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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
29. Mai 1979

Der SPD-Vorsitzende W. Brandt veröffentlicht zur Lage der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik den folgenden Beitrag im „Vorwärts„, in dem es u.a. heißt:

„Wir haben den 30. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes begangen. Die Erinnerungen, Bilanzen und Würdigungen konzentrierten sich darauf, was ,unser’ Volk, ,unsere’ Arbeitnehmer, ,unsere’ Parteien, ,unsere’ Demokratie nach der Schreckensherrschaft Hitlers aus dem Elend und den Trümmern der Nachkriegsjahre aufgebaut und geschaffen haben. Aber haben wir nicht einige Millionen Mitbürger vergessen? Im Vorfeld der Europawahlen am 10. Juni muss ich vor einer ausschließlich nationalen Blickrichtung warnen, wenn wir von ,unserem’ Land reden. Der Hauptanlass für meine Warnung ist die Tatsache, dass Wohlstand wie wirtschaftliche und soziale Stabilität in unserem Land seit beinahe 20 Jahren durch den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer und ihrer Familien wesentlich miterarbeitet worden sind. Ihr Arbeitsbeitrag zur Weiterentwicklung der Bundesrepublik Deutschland steht in diesen Tagen in Gefahr, übersehen und an die Seite gedrängt zu werden.

Nach offiziellen Angaben leben und arbeiten knapp zwei Millionen ausländische Arbeitnehmer aus rund fünfzig Ländern innerhalb unserer Grenzen. Nimmt man ihre Familienangehörigen hinzu, so bilden die ausländischen Mitbürger in unserer Gesellschaft eine Gruppe von vier Millionen Menschen - davon allein 930.000 Kinder unter 16 Jahren. Wir haben uns die Frage zu stellen, ob diese beträchtliche Minderheit nicht im Schatten des Grundgesetzes lebt. Vergessen wir nicht allzu leicht, dass Millionen schweigender ausländischer Mitbürger von uns kaum beachtet werden, ja jenseits des Straf-, Arbeits- und Steuerrechts nicht selten das Gefühl haben können, beinahe rechtlos zu sein. Ich rede keiner blassen ,Gastarbeitersentimentalität’ das Wort. Wir bezeichnen diese Menschen als ,Gäste’, als die wir sie freilich nicht immer behandeln, obwohl sie in der Hoffnung zu uns gekommen sind, hier eine menschenwürdige Existenz zu finden. Das gilt erst recht für die zweite Generation der ausländischen Arbeitnehmer - für jene Kinder und Jugendlichen, die in der Bundesrepublik geboren und aufgewachsen sind oder bereits mehr als zehn Jahre in ihr leben. Für sie ist es Heimat.

Niemand wird behaupten können, dass die große Mehrheit der Deutschen in ihrem Bewusstsein und in ihrem Verhalten dem Rechnung trägt. Unter sozialdemokratischer Regierungsführung ist seit 1969 manches für mehr Gleichstellung und Gleichberechtigung der ausländischen Mitbürger erreicht worden. Aber: Unter dem Druck der wirtschaftlichen Lage, die unsere Politik seit dem Herbst 1973 beschäftigt, wurde vieles auch noch nicht erreicht. Ich frage durchaus selbstkritisch und an die Adresse auch der deutschen Sozialdemokratie: Wären wir nicht energischer ans Werk gegangen, wenn die ausländischen Arbeitnehmer und ihre Familien auch Wähler wären, um die es sich zu kämpfen lohnt? Ich richte diese Frage ebenso an die anderen Bundesparteien. Das Gleichheitsangebot des Grundgesetzes (Art. 3) kann auch so interpretiert werden: Wer unser Sozialprodukt mit erwirtschaftet, muss auch entsprechende Rechte haben. Ich kenne durchaus die große Zahl schwieriger Fragen, die in diesem Zusammenhang bedacht und beantwortet werden müssen. Dennoch sollten wir uns dieser Aufgabe nicht entziehen.

Wir können auch nach außen nur ein Volk der guten Nachbarn sein, wenn wir es auch nach innen sind. Die Sorge bei Psychologen, Sozialarbeitern und Kriminalisten ist nicht gering, dass in der zweiten Ausländergeneration unter Umständen ein Konfliktpotential heranwächst, das eines Tages in Teilbereichen unserer Gesellschaft zu bedrohlichen Entwicklungen führen kann. Wir alle sollten diese Sorge ernst nehmen und entsprechend handeln. Wichtig für die Zukunft ist, dass die demokratischen Mitwirkungsrechte der ausländischen Mitbürger gesichert werden. Vorbildlich - das wird jeder zugestehen müssen - ist da unser Betriebsverfassungsgesetz von 1972 mit dem uneingeschränkten aktiven und passiven Wahlrecht auch für ausländische Arbeitnehmer.

In dem Kommunalpolitischen Grundsatzprogramm unserer Partei wird aber auch gefordert, allen Ausländern, die mindestens fünf Jahre in der Bundesrepublik leben, das Wahlrecht in den Städten und Gemeinden einzuräumen. Darüber muss neu gesprochen werden, damit wir uns klar werden, was geht und was nicht geht. Vielen ist nämlich schwer verständlich, in einem Atemzug vom Grundgesetz zu sprechen und uns auf die ersten direkten Wahlen zum Europäischen Parlament vorzubereiten, die demokratischen Mitwirkungsrechte der Ausländer in unserem Staat aber unbeachtet zu lassen. Wir haben in den dreißig Jahren der Geltung des Grundgesetzes immer wieder bewiesen, dass es bestehende Verhältnisse nicht festschreibt, sondern einen Auftrag darstellt, sie seinem Geist gemäß auszubauen und weiterzuentwickeln. Achten wir darauf, dass wir unsere ausländischen Mitbürger in diesem Auftrag stärker einbeziehen.„


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