäcker), Fritz Müllé (Schlosser) und Ingeborg Tönnesen (Schneiderin) eine "Arbeiterkarriere" hinter sich. Der Arbeiteranteil im gHV war in anderthalb Jahrzehnten auf 30% gesunken. Bei Lichte betrachtet hatten sogar die Mitglieder Fritz Müllé und Ingeborg Tönnesen ihren Arbeiterberuf nie ausgeübt. Die junge Hamburgerin bewarb sich 1930 nach Ablegung der Gesellenprüfung erfolgreich um einen Ausbildungsplatz als Schwesternschülerin. Fritz Müllé besuchte nach Berufsabschluß eine weiterführende Maschinenbauschule, ehe er als zwanzigjähriger "Berufsgewerkschafter" eine neue Karriere begann. Nur das älteste geschäftsführende Hauptvorstandsmitglied (Albert Finke) hatte als gelernter Bäcker und angelernter Bergmann als Handarbeiter über Jahre sein Geld verdient.

Die kontinuierliche Ablösung der älteren durch die jüngere Führungsgeneration, die graduelle Verbesserung der formalen Ausbildung und die Modernisierung ihrer Berufsbildung zeigt deutlich, daß die ÖTV-Spitze keineswegs immobil war. Schon der klassische Soziologe der Arbeiterbewegung Robert Michels [ Robert Michels: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Neudr. d. 2. Aufl. Stuttgart 1970, S. 352] formulierte im Kaiserreich, es finde "eine beständige Amalgierung neuer Elemente mit den alten" statt. Die Führung der ÖTV wurde weder durch personelle Umbrüche erschüttert, noch verschloß sie sich langfristig sozialen Veränderungen und sozialem Wandel. Die höhere Schulbildung der Vorstandsfunktionäre und die Dominanz der Angestellten im gHV verdrängte 1964 jedoch nicht die Arbeiterkinder im Vorstand. Wertet man Gerhard Nürnbergs Vater als Arbeiter (sein Vater war angelernter Arbeiter, später Gewerkschaftsangestellter), so kamen 80% der ghV-Mitglieder aus dem Arbeitermilieu. Ingeborg Tönnesens Vater war kleiner kaufmännischer Angestellter. Nur der Vaterberuf von Gerhard Kugoth fällt als Lehrer "aus der Reihe".

Es scheint, als sei der 64er-Vorstand ein Produkt der Bildungsbestrebungen der Arbeiterbewegung selbst. Als Aufsteiger aus proletarischem Großstadtmilieu (90% der gHV-Mitglieder wurden in der Großstadt geboren) benutzten sie ihre verbesserte Ausbildung als "Sprungbrett", um innerhalb der Gewerkschaftsbewegung auf sich aufmerksam zu machen. Ohne daß eine "höhere Macht" sie steuerte, wählten und ergänzten die Gewerkschaftsgremien der ÖTV ihre Männer und Frauen, die sich dem gesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Wandel "ihrer Zeit" stellen mußten: Die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehung der Bundesrepublik 15 Jahre nach ihrer Gründung erforderte "andere Menschen" als die Gewerkschaftskämpfe der zwanziger, dreißiger und fünfziger Jahre.

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Zur Quellenlage



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Gedruckte Quellen

Die Arbeit über führende Persönlichkeiten der ÖTV und ihrer Vorläufergewerkschaften steht in der Tradition der "klassischen" Gewerkschaftsgeschichtsschreibung, die auch in jüngster Zeit gepflegt wurde. Wie bei Festschriften aus der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung üblich, wird auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat verzichtet. Gleichwohl wurde "wissenschaftlich" gearbeitet. Alle erhaltenen Verbandszeitschriften, die gedruckten Protokolle aller Verbandstage und aller Verbandskonferenzen wurden durchgesehen. Diese Durchsicht machte den "Löwenanteil" des Quellenstudiums aus. Die meisten Fakten konnten aus den Protokollen, Verbandszeitschriften, Branchenprotokollen und gewerkschaftlichen Fachblättern gewonnen werden. Dies gilt vor allem für die Zeit vor 1933. Es waren nicht nur Geburtstagsartikel und die Würdigung von Jubilaren ("40 Jahre Verbandsmitgliedschaft"), sondern vor allem die lokale Berichterstattung der Zahlstellen, Verwaltungsstellen, Orts- und Zweigvereine, die für die frühe Zeit in der Gewerkschaftsbewegung die "Masse" der Fakten über gewerkschaftliche Funktionen bot. Die Berichterstattungskultur der Gewerkschaftspresse war stark lokal ausgerichtet. Breiten Raum gaben die Redakteure den Meldungen über die jährlichen Mitgliederversammlungen (oder Delegiertenversammlungen), die meist im Januar oder Februar stattfanden.

Kamen prominente Gewerkschafter aus anderen Gewerkschaften (Louis Brunner und Albin Mohs waren Drechsler, Mohs fungierte u.a. als Redakteur der organisierten Fleischer, Fritz Müntner kam aus der Sattlerbewegung), wurden ebenfalls vollständig die relevanten Verbandsblätter der "fremden" Einzelverbände ausgewertet, soweit es sie heute überhaupt noch gibt. Dies war vor allem für die Zeit vor 1913 (vor Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig) nicht immer der Fall.

Die Auswertung der Verbandszeitschriften - für jeden an der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung Interessierten immer noch lohnend - waren ohne Zweifel das ergiebigste Quellenstudium. Besonders bei den kleinen, freigewerkschaftlichen Beamtenverbänden zählte die Durchsicht der Verbandszeitungen zu den einzigen Möglichkeiten, wichtige Informationen zu erlangen. Schlug dieser Versuch fehl, so scheiterten in der Regel alle anderen Wege. Punktuell wurde die sozialdemokratische Presse ausgewertet. Dies gilt vor allem für das "Hamburger Echo", den Berliner "Vorwärts" und die Stuttgarter "Schwäbische Tagwacht". Gezielt wurden auch Artikel aus der Tageszeitung der christlichen Gewerkschaften "Der Deutsche" herangezogen. Selbstverständlich gehörte es zum "Pflichtenheft", eine vollständige Auswertung des "Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands", bzw. der "Gewerkschaftszeitung. Organ des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes" vorzunehmen. Kein Gewerkschaftsforscher kommt ohne die Publikationen des "Vereins Arbeiterpresse" aus. In dem Jahrbuch für Partei- und Gewerkschaftsangestellte 1. Folge: 1908, 2. Folge: 1910 und dem Handbuch des Vereins Arbeiterpresse (= Neue Folge des Jahrbuchs für Partei- und Gewerkschaftsangestellte, 3. Folge: 1914, 4. Folge: 1927) finden sich knapp 5.000 Angaben über Angestellte in der SPD und der freien Gewerkschaftsbewegung (einschließlich der Geburtsdaten). Mit Hilfe des Handbuches konnte meist erst der biographische Faden aufgenommen und verfolgt werden. Zahlreiche, ergänzende Informationen bergen die "Mitteilungen des Vereins Arbeiterpresse" (1904-1913).

Eine systematische Durchsicht der "Konsumgenossenschaftlichen Rundschau", der "Ortskrankenkasse" und der "Deutschen Krankenkasse" brachten viele Details von Funktionären ans Tageslicht (August Müller, Richard Nürnberg) die neben dem gewerkschaftlichen Engagement ein weiteres "Standbein" in den Selbstverwaltungsorganen hatten. Selbstverständlich wurden die gedruckten Materialien der internationalen Berufssekretariate ausgewertet wie die Protokolle der Verbandstage der gewerkschaftlichen Dachverbände.

Für die Zeit nach 1945 war es natürlich das "ÖTV-Magazin" (nebst Vorläufern) und die Geschäftsberichte der ÖTV die Hauptquellenbasis. Für die Zeit von 1946 bis 1949 boten die regionalen Informationsblätter der Vorläuferorganisationen der ÖTV sowie die Zentralorgane der regionalen Gewerkschaftsbünde, die erste Spuren nach Krieg und Faschismus. Papierknappheit verhinderte allerdings in den Bundeszeitungen eine gründliche Berichterstattung über das lokale und regionale Gewerkschaftsleben der organisierten Mitglieder in den Bereichen öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr. Die Zeit 1945 bis 1950 gehört zu den dunkelsten Flecken der Gewerkschaftsgeschichte. So ist es in vielen Fälle leichter, etwas über "kleine" Funktionäre im Berlin der frühen neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu erfahren, als über den gewerkschaftlichen Werdegang der einzelnen Mitglieder des geschäftsführenden Hauptvorstands der ÖTV in der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Auswertungen der Lokalzeitungen ("Frankfurter Rundschau", "Hamburger Morgenpost" etc.) halfen in der Regel nicht weiter, weil die Gewerkschaftsberichterstattung in den Zeitungen merkwürdig blaß und unvollkommen blieb und auf den heutigen Betrachter sehr zufällig wirkt. Für wenige Spitzenfunktionäre der Gewerkschaft ÖTV und ihrer Vorläuferorganisationen finden sich mehr oder weniger vollständige Biographien in anderen Nachschlagewerken. Zählt man allerdings alle Vorkriegs- und Nachkriegslexika zusammen, kommt man höchstens auf ein Dutzend Biographien, auf die der Gewerkschaftsforscher der ÖTV aufbauen kann. Zu den wichtigen Lexika mit Gewerkschaftsbiographien zählen: "Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens". Berlin 1931-1932. Franz Osterroth: "Biographisches Lexikon des Sozialismus". Bd. 1: "Verstorbene Persönlichkeiten". Hannover 1960. Wichtig auch die Handbücher des Reichstages, der Länderparlamente und des Deutschen Bundestages. Nach wie vor zum Standard zählen: "Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung. Biographisches Lexikon". Berlin 1970; Max Schwarz: "MdR. Biographisches Handbuch der Reichstage. Hannover 1963; Wilhelm Heinz Schröder: "Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918"; "Wer ist's" mit allen Jahrgängen.

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Archivalische Quellen

Das im Hinblick auf Gewerkschaftsbiographien mit weitem Abstand informationsreichste Archiv ist das Staatsarchiv Hamburg. Die Hamburger Polizeibehörden praktizierten bis 1918 eine relativ liberale Überwachungspraxis gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung, bauten jedoch ein Informationssystem über einzelne Persönlichkeiten und Organisationen auf, das heute noch atemberaubend wirkt und in Deutschland einzigartig ist. Indizien sprechen dafür, daß die Hamburger Behörden mit ihrem gut dokumentierten Überwachungssystem preußischen Pressionen während des Sozialistengesetzes begegnen wollten. Die Überwachungspraxis entwickelte sich ab 1890 zu einer Art Selbstläufer. Mit der Integration der organisierten Arbeiterschaft in den Staat zu Beginn des I. Weltkrieges bekam das Informationssystem Löcher; die Überwachungspraxis handhabten die aufsichtsführenden Polizisten lasch. 1918 beendeten sozialdemokratische Senatoren die Überwachung der Arbeiterbewegung und ihrer Persönlichkeiten. Vor dieser Zeit legten die Polizeibehörden von jedem einzelnen Vorstandsmitglied der Hamburger Einzelgewerkschaften eine Personalakte mit sehr gut recherchierten Personaldaten an und fügten Unterlagen über die Funktionen innerhalb der Arbeiterbewegung hinzu. Als verblüffend "modernes" Dokumentationssystem fügten die Behörden Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitte über die betreffenden Personen bei. Von "auswärtigen Agitatoren" holte der Staatsschutz Personalinformationen ein. Ohne diese Art der Überwachungspraxis wäre z.B. der Lebenslauf des Redakteurs der organisierten Eisenbahner, Albert Dräger, völlig unklar geblieben. Über jede Gewerkschaftsversammlung wurde peinlich genau berichtet, oft der gedruckte Versammlungsbericht aus dem "Hamburger Echo" beigelegt. Die Materialfülle wirkt beeindruckend und bedrückend zugleich. Der Bearbeiter schwankte als Verfechter liberaler Freiheitsrechte und als neugieriger Historiker permanent zwischen Faszination und Entsetzen. Da die freigewerkschaftlichen Hafenarbeiter, Seeleute, Friseure, Gärtner und Masseure lange in Hamburg residierten, war die biographische Ausbeute in Hamburg ungewöhnlich hoch. Die Hamburger archivalischen Quellenbestände bildeten das Rückgrat für den älteren Teil der Arbeit.

So gut die Quellenlage für Hamburg ist, so schlecht ist sie für Berlin. Die preußische Polizei überwachte die "anarchistische und sozialdemokratische Bewegung" scharf, die Gewerkschaftsbewegung hingegen nur mit eingeschränkter Aufmerksamkeit. Die schriftliche Dokumentation der Überwachungspraxis für die preußischen Länder - als Beispiel können die Quellen im Landesarchiv Schleswig gelten - war dürftig und gibt für die biographisch-historische Forschung nicht viel her. Dennoch wurden punktuell auf der Basis der gedruckten Bestandsverzeichnisse, deren Erstellung in der DDR vor 1989 viel Beachtung geschenkt wurde, Überwachungsakten eingesehen. Ohne die entsprechende Polizeiakte des Lokalisten Johannes Rein im Landesarchiv Potsdam wäre dessen Schicksal, das so symptomatisch für die lokalistische Bewegung ist, weitgehend unbekannt geblieben. Als recht erfolgreich erwies sich der Aktenbestand "Vorläufiger Reichswirtschaftsrat" im Bundesarchiv, Abteilung Potsdam. [ Die Mitglieder des Reichswirtschaftsrates sind verzeichnet in: "Der vorläufige Reichswirtschaftsrat 1927-1933. Herausg. von dem Büro des vorläufigen Reichswirtschaftsrats. Berlin 1933.] Die deutschen, christlichen und freien Gewerkschaften erhofften sich viel von der Wirtschaftskammer, die nach der Novemberrevolution ins Leben gerufen wurde. Ihre Erwartungen wurden getäuscht; die Kammer erlangte nie eine große Bedeutung. Das ständeähnliche Wirtschaftsparlament selbst gab nie ein gedrucktes Handbuch heraus, wie es bei anderen politischen Parlamenten in Deutschland zum Standard gehörte. Die Erhebungen zu einem solchen geplanten Handbuch haben sich jedoch in Potsdam erhalten. Interessanterweise sind im Potsdamer Bestand Personenbilder überliefert, die sonst nirgendwo zu finden sind. Die ersten Spuren des Lebensweges Wilhelm Kempners, der im "Gesamtverband der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs" die Kleinbahner vertrat, hätten ohne die Potsdamer Akten nicht aufgenommen werden können.

Für Weimarer Biographien konnten einzelne zentrale Aktenbestände im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn und im ehemaligen FDGB-Archiv (heute: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv) eingesehen werden. Vor allem der Bonner ITF-Bestand und der Nachlaß Walter Auerbach und der Emigrationsbestand der aus Deutschland vertriebenen Sozialdemokratie (SOPADE-Bestand) sind herauszustreichen. Enttäuschend endeten aufwendige Bemühungen, die Personalakten der ehemaligen, beamteten Kollegen in der Weimarer Republik einzusehen. Die Suche in Landesarchiven, Oberpostdirektionen etc. war vergeblich. Nur ein Disziplinarverfahren gegen den ehemaligen, gewerkschaftlichen Polizeivorsitzenden Andreas Klemm, 1931 eingeleitet durch den thüringischen Nazi-Minister Fricke, zeugt im Thüringischen Landesarchiv in Jena von den Aktivitäten der freigewerkschaftlichen Beamten. Gewisse Hinweise konnten auch den "Rentenakten" entnommen werden, die 1938 entstanden waren, als die Deutsche Arbeitsfront signalisierte, ehemalige Gewerkschaftangestellte könnten mit einer Art Entschädigung rechnen. Diese Unterlagen sind für Interessierte heute im Bundesarchiv Koblenz einzusehen. Militärpersonalunterlagen (Stammrollen, Ranglisten, Wehrstammbücher u.a.) für die Zeit des I. Weltkrieges sind durch Kriegseinwirkungen fast alle verloren gegangen. Im Krankenbuchlager in Berlin haben sich jedoch Unterlagen über Lazarettaufenthalte erhalten, die manch wichtige Aussage machen. Die Abfrage beim Krankenbuchlager gehörte zur biographischen Abfrageroutine.

Für die Zeit nach 1945 bildeten die Personalakten bei der Hauptverwaltung der Gewerkschaft ÖTV in Stuttgart die zentrale Quellenbasis. Unter Beachtung bestehender Datenschutzbestimmungen konnte ein Teil dieser Akten eingesehen werden. Dieser sensible - streng geschützte Bestand - birgt viele handschriftlichen Lebensläufe, die über das Schicksal der Gewerkschafter Auskunft geben, die vor 1933 unspektakulär in der 2. Reihe der Gewerkschaftsbewegung gestanden hatten. Viele wichtige Hinweise entnahm ich auch den noch vorhandenen Quellen in den einzelnen Bezirksverwaltungen der Gewerkschaft ÖTV, wobei der gedruckte Bestand in den Bezirksverwaltungen (Geschäftsberichte etc.) höher zu bewerten ist, als das erhalten gebliebene ungedruckte Material. Eine weitere Aktengruppe spielte ebenfalls eine herausragende Rolle. Es handelt sich um die Entnazifizierungsakten, die nach Ablauf der Schutzfrist der Forschung weitgehend zur Verfügung stehen. Die Verantwortlichen in den Ministerien und Archivverwaltungen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg kamen dem Wunsch auf Akteneinsicht liberal entgegen. Andere Bundesländer (Rheinland-Pfalz) sahen sich wegen fehlender, gesetzlicher Bestimmungen nicht im Stande, entsprechende Genehmigungen zu erteilen. Die stichwortartigen und knappen Ausführungen in den Entnazifizierungsakten lassen erkennen, welche Schicksale einzelne Gewerkschafter in der Zeit von 1933 bis 1945 erdulden mußten. Nach 1945 sprachen die Betroffenen kaum mehr über diese Zeit. Ein enger Mitarbeiter Heinrich Davidsens teilte beispielsweise mit, sein Chef habe als Hamburger Bezirksleiter nie ein persönliches Wort über diese für ihn so schreckliche Zeit verloren. Die Haftstrafen des Widerstandskämpfers Davidsens seien in der ÖTV-Bezirksverwaltung in Hamburg unbekannt geblieben. Natürlich waren auch die Prozeßakten - verstreut in verschiedenen Archiven - von unschätzbarem Wert, um Verfolgung und Widerstand aus den Reihen der Vorläufergewerkschaften der ÖTV dokumentieren zu können. Die deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen, deutschen Wehrmacht konnte von allen ÖTV-Hauptvorstandsmitgliedern, die eingezogen wurden, die Stationen eines leidvollen Weges nachzeichnen. Natürlich wurden auch in diesen Fällen die Persönlichkeitsrechte von Lebenden gewahrt. Die Suchstelle des Deutschen Roten Kreuzes in München half unerwartet in verschiedenen Fällen. In jüngster Zeit verfilmte die Münchner Dienststelle russische Akten, die das Schicksal der in russischen Straflagern der ehemaligen SBZ einsitzenden "Feinde" aufklärt. Mit Hilfe der russischen Quellen konnte belegt werden, daß der im "Gesamtverband" für Beamtenfragen zuständige Kollege Julius Scherff 1947 in einem russischen Straflager starb, nachdem ihm wenige Jahre vorher Nationalsozialisten Arbeit und Gesundheit genommen hatten.

Alle Namen (so weit es vom Alter her sinnvoll erschien) liefen zur Überprüfung durch das Document-Center in Berlin. Im lange von der amerikanischen Besatzungsmacht verwalteten Zentrum werden die Mitgliederunterlagen der Nazi-Organisationen verwahrt. Es finden sich allerdings auch Zeugnisse von Überwachungsstellen der Nazi-Behörden, die die Schikanen gegen Gewerkschafter belegen. Die Ergebnisse dieser Recherchen gehören zweifelsohne zum Ruhmesblatt der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Von allen untersuchten katholischen christlichen Gewerkschaftern hatte nur ein ehemaliger Kollege ein NSDAP-Mitgliedbuch besessen. Von allen überprüften Funktionären der freien Gewerkschaften hatten nur 2 Mitglieder 1943 ihre Aufnahme in die NSDAP beantragt. Max Gillmeister hätte seinen Gemüseladen in Berlin ohne einen entsprechenden Antrag wohl schließen müssen. Das gleiche galt für den Selbständigen Rudolf Lengersdorff. Der Redakteur des ÖTV-Magazins Rudolf Vater war ohne sein Wissen als NSDAP-Mitglied aufgenommen worden. In einem Entnazifizierungsverfahren wurde er glänzend rehabilitiert: Seine antinazistischen Dichterlesungen im besetzten Norwegen kosteten ihn 1945 fast den Kopf. Ein untersuchter ÖTV-Fuktionär stellte einen Aufnahmeantrag in die NSDAP, dem wegen seiner sozialdemokratischen Vergangenheit nicht stattgegeben wurde. Die totale Immunität des Funktionärskörpers der Gewerkschaften gegenüber der Nazi-Ideologie gehört zu den zentralen Ergebnissen der Arbeit. Dieser Beweis allein hat alle Mühen gelohnt. Nur ein protestantischer Funktionär der ehemaligen christlichen Gewerkschaften zeigte eine deutliche Nähe zur Nazi-Ideologie, zwei weitere protestantische Gewerkschaftsfunktionäre der christlichen Gewerkschaften stellten einen erfolgreichen Aufnahmeantrag. Diese Sachverhalte werden in den entsprechenden Biographien nicht verschwiegen. Sie schmälern das Gesamtbild keinesfalls.

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Zu den Sammlungen

Neben den gedruckten und archivalischen Quellen müssen Sammlungen als dritte Quellengattung genannt werden. Sie bestehen in der Regel aus sachlich zusammengestellten Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen, angereichert durch Broschüren, kleineren, archivalischen Quellengattungen (Fragebögen etc.). Zur wichtigsten Dokumentation für das ÖTV-Gewerkschaftsprojekt muß die Sammlung Personalia im Archiv der sozialem Demokratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung gezählt werden. In diese riesengroße Sammlung gingen einzelne Teilsammlungen ein, die allerdings alle erst nach 1945 entstanden sind. Nach dem ökonomischen "Ende" des Berliner "Telegraf" holten die Bonner Archivare das Zeitungsarchiv des sozialdemokratischen Blattes von der Spree an den Rhein. In das alte Telegrafarchiv floß vollständig die verzettelte Berliner Presse und andere Zeitungsausschnitte sozialdemokratischer Organe ein. Hinweise auf das Schicksal einzelner, die nach 1946 zur SED und später zum FDGB stießen, konnten in vielen Fällen durch die Bonner Sammlung geklärt werden, weil in die Dokumentation auch die kommunistische Presse einging.

Die Spuren des ehemaligen, christlichen Gewerkschafters Hans Brune blieben lange verschüttet. Erst durch die Bonner Sammlung kam ans Tageslicht, daß Brune nach dem Krieg "die Seite gewechselt" hatte und als sozialdemokratischer Abgeordneter im rheinland-pfälzischen Landtag saß. Weitere Sammlungen von Bedeutung waren die Personensammlung des DGB in Düsseldorf (jetzt: Archiv der sozialen Demokratie), die Sammlung des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs, die Sammlungen des Bundesarchivs, Abteilung Potsdam , die Sammlungen im Staatsarchiv Hamburg und die Sammlungen im ehemaligen FDGB-Archiv und die Gartenbau-Dokumentation an der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin. Punktuell wurden die Sammlungen regionaler Tageszeitungen in allen Teilen Deutschlands befragt.

Oft widersprechen sich die verschiedenen Quellen. Selbst handschriftliche Lebensläufe, innerhalb weniger Jahre abgefaßt, differierten in entscheidenden Punkten. Das menschliche Gedächnis ist kurz und wählt selektiv aus. Bei jeder Einzelheit wurde der sicheren Quelle (Standesamteintragung etc.) der unsicheren Quelle (Nachruf in einer Zeitung etc.) der Vorzug gegeben. Dennoch lassen sich in einem Nachschlagewerk mit tausenden von Daten falsche Angaben nicht vermeiden, wenn nur eine einzige Quelle existiert. Bei ungewissen Angaben und Zahlen wurden diese in eckigen Klammern gesetzt.

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Datenschutz und Geschichtsschreibung

Als der gelernte Sattler Max Schwarz vor über 30 Jahren sein zentrales Standardwerk "MdR. Biographisches Handbuch der Reichstage" verfaßte, hatte er zu seiner Zeit ungehinderten Zugriff zu allen Daten. Sein literarischer Nachlaß zeigt, daß er selbst Nachrichtendienste der Bundesrepublik ungehindert nutzen konnte, um an Geburtsdaten, Väterberufe, Sterbedaten zu gelangen. Niemand nahm Anstoß daran, diese Anfragen vorzunehmen und ungehindert Auskünfte zu erteilen. Die Situation hat sich in den letzten Jahren deutlich zu Gunsten der Schutzwürdigkeit persönlicher Daten verändert. Die erweiterte Rechtsprechung zum Datenschutz, ein geschärftes Bewußtsein der Bürger und tätige Maßnahmen des Gesetzgebers haben in den achtziger Jahren die Rechte des einzelnen, aber auch den Datenschutz für tote Persönlichkeiten, beträchtlich erweitert. So wichtig und fortschrittlich die neuen Gesetze waren, die Interessen der wissenschaftlich-biographischen Forschung blieben jedoch völlig unberücksichtigt. Selbst Geburts- und Sterbedaten waren von den Einwohnermeldeämtern nicht mehr abzufragen. Nur mit der Erlaubnis von Nachkommen konnte man Zugang zu den wichtigen Daten bekommen, auf die man nach der Ermittlung von Nachkommen sowieso verzichten konnte.

Es bedurfte der massiven Intervention einer Wissenschaftslobby, daß bei der Novellierung der Datenschutzgesetze wenigstens "Wissenschaftsparagraphen" eingezogen wurden. [ S. Bundesdatenschutzgesetz. Mit Datenschutzveröffentlichungsordnung. Mit einer Einführung von Klaus Kröger. 2. Aufl. München 1988.] Sie ermöglichten - bei hinreichendem Nachweis des Forschungsinteresses - wenigstens bei den Einwohnermeldeämtern den Zugriff zu gewissen Basisdaten (Geburts- und Sterbedatum). Anfragen zu Väterberufen - eine zentrale Kategorie biographisch-historischer Forschung - brauchen allerdings nicht beantwortet zu werden, obgleich einzelne Einwohnermeldeämter die Praxis großzügig handhaben. Keinen "Wissenschaftsparagraph" enthalten indes die Personenstandsgesetze. Standesämter brauchen generell an Forschende keine Auskunft zu geben. Von leitenden Ministerialbeamten eher als ein "Versehen" eingeschätzt, hat der Mangel entsprechender, gesetzlicher Vorschriften für die Suche nach dem Schicksal verschollener Gewerkschafter fatale Folgen: Der Nachweis, für die Gewerkschaft ÖTV Sterbedaten ihrer ehemaligen Vorstandsmitglieder zu suchen, genügt nicht als hinlänglicher Grund, um Auskünfte zu erlangen.

Seit 1938 müssen Sterbedaten der nach 1875 Geborenen an das Geburtsstandesamt zurückgemeldet werden. Diese Vorschrift war für viele biographische Lexika die zentrale Grundlage, auf deren Basis Bearbeiter Todesdaten abfragen konnten. Vor allem für Verfolgte des Naziregimes gab es gute Möglichkeiten, das Todesdatum aufzuspüren, mußten doch die Verfolgten oftmals die Großstädte verlassen, schlüpften in kleineren Gemeinden unter und starben unerkannt als Verfemte. Die restriktive Auskunftspraxis vieler Standesämter wird allerdings nicht einheitlich gehandhabt. Vor allem kleinere Standesämter gaben bereitwillig Auskunft. Schmerzlich war jedoch der Rückzug vieler Großstadtstandesämter auf die Vorschriften. Besonders schwierig ist die Lage in Berlin. Die Meldeakten der Hauptstadt gingen Ende des Weltkrieges fast vollständig in den Kriegswirren verloren. Da die wichtigsten Personen der Vorläufergewerkschaften der ÖTV 1933 in Berlin wohnten, ergibt sich eine ungewöhnlich schwierige Situation. Eine Zentraldatei der Standesämter existiert für Berlin nicht. Standesamtsdaten werden bezirksweise verwahrt. Über die einschlägigen gedruckten Adreßbücher wurde versucht, in etwa das Todesjahr "einzukreisen" und die Bezirksstandesämter um Hilfe gebeten. Manche Bezirksstandesämter gaben bereitwillig Auskunft, andere verweigerten sie. Die Praxis ist uneinheitlich und wenig befriedigend. Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres erlaubte in begründeten Einzelfällen - jenseits der einschränkenden Gesetzeslage - kostenpflichtige Rundfragen, die wiederum nicht von allen Bezirksstandesämtern beantwortet wurden. Dennoch konnten mit Hilfe der Rundanfragen Schicksale wichtiger Vorstandsmitglieder geklärt werden. So geht aus der Todesbescheinigung Max Pauses mit ziemlicher Deutlichkeit hervor, daß der ehemalige Transportarbeiter nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in tiefer Verzweiflung seinem Leben ein Ende bereitete. Die Lebensdaten des letzten Vorsitzenden der "Allgemeinen Deutschen Postgewerkschaft", Carl Uhr, konnten ebenfalls auf dem Wege der Rundfrage ermittelt werden.

Die gewachsenen Schwierigkeiten für den Historiker im Spannungsfeld Bürgerrechte/Wissenschaft wurden nach 1989 nach dem Fall der Mauer mehr als kompensiert. Das Schicksal vieler Gewerkschafter, die für die Vorläuferorganisationen der ÖTV Leib und Leben riskiert hatten, konnte nach der Wende aufgeklärt werden. Als typischer Fall sei das Vorstandsmitglied des "Gesamtverbandes" Ferdinand Bender genannt. Alle Forscher, die die Sterbedaten des ehemaligen Reichstagsabgeordneten ermitteln wollten, waren bislang gescheitert oder hatten falsche Daten genannt. Ohne die Hilfe der ehemaligen "Urkundenstellen" und die überdurchschnittliche Hilfsbereitschaft der Angestellten in den Einwohnermeldeämtern in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern hätte das vorliegende Nachschlagewerk in dieser Form nicht geschrieben werden können.

Das Führungspersonal der Vorläufergewerkschaften rekrutierte sich in hohem Maße aus den ostdeutschen Gebieten. Recherchen im heutigen Polen hatten nur in einem Fall Erfolg. Sprachprobleme, komplizierte Rechtsvorschriften und der Verlust der Beurkundungen ließen manche, vielversprechenden Ansätze scheitern.

Natürlich ist jede Lücke "harter Daten" in einem Biographienband bitter. Als besonders schwergewichtig hat der Bearbeiter zwei Fälle empfunden. Eine dreijährige Suche nach dem Todesdatum des 2. Vorsitzenden des "Gesamtverbandes", Otto Becker, blieb ohne Erfolg. Die Spur seines Sohnes, selbst ein aktiver Gewerkschafter, verliert sich 1968 bei der Berliner Friedhofsverwaltung. Nachkommen der nächsten Generation waren nicht zur ermitteln. Alle anderen Versuche verliefen ebenfalls im Sande. Noch unglaublicher ist der Fall des ehemaligen Chefredakteurs des "Gesamtverbandes". 1946 stieß Emil Dittmer, einer der bedeutendsten Erwachsenenbildner der Weimarer Republik, zur SED. 1948 feierte die kommunistische Presse seinen 70. Geburtstag als Lehrer an der Gewerkschaftsschule in Bernau. Danach verliert sich seine Spur. Kein Einwohnermeldeamt, keine Kartei der ehemaligen Massenorganisationen der DDR verzeichnet sein Schicksal. Weder das Deutsche Rote Kreuz, noch die Karteien des ehemaligen Ostbüros der SPD in der Friedrich-Ebert-Stiftung sagen etwas aus. Selbst der briefliche Kontakt zu allen, in Berlin lebenden Dittmers blieb ohne Ergebnis. Zwei Familienforscher, die sich der Schicksale der in Berlin weitverzweigten Dittmers annehmen, mußten ebenfalls passen. Die knappe Skizze dieses Rechercheweges mag einen Einblick vermitteln, was sich hinter einzelnen Schicksalen an Mühe verbirgt.

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Danksagung

Bio-bibliographische Projekte, die sich über mehrere Jahre hinziehen, sind ohne fachliche und menschliche Hilfe nicht denkbar. Eine große Zahl Verwaltungsangestellter in Einwohnermeldeämtern und Standesämtern, Archivare in kommunalen und staatlichen Archiven, Bibliothekare und Bibliothekarinnen, Freunde und Familienmitglieder haben geholfen. Der Autor - selbst Bibliothekar - weiß um die stillen Hilfeleistungen, ohne die wissenschaftliches Arbeiten nicht möglich ist. Auf den Schultern der vielen ungenannten Helfer und Helferinnen ruhte die Hauptarbeit bei der Zulieferung der "harten Daten". Die einzelnen Einrichtungen sind im bibliographischen Anhang genannt.

Besonders herzlichen Dank schulde ich Herrn Dr. Matthias John von der Universität Leipzig. Sein biographisches Nachschlagewerk über die Delegierten der sozialdemokratischen Preußentage kam nach der Wende ins Stocken. Bei mehreren Persönlichkeiten, die in Gewerkschaft und der SPD gleichermaßen aktiv waren, überschnitten sich unsere Interessen. Durch den Austausch ganzer Biographien versuchten wir, uns gegenseitig zu helfen. Von Herrn Dr. John stammt der Basistext der Biographien von Carl Alboldt, Ida Baar, Ferdinand Bender und Oswald Grauer. Herrn Dr. Johns vollständige Auswertung aller preußischen, sozialdemokratischen Tageszeitungen - vor allem des "Vorwärts" - flossen vollständig in das ÖTV-Projekt ein. Seine Spezialkenntnisse der ostdeutschen Archivszene half viele offene Fragen zu klären. Zeitweise hatte Herr Dr. John die Funktion eines festen Außenmitarbeiters. Herr Dr. Wilhelm Heinz Schröder, der Verfasser des Standardwerkes "Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten" stellte die Materialien seiner Datenerhebungen für dieses und seine Folgeprojekte uneigennützig zur Verfügung. Von besonderer Hilfe waren die Vorabkopien seiner Arbeit über sämtliche sozialdemokratische Landtags- und Reichstagsabgeordnete bis 1933. Herr Professor Siegfried Mielke trennte sich sofort von all seinen vorhandenen biographischen Unterlagen, die in seinem Berliner Institut bei der Edition "Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert" entstanden waren. Im Band 6 der Edition - "Organisatorischer Aufbau der Gewerkschaften 1945-1949" - sind nur die harten Daten abgedruckt. Die Unterlagen, die sein Forschungsteam gesammelt hatte, gehen weit über das hinaus, was letztlich veröffentlicht wurde.

Stellvertretend für alle Archivare sei Herrn Claus Stukenbrock vom Staatsarchiv Hamburg gedankt. Seine unvergleichlichen Kenntnisse der einschlägigen Bestände der Hamburger Polizeibehörden, seine Fähigkeit, alle gedruckten und ungedruckten Verzeichnisse zu befragen, seine Sympathien für Biographienprojekte der Arbeiterbewegung haben zu Ergebnissen geführt, die Außenstehende kaum zu schätzen wissen.

Frau Petra Rau und Frau Irmgard Bartelt von der Fernleihstelle der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung haben ein Gutteil der Fernleihbestellungen realisiert, die nötig waren, um einschlägige Literatur aus in- und ausländischen Bibliotheken nach Bonn auszuleihen. Frau Prochnow von der Berliner Senatsverwaltung für Inneres half, schwierige Hürden bei Rundanfragen bei den Berliner Standesämtern zu überwinden. Die beiden Berufskolleginnen Ingrid Ankenbrand in Berlin und Angela Graf in Hamburg gewährten nicht nur Heimstatt bei längeren Bibliotheks- und Archivaufenthalten in den beiden größten, deutschen Städten. Ihre Geduld und die Fähigkeit, die allabendliche Freude und den Frust ihres Bonner Besuchers zu teilen, waren mehr Wert als manche bislang unentdeckte Quelle. Angela Graf - selbst Verfasserin einer großen biographischen Arbeit - vermittelte als Hamburgerin viel vom Hintergrund der alten Gewerkschaftshauptstadt, in der so viele der in diesem Nachschlagewerk Gewürdigten lebten und wirkten.

Dieter Schneider, dem "Vater" dieses biographischen Projektes, danke ich dafür, mich in das Gewerkschaftsprojekt einzubinden. Walter Nachtmann, der an seine Stelle als Projektleiter trat, hatte mit dem fernen Mitarbeiter mehr Mühe, als ihm sicherlich recht war. Er wird hoffentlich manche läßliche Sünde verzeihen. Lea und Irene haben die jahrelange Arbeit am vorliegenden Band oft beklagt und mehr Zeit für sich sich gewünscht. Ihre Solidarität und ihre Hilfe in entscheidenden Stunden machten meine mangelnde Gelassenheit oft wett. Till und Joss haben das Projekt mit neugieriger Distanz verfolgt. Edith Lautz half, das Schicksal Darmstädter Gewerkschafter zu klären. Die größte Hilfestellung erfuhr ich von Margarete Fischer. Ihre "Übersetzung" von vielen hundert Seiten aus diversen Staatsarchiven, ihre Intuition, sich in schier unlesbare Handschriften Hamburger Polizeiberichte einzulesen, waren von unschätzbarem Wert. Als Bergarbeiterwitwe, deren Mann unter Tage seine Gesundheit verlor, war es ihr nicht unbekannt, was sie in vielen Polizeidossiers vorfand. Dank all den Männern und Frauen, die in den letzten Jahren mit mir Erfahrung, Kraft, und Hoffnung teilten. Ihnen sei die vorliegende Arbeit gewidmet.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1998

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