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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
25. Sept. 1979

Der SPD-Parteivorsitzende W. Brandt veröffentlicht im VORWÄRTS einen Beitrag, in dem es u. a. heißt: „Die Befreiung Nicaraguas von der Diktatur gibt den in Unterdrückung und Armut gehaltenen Völkern Mittel- und Südamerikas neue Hoffnung. Die Zeit der autoritären, menschenvernichtenden Regime scheint auch in dieser Region endlich unterbrochen zu werden oder sogar dem Ende zuzugehen.

Nicaragua hat auf dramatische Weise deutlich gemacht, wo die zentralen politischen und wirtschaftlichen Probleme der meisten lateinamerikanischen Länder liegen. Zwar haben sie beinahe alle ihre Selbständigkeit als Nationen erreicht, aber bis zum heutigen Tag haben sie sich kaum aus einem starken Netz von Abhängigkeiten und Ausbeutung befreien können. Immer wieder wurden in diesen Ländern Ansätze zu einer sozialen, ökonomischen und kulturellen Emanzipation verhindert. Die technologische Abhängigkeit von den großen Industrienationen und die zum Teil auch direkten politischen Eingriffe multinationaler Unternehmen haben diese Situation eher noch schlimmer gemacht. In vielen Ländern herrschen, gestützt auf eine unheilige Allianz von Geldadel und Praetorianer-Garden, blutige Militärdiktaturen.

Die westlichen Industrienationen haben sich in der Vergangenheit leider zu oft davon leiten lassen, ihre kurzfristigen ökonomischen Interessen durch die Zusammenarbeit mit einer dünnen Oberschicht zu wahren. Dies hat großen Schaden angerichtet.

Praktische Solidarität mit Lateinamerika, das heißt vor allem: Mitwirken am Aufbau einer neuen internationalen Ordnung, die den wirtschaftlichen Interessen aller Beteiligten – der Entwicklungs- wie der Industrieländer – angemessen ist.

Die Sozialistische Internationale wird ihr politisches Interesse an und ihr moralisches Engagement in dieser Region weiter verstärken. Wir möchten der Einsicht zum Durchbruch verhelfen, dass es nicht jedesmal einen langen Bürgerkrieg geben darf, bevor die Demokratie eine Chance erhält . Leonel Brizola und anderen führenden Persönlichkeiten der demokratischen Opposition, die bestrebt sind, ihrem Land eine neue Perspektive der sozialen Demokratie zu geben, wünschen wir bei ihrem Vorhaben viel Glück. Sie können sich auf unsere Verbundenheit verlassen. Auf die Unterstützung demokratischer Sozialisten in aller Welt können auch unsere Freunde in Ecuador, Peru und Bolivien zählen, die vor der schwierigen Aufgabe stehen, für die demokratische Erneuerung in ihren Ländern zu arbeiten.

In Ecuador hat die ,Izquierda Democrática’ einen wichtigen Beitrag dazu leisten können, dass ihr Land seit August dieses Jahres wieder über eine verfassungsmäßige und demokratisch gewählte Regierung verfügt, die sich eine Politik sozialer Reformen vorgenommen hat. In Peru steht die APRA nach dem Tod ihres langjährigen Führers Victor Raúl Haya de la Torre vor der schwierigen Aufgabe, im Prozess des politischen Wandels eine überzeugende Alternative demokratischer Reformpolitik und sozialer Verbesserungen zu entwickeln. In Bolivien hat sich gezeigt, dass für den Wiederaufbau demokratischer Strukturen eine mehrheitsfähige demokratische Kraft notwendig ist. So bleibt in allen drei Ländern noch ein schwieriger Weg zurückzulegen, bis neue reformorientierte Demokratien herangewachsen sein werden, die allein in der Lage wären, die schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Probleme dieser Region zu lösen.

Die nicht zu übersehenden Erfolge in einigen lateinamerikanischen Ländern dürfen uns indes nicht blind machen für die nach wie vor trostlose Situation in anderen Teilen der kontinentalen Region. Wir deutschen und europäischen Sozialdemokraten haben Konzentrationslager und Folterkeller in Chile, Argentinien und Uruguay nicht vergessen. Die Frage nach den Möglichkeiten für eine wirksame Hilfe von außen bleibt hier weiterhin schwer zu beantworten. Solange keine umfassende internationale Ächtung solcher Regime möglich zu sein scheint, bleibt uns nur, um humanitäre Hilfe bemüht zu sein und uns verstärkt für die demokratisch-fortschrittlichen Kräfte in diesen Ländern einzusetzen – und zwar solange, bis Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten wiederhergestellt sind.

Lateinamerika und die Karibik sind heute eine Region, in der das Engagement der Sozialistischen Internationale außerhalb Europas ein besonderes Echo findet. Hier zeigt sich bereits deutlich, wie lohnend die auf dem Genfer Kongress im November 1976 beschlossene Politik der Öffnung sein kann. Dabei hat uns wesentlich geholfen, dass die SI nicht nur auf jede Bevormundung ihrer Mitgliedsparteien verzichtet hat, sondern auch die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit aller internationalen Partner niemals in Frage stellte: Wir sind niemals Vormund, und wir unterstützen die Lateinamerikaner, die sich für den eigenen Weg entschieden haben. Ein demokratischer Sozialismus, der den Besonderheiten der einzelnen Länder Lateinamerikas und der Karibik angepasst ist – so lautet die Alternative zu Ausbeutung, Hunger und Unterdrückung in dieser Region der Welt. Die Forderung muss zunehmend als Aufgabe erkannt und als Verpflichtung ernstgenommen werden. Sonst drohen für Millionen von Menschen Fortschritt, Freiheit, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit in weiter Ferne zu bleiben.„


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