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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
15./16. Juni 1979

In München findet eine Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft der verfolgten Sozialdemokraten (AVS) statt. In einer Resolution fordert die AVS die Bundesregierung und die Landesregierungen auf, „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln den neonazistischen Bestrebungen entgegenzuwirken und in den Schulen einer echten Aufarbeitung des Nationalsozialismus einen breiteren Raum zu geben und dabei den Widerstand der Arbeiterbewegung stärker zu berücksichtigen.„ Alle Regierungen und Gemeindeverwaltungen werden aufgefordert, die sogenannten Traditionstreffen der SS-Verbände zu unterbinden, alle juristischen Möglichkeiten gegen ihre Aktivitäten auszuschöpfen und diese Organisationen als Nachfolgeorganisationen der verfassungswidrigen SS zu behandeln. Die AVS fordert alle Bundestagsabgeordneten auf, bei ihrer Entscheidung über die Verjährung sicherzustellen, dass Nazi-Morde auch noch nach Ablauf des Jahres 1979 verfolgt und verurteilt werden können.

In einer Rede führt W. Brandt u.a. auf der Tagung aus: „Tatsache bleibt, dass seit 1933 deutsche Arbeiter unterschiedlichen Standorts, Antifaschisten verschiedener Couleur schwer gelitten haben. Und dass viele andere sich doch nicht haben davon abhalten lassen, immer wieder schwerste Risiken auf sich zu nehmen. Darunter waren Sozialdemokraten in großer Zahl. Dessen wollen wir uns wieder stärker bewusst sein. Die große geschichtliche Würdigung des deutschen Widerstandes lässt immer noch auf sich warten. Aber es gibt mittlerweile eine Reihe guter Erinnerungsbücher. Unter denen, die „dagegen„ waren, herrschten damals durchweg Verständnis, Kameradschaft, Hilfsbereitschaft. Dies galt auch im Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Ihre Partei hatte eine schlimme Politik gemacht. Aber es entstand - wie mit verfolgten Christen - eine Einheit im Leiden, aus der die Hoffnung auf Einheit im künftigen Handeln erwuchs; sie ist von Kräften außerhalb unseres Landes zunichte gemacht worden.

Die Führung im anderen deutschen Staat soll nicht so tun, als habe sie den Widerstand gepachtet. Ich wäre der Letzte, der die unermesslichen Blutopfer kommunistischer Arbeiter und Funktionäre geringachten wollte. Aber die SPD wehrt sich nachdrücklich - und ich hoffe, auch in Zukunft - gegen jeden Monopolanspruch auf Widerstand und gegen den Missbrauch unsäglichen Leidens. Dies gilt zumal für ein Regime, das sich nicht gescheut hat, Sozialdemokraten, die gegen Hitler gekämpft haben, erneut ins Gefängnis zu stecken oder nach Sibirien schicken zu lassen. Einige mussten in dieselben Gefängnisse zurück, in denen sie unter den Nazis gesessen hatten; sie hatten 1945 die Freiheit nur für wenige Monate gesehen. Hieraus ergibt sich für mich, dass man keinen Gegensatz konstruieren darf, wo es sich um gemeinsame Opfer handelt. Aber auch, dass Sozialdemokraten sich nicht von anderen einspannen und ausnutzen lassen; das war der Sinn von Abgrenzungen, die ihren Sinn nicht verloren haben.

Im dreißigsten Jahr nach Gründung der Bundesrepublik hat es nun bisweilen den Anschein, als habe uns die Vergangenheit eingeholt. Vielleicht, dies sei in Klammern gefragt, bedurfte es dieses zeitlichen Abstandes und der Unbefangenheit nachgewachsener Generationen, damit wir uns überhaupt dieses Themas annehmen können? Wie dem auch sei: Das Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie hat Anfang dieses Jahres, im Gegensatz zu blutleeren Dokumentationen und gelehrten Diskussionen, Millionen gerührt. Mehr noch: Es hat vielen wohl überhaupt erst eine Vorstellung von der Schwere der Verbrechen gegeben, die im missbrauchten deutschen Namen begangen wurden. Berührt worden ist vor allem - ich nehme dies als eines der ermutigenderen Zeichen - die Jugend. Dies ist wichtig, denn manch kritischer Beobachter der deutschen Szene meint, Anzeichen einer zunehmenden ,Rechtsentwicklung’ zu erkennen. Auf schlimme Vorkommnisse brauche ich hier nicht noch einmal hinzuweisen.

Mich besorgt eigentlich mehr, dass Parteien, die 1949 überwiegend zur Mitte gehörten, dort nicht mehr stehen, sondern in großen Teilen abgedriftet sind. Aber vielleicht hat sich ja noch mehr verschoben? Dass Anhänger einer Ideologie, die mit millionenfachem Mord verbunden ist, wieder frech ihr Haupt erheben können, wie sie es lange nicht getan hatten, macht mich betroffen und ist empörend, mehr als ärgerlich: für das deutsche Ansehen draußen und für die innere Selbstachtung. Und dass man über die akademische Rechtfertigung von Rassenmord hinweggeht, als handele es sich um ein Kavaliersdelikt, ist eigentlich schlimmer als spät-pubertäres Trotzverhalten. Die Tradition des deutschen Widerstandes muss wachgehalten, seine Erfahrungen müssen weitergetragen werden. Wir müssen wachsam bleiben und unnachsichtig sein gegenüber menschenverachtenden Extremen. Zur Geschichte des National-sozialismus gehört der Widerstand.„


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