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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
9./10. Dez. 1978

Bundes-Delegierten-Konferenz und außerordentlicher Parteitag der SPD in Köln. Der Parteitag setzt sich aus 400 in den Bezirken gewählten Delegierten und den 35 Mitgliedern des Parteivorstandes zusammen. Von den Delegierten sind 396, von den Parteivorstandsmitgliedern 32 anwesend. Von den 428 stimmberechtigten Delegierten sind 56 Frauen.

Die Bundes-Delegierten-Konferenz wählt die sozialdemokratischen Kandidaten und Ersatzkandidaten für die 78 im Gebiet der Bundesrepublik zu vergebenden Sitze im Europäischen Parlament. W. Brandt wird mit 196 von 198 Stimmen zum Spitzenkandidaten gewählt. Die folgenden Kandidaten sind Beate Weber (191); Eugen Loderer (190); Katharina Focke (190); H. O. Vetter (189); Karl Hauenschild (188); Manfred Wagner (185); Gerd Walter (184); B. Friedrich (182); Hans-Joachim Seeler (182); Thomas v.d. Vring (182); Karl Schön (180); Volkmar Gabert (177); Rudi Arndt (176); H. Kühn (173).

Zum Auftakt des Parteitages sagt H. Schmidt , Deutschland gehe nach einer wirtschaftlichen Konsolidierung und leichtem Aufwind auf einen „gut vorbereiteten Weg„ in das kommende Jahr. Der deutsche Rat gelte in der Welt etwas. Das Wort Europa, so meint der Bundeskanzler, stehe heute für Frieden: „Die Europäische Gemeinschaft ist auf dem Weg zu einer Großmacht des Friedens.„ In diesem Zusammenhang setzt er sich nachdrücklich für die Pflege der Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland ein und fordert, dass an den Schulen mehr als bisher Französisch gelehrt werde. H. Schmidt greift den Vorwurf auf, Deutschland werde der „Zahlmeister der EG„ und sagt dazu: „Ganz gewiss will die Bundesrepublik nicht Zahlmeister für schlechte Politik sein, aber sehr wohl müssen wir opferbereit sein, wenn dies zum europäischen Fortschritt führt.„

Die Deutschen dürften „keineswegs zum Schrittmacher oder gar zum Einpeitscher Europas„ werden. Jeder Fortschritt zu einer gemeinsamen Politik könne nur im Einvernehmen mit allen Partnerländern verwirklicht werden.

Die Delegierten des Parteitages verabschieden ein Europawahlprogramm „Soziale Demokratie für Europa. Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands für die erste europäische Direktwahl 1979„:

Das Programm sieht in der ersten Direktwahl eines Europäischen Parlaments eine dreifache Chance: „Völker, die sich noch in diesem Jahrhundert zweimal in Weltkriegen bekämpften, überwinden ihre nationalen Feindschaften der Vergangenheit; statt dessen wird die Idee eines ständigen Friedens zwischen den Völkern zur Wirklichkeit ihrer Beziehungen. Das Prinzip der sozialen Demokratie, die unverzichtbare Zusammengehörigkeit von Humanität und sozialer Gerechtigkeit, soll in der politischen Ordnung die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten. Gemeinsam sind die neun Staaten der Europäischen Gemeinschaft aufgefordert, durch Solidarität mit den Entwicklungsländern eine gerechtere Verteilung der Ergebnisse des Fortschritts und des Wohlstandes in der Welt herbeizuführen.„

Der bisher dominierenden Rolle von Unternehmern und Bauern in der Europäischen Gemeinschaft müsse eine stärkere Betonung der Arbeitnehmerinteressen gegenübergestellt werden.

Weitere Aussagen des Europa-Wahlprogramms sind: „Eine aktive Beschäftigungspolitik und eine wirtschaftliche Rahmenplanung sind erforderlich, um die Arbeitslosigkeit zu verringern. Wir streben eine gerechtere Verteilung der verfügbaren Arbeit an. Ziele einer schrittweise durchzusetzenden tariflichen Arbeitszeitverkürzung sind die 35-Stunden-Woche und die Verlängerung des Jahresurlaubs. Es ist unumgänglich, die Aussperrung zu verbieten.„ Der Parteitag nimmt diesen Passus an, obwohl H. Wehner die Delegierten eindringlich darauf hinweist, dass es dafür zur Zeit keine parlamentarische Mehrheit gibt. „Die Humanisierung der Arbeit rückt in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Forderungen. Es gilt, die demokratische Kontrolle der gesamten Wirtschaft zu verbessern. In einer Gesellschaft, die in ihrer großen Mehrheit aus Arbeitnehmern besteht, können diese nicht länger von den Entscheidungsprozessen in der Wirtschaft ausgeschlossen werden. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit muss für alle Frauen Europas gelten.

Die SPD fordert eine Regionalpolitik, die dazu beiträgt, die Unterschiede im Lebensstandard zwischen den verschiedenen Regionen in der europäischen Gemeinschaft zu verringern.

In der Agrarpolitik ist ein Abbau der Überproduktion erforderlich.

Die SPD fordert ein ,Europäisches Umweltkonzept’. Der Einsatz von umweltfeindlichen Chemikalien im landwirtschaftlichen Bereich ist aus gesundheitlichen Gründen zu vermindern.

Erforderlich sind auch: ein kommunales Wahlrecht für ausländische Arbeitnehmer; eine EG-Charta der Bürgerrechte; ein Bürgerrecht auf Kultur und Bildung; mehr Rechte für das Europäische Parlament, z.B. bessere Kontrolle über die Politik der EG-Kommission.

Die Auseinandersetzung zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern verlangt die Einbeziehung des Nord-Süd-Problems in ein weltweites Konzept der Entspannungspolitik. Abrüstung, Rüstungsbegrenzung, Rüstungskontrolle, gleichwertiger Abbau der großen militärischen Zerstörungskräfte sind für den Fortgang der Entspannung von entscheidender Bedeutung. Die deutschen Sozialdemokraten streben als ersten Schritt eine europäische Vereinbarung mit dem Ziel an, dass alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Waffenexporte in Krisengebiete verbieten.

Der Beitritt von Griechenland, Spanien und Portugal zur Gemeinschaft wird nachdrücklich unterstützt.

Die Gemeinschaft soll zusichern, dass ihre öffentliche Hilfe für die Dritte Welt in absehbarer Zeit das international akzeptierte Ziel von 0,7 Prozent des Bruttosozialproduktes erreichen wird.

Im Streit um die Mehrheit im Europäischen Parlament sind die konservativen Parteien Hauptgegner für die Sozialdemokraten.„

Der Parteitag stimmt nach längerer zum Teil kontroverser Diskussion den vom Parteirat beschlossenen „Grundsätzen für eine liberalere Überprüfungs- und Einstellungspraxis im öffentlichen Dienst„ zu:

„Bei der Einstellung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst gilt das Gebot der Verfassungstreue. In der Verwaltungspraxis ist dieses Gebot vielfach in eine Misstrauensklausel umgewandelt worden. Die Folge ist Verunsicherung bei jungen Menschen. Die SPD setzt sich daher mit Nachdruck für ein Einstellungsverfahren ein, das die erkennbaren Mängel beseitigt. Der Staat geht grundsätzlich von der Vermutung aus, dass der einzelne Bewerber für den öffentlichen Dienst die Gewähr der Verfassungstreue bietet. Eine Routineanfrage beim Verfassungsschutz findet daher nicht statt. Grundlage für einen Ablehnungsbescheid darf nur konkretes Verhalten sein. Wer durch aktive Betätigung den Kernbestand unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, wie Achtung vor den Menschenrechten, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteiensystem, Recht auf Opposition, gewaltfreie Durchsetzung politischer Ziele nachweislich bekämpft, kann nicht im Dienste des freiheitlichen Staates stehen. Das gilt für das Verhalten sowohl innerhalb als auch außerhalb einer Partei.

Bei der Einstellung ist nur von Tatsachen auszugehen, die der Einstellungsbehörde ohne besondere Ermittlungen bekannt sind. Eine Ablehnung darf nur auf vorhaltbare und vor Gericht verwertbare Erkenntnisse gestützt werden, die für die Beurteilung der Verfassungstreue bedeutsam sind. Erkenntnisse über Tatsachen, die aus der Zeit vor Vollendung des 18. Lebensjahres stammen, sind nicht zu berücksichtigen. Im Übrigen dürfen Tatsachen, die längere Zeit, in der Regel zwei Jahre, zurückliegen, nur herangezogen werden, wenn dies nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geboten ist.

Eine Anfrage beim Verfassungsschutz muss jedoch stattfinden, wenn der Behörde Tatsachen bekannt sind, die Zweifel an der Verfassungstreue eines Bewerbers begründen könnten. Eine Anfrage darf erst erfolgen, wenn der Bewerber alle sonstigen dienstrechtlichen Voraussetzungen erfüllt und seine Einstellung beabsichtigt ist. Die Entscheidung über die Ablehnung eines Bewerbers liegt beim verantwortlichen Minister/Senator (bzw. bei der obersten Dienstbehörde). Die SPD betont nachdrücklich die wichtige Rolle, die die Ämter für Verfassungsschutz bei der Beobachtung antidemokratischer Bestrebungen und bei der Abwehr von Spionage für die freiheitliche und gesicherte Entwicklung unseres Landes spielen. Sie müssen den für diese Arbeit erforderlichen Raum staatlichen Handelns behalten und sollten nicht mit Personenüberprüfungen allgemeiner Art von ihren eigentlichen Aufgaben abgehalten werden.„

Ein weitergehender Antrag - vom Vorsitzenden der Jungsozialisten G. Schröder begründet -, wonach die Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei kein Maßstab für die Bewertung eines Beamten oder Bewerbers sein solle, wird abgelehnt, nachdem H. Schmidt , H. Wehner , H. Koschnick und H.-J. Vogel eindringlich gemahnt haben, der Parteitag solle keinen Beschluss fassen, der im Widerspruch zum Extremisten-Urteil des Bundesverfassungsgericht stehe. H. Schmidt sagt dazu auch: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, als ob wir ein großes Interesse daran hätten, den öffentlichen Dienst möglichst schnell durch Kommunisten unterwandern zu lassen.„

Es bleibt damit bei der Auffassung der Parteiführung, dass eine Mitgliedschaft für eine Ablehnung allein nicht ausreicht, aber zusammen mit anderen Kriterien von Bedeutung sein kann. Der Antrag des Parteirates wird ohne Gegenstimmen bei einer Enthaltung angenommen.

Der Parteitag beschließt eine neue Staffelung der Beiträge, da die Partei nach Aussagen von Schatzmeister F. Halstenberg zur Zeit knapp 40 Millionen DM Schulden habe. Der Mindestbeitrag wird von 2 auf 3 DM monatlich angehoben, der Höchstbeitrag für Mitglieder mit einem Netto-Monats-Einkommen von mehr als 7.000 DM von 250 auf 400 DM erhöht.


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