DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

DEKORATION DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG DEKORATION


TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Online-Suppl. Erweiterung des Berichtszeitraums von Mitte 1977 bis zur Jetztzeit / Autor: Dieter Schuster.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2003 ff

Stichtag:
10./12. Febr. 1978

Auf dem Bundeskongress der Jungsozialisten in Hofheim wenden sich die rund 300 Delegierten einmütig gegen „Erpressungsversuche„ der SPD, die sich vor allem gegen ein öffentliches Auftreten von K.-U. Benneter richten. Bei 7 Enthaltungen beschließen die Delegierten, dass die Gründe einen Ausschluss von K.-U. Benneter in keiner Form rechtfertigen. Die meisten Delegierten räumen ein, dass die kritische Lage des Verbandes auch auf eigene Fehler zurückzuführen sei. Doch die SPD sei, u.a. nach Auffassung von Gerhard Schröder, immer mehr von sozialistischen Positionen abgerückt, tue zu wenig gegen die Arbeitslosigkeit und schotte sich gegen innerparteiliche Kritik durch Bürokratisierung und Disziplinierung ab. Die Hauptschuld für die „miserable Situation„ der Jungsozialisten liege bei der SPD.

Der stellvertretende Parteivorsitzende H. Koschnick übt dagegen scharfe Kritik an den Jungsozialisten. Die Jungsozialisten seien „als positiver Faktor ausgefallen für die SPD, als negativer Faktor ebenfalls„. Die Jungsozialisten seien „eine Arbeitsgemeinschaft, die sich aufreibt in theoretischen Disputen und Machtkämpfen, die sich abschottet von der Außenwelt, die nur noch von der Provokation lebt und nicht mehr imstande ist, ihre ureigensten Aufgaben sachlich zu bewältigen.„ Das Verhältnis der Jungsozialisten zur SPD grenzt H. Koschnick so ab: „Wenn die Loyalität gegenüber der SPD geteilt, gebrochen, eingeschränkt ist, muss die Partei harte und für alle Teile schmerzliche Konsequenzen ziehen.„ Er sehe „schwarz für die Zukunft der Jungsozialisten„. Die Jusos hätten „viel zuviel darüber gesprochen, was die jungen Arbeitnehmer zu denken haben, statt einmal festzustellen, wie junge Arbeitnehmer denken„. H. Koschnick : „Die soziale Wirklichkeit der Bundesrepublik lässt sich mit Theorien von gestern nicht erfassen und in Bezug auf diese nur fehlerhaft verändern.„ Und: „Mit Kommunisten gemeinsame Politik machen zu wollen, widerspricht sozialdemokratischen Überzeugungen. Wer es dennoch als wünschenswert ansieht, sollte sich eine andere politische Organisation suchen.„

Im Mittelpunkt des Kongresses steht vor allem die Kritik an der Bundesregierung. Die Jungsozialisten verabschieden ein Aktionsprogramm, das von allen drei Fraktionen weitgehend getragen wird. In dem Papier wird der Regierung vorgeworfen, ihre Wirtschaftspolitik habe zur fortschreitenden Konzentration, zur Vernichtung von Arbeitsplätzen und zur Steigerung der Unternehmergewinne beigetragen. Dadurch seien die Krisenauswirkungen für die Arbeitnehmer verschärft und soziale Leistungen abgebaut worden. Die Mutterpartei wird beschuldigt, wichtige Grundlagen einer freiheitlichen und veränderbaren Gesellschaftsordnung eingeschränkt zu haben. Mit einer Politik der „autoritären Krisenbewältigung„ habe die SPD ihre Rolle als politische Kraft, die eindeutig für die Arbeitnehmer, die Jugend und die sozial Benachteiligten eintrete, weitgehend verloren. Ziel der Jungsozialisten ist nach dem Aktionsprogramm die grundlegende Veränderung der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durch antikapitalistische Strukturreformen. Die wichtigsten Forderungen betreffen das Recht auf Arbeit und Bildung, die Demokratisierung der Wirtschaft und den sofortigen Verzicht auf den weiteren Bau von Kernkraftwerken. Eine wichtige Rolle in der Diskussion spielen die Anti-Terror-Gesetze, die in derselben Woche im Bundestag verabschiedet werden sollen. In einer einstimmig angenommenen Resolution werden Bundeskanzler H. Schmidt und die SPD-Bundestagsfraktion aufgefordert, die umstrittenen Vorlagen zurückzuziehen. Sie seien als Mittel im Kampf gegen den Terrorismus ungeeignet. Entschieden wird in der Resolution der „Versuch des Bundeskanzlers„ zurückgewiesen, die Zustimmung zu diesen Gesetzen „zu einer Vertrauensfrage umzuinterpretieren„. Die Regierungsfähigkeit der SPD werde nicht durch diejenigen Abgeordneten gefährdet, die sich den Gesetzen widersetzen, sondern durch Gesetze, mit denen die von der Arbeiterbewegung erkämpften sozialen und demokratischen Rechte eingeschränkt würden. Stürmischen Beifall ernten die beiden Bundestagsabgeordneten Karl-Heinz Hansen und Manfred Coppik , die ihr Nein zu den Gesetzen mit der Befürchtung begründen, sie könnten das Recht auf eine freie Verteidigung einschränken.

Zum neuen Vorsitzenden der Jungsozialisten wird G. Schröder im zweiten Wahlgang mit 164 von 298 Stimmen gewählt. Sein Gegenkandidat Otmar Schreiner erhält 126 Stimmen.

G. Schröder ist Vertreter der sog. „Antirevisionisten„, die die Reformfähigkeit der Bundesrepublik verneinen, aber im Gegensatz zu den Stamokaps jede institutionalisierte Zusammenarbeit mit den Kommunisten ablehnen. Für die „Antirevisionisten„ ist der kapitalistische Staat nicht Handlanger der Monopole, wohl aber Garant der Kapitalverhältnisse.

E. Bahr sagt den Delegierten, „Entkrampfungsbemühungen„ werde die SPD mit einem wohlwollenden Echo kommentieren. Der neue Vorsitzende G. Schröder solle jedoch mit dem von Rissen gezeichneten Juso-Schiff nicht die Klippen weiterer Belastungsproben ansteuern.

Die „Frankfurter Rundschau„ schreibt zu diesem Kongress: „Auf diesem Bundeskongress ist ein Gipfel an Verlogenheit und Selbsttäuschung erreicht worden: Es wurde noch immer so getan, als seien die Jusos, vor allem die Kongress-Delegierten, die Kerntruppe der SPD, wenn schon nicht der jetzigen, so doch der in zehn Jahren. Die Partei ist aber dabei, die Jusos, so wie sie sich jetzt darstellen, abzunabeln. Während des Kongresses ist dies - wie auch schon mehrmals vorher - mehr als deutlich signalisiert worden. Doch die Chance, über die weitere Existenz der Jusos als organisierte Arbeitsgemeinschaft in der SPD einmal in aller Offenheit und Härte untereinander und mit den erstmals wieder zahlreichen anwesenden Parteipolitikern zu diskutieren, wurde nicht genutzt. Der Kongress-Mehrheit fehlte schlicht jede Einsicht, dass dies die einzige Möglichkeit ist, um aus dem Weg in die Sackgasse und ins Abseits herauszukommen„.


Vorhergehender StichtagInhaltsverzeichnisFolgender Stichtag


net edition fes-library | 2003