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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
18./23. Mai 1958

Parteitag der SPD in Stuttgart. 381 Delegierte sind anwesend. Tagesordnung: Frieden und Freiheit durch sozialistische Politik (E. Ollenhauer); Gegenwartsprobleme sozialdemokratischer Politik: Außen- und Wehrpolitik im geteilten Deutschland (F. Erler und H. Wehner); Wirtschaftspolitik (H. Deist und H. Veit); Kultur und Politik (W. v. Knoeringen und A. Arndt); Erste Beratung des Entwurfs eines Grundsatzprogramms der SPD (W. Eichler); Aufbau der Parteiorganisation (A. Nau).
Der Parteitag fordert erneut unverzüglich Verhandlungen zwischen West und Ost über eine schrittweise, kontrollierte Abrüstung der atomaren und konventionellen Waffen.
Die sozialdemokratische Alternative zur Rüstungs- und Blockpolitik ist eine Politik des ernsthaften Verhandelns über Abrüstung und Entspannung, eine Politik der Normalisierung der Beziehungen zu anderen Regierungen und Völkern und eine weltweite Politik der Förderung des friedlichen Aufbaues in den Entwicklungsländern in Asien und Afrika, damit im Geist der Selbstbestimmung und der Partnerschaft auf der Grundlage der gegenseitigen Achtung eine Welt der Freiheit und des Friedens sich entwickeln kann.
Für das Zusammenleben des deutschen Volkes und für eine europäische Friedensordnung bleibt die Wiedervereinigung Deutschlands in gesicherter Freiheit unentbehrlich. Deutschland ist im Zustand der Spaltung ein Konfliktherd.
Wenn es gelingt, die heute noch getrennten Teile Deutschlands in eine atomwaffenfreie Zone einzugliedern, die heute noch in Deutschland und in den östlichen Nachbarstaaten stationierten ausländischen Truppen Zug um Zug gleichwertig zu vermindern, die ganze atomwaffenfreie Zone Mitteleuropas schließlich von fremden Truppen zu räumen und für die eigenen Truppen der an der atomwaffenfreien Zone beteiligten Staaten Höchststärken festzusetzen und zu kontrollieren, würden die Voraussetzungen für eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung geschaffen. Ein wiedervereinigtes Deutschland wird nicht militärisches Aufmarschgebiet der einen Seite gegen die andere sein können. Deshalb kann es keinem Militärblock angehören. Das wiedervereinigte Deutschland wird im Rahmen eines europäischen Sicherheitssystems zur eigenen und zur europäischen Sicherheit mit finanziellen und militärischen Leistungen beitragen.
Es muß gelingen, Maßnahmen zur Verklammerung der Teile Deutschlands durchzusetzen, die wirtschaftlich, sozialpolitisch und kulturell die inneren Bindungen stärken und die der Auseinanderentwicklung der Teile entgegenwirken sowie den kalten Krieg und die ideologische Verhetzung innerhalb Deutschlands überwinden.

Wenn es für diese Zwecke unvermeidlich sein sollte, auch mit den in der sowjetisch besetzten Zone amtierenden Behörden Kontakt aufzunehmen, so muß die Bundesregierung das tun. Die SPD erneuert ihre auf dem Münchener Parteitag erhobenen Forderungen zur Herstellung und Pflege normaler diplomatischer Beziehungen zu den Staaten Osteuropas und zur Volksrepublik China.

Mit Empörung wendet sich die SPD gegen die mißbräuchlich im Namen des Sozialismus im sowjetisch besetzten Gebiet betriebene Knebelung der Freizügigkeit und der persönlichen und staatsbürgerlichen Freiheit.

Der Parteitag fordert die Freilassung der politischen Gefangenen, die Aufhebung der Reisebeschränkungen und die Gewährung der demokratischen Grundrechte für alle Bewohner der Zone. Die SPD widersetzt sich dem Mißbrauch der Bundeswehr für parteipolitische Zwecke. Die bewaffneten Kräfte müssen ein Bestandteil unserer demokratischen Ordnung sein.
Die Bundesrepublik muß ein angemessenes Verhältnis ihrer eigenen Verteidigungsanstrengungen zu den deutschen militärischen Kräften auf der anderen Seite der Demarkationslinie einhalten. Für diese Aufgabe eigne sich eine zahlenmäßig begrenzte Truppe aus Freiwilligen viel besser als ein Massenheer auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht.

Die SPD wird auch weiterhin die Bewegung gegen den Atomtod mit allen Kräften unterstützen.

Die Entschließung zur Wirtschaftspolitik wird gegen wenige Stimmen angenommen. Im Mittelpunkt sozialistischer Wirtschaftspolitik stehen stetige Steigerung des Sozialprodukts, Sicherung der Vollbeschäftigung, Erhöhung des Lebensstandards. Diese Ziele können nur auf der Grundlage einer freiheitlich geordneten Wirtschaft erreicht werden. Zu den wichtigsten Aufgaben einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik gehören Stärkung der kleineren und mittleren Unternehmen, Schaffung und Förderung gemeinwirtschaftlicher und öffentlicher Unternehmungen und öffentliche Kontrolle wirtschaftlicher Großmacht.
Eine freiheitliche Ordnung der Wirtschaft ist heute nur möglich, wenn möglichst viele und vielfältige Wirtschafts- und Unternehmensformen erhalten bleiben und der Einfluß des Staates und seiner Bürokratie in Grenzen gehalten wird.
Wo der Wettbewerb unangemessen eingeschränkt oder gar aufgehoben ist, muß eine wirksame Kartell- und Monopolkontrolle einsetzen. Soweit die Investitionen, der Absatz oder die Preisbindung im gesamtwirtschaftlichen Interesse einer überbetrieblichen Ordnung bedürfen, sind entsprechende Kontrollorgane zu schaffen. Wo alle diese Kontrollmittel nicht ausreichen, muß Überführung in Gemeineigentum erfolgen.
Die Entscheidung über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Überführung in Gemeineigentum ist vom Stande der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung abhängig.
Die SPD befürwortet die Bildung persönlichen Eigentums. So sind Privateigentum, gebundenes Eigentum der freien Gemeinwirtschaft, gebundenes Eigentum der öffentlichen Hand und Gemeineigentum wesentliche, sich ergänzende Bestandteile einer freiheitlichen sozialistischen Wirtschaftsordnung.
Die freie Gemeinwirtschaft und die öffentliche Wirtschaft sind neben den mittleren und kleinen Unternehmungen der privaten Wirtschaft entscheidende Positionen zur Sicherung wirtschaftlicher Freiheit gegenüber dem Machtanspruch privater Großunternehmen.

Die öffentliche Unternehmung ist die gegebene Unternehmensform für natürliche Monopole. Hierzu gehören in erster Linie die Versorgungswirtschaft und die Großunternehmen des Verkehrs. Der Parteitag erhebt Einspruch gegen die Versuche der Bundesregierung, aus dogmatischen Gründen wichtige und unverzichtbare Teile des Bundesvermögens zu privatisieren. Durch die Privatisierung werden wichtige Elemente des Wettbewerbs ausgeschaltet und bedeutende Wirtschaftsbereiche der Beherrschung durch mächtige private Großunternehmen ausgeliefert.
Die Probleme der Energiewirtschaft können nach dem heutigen Stande der technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in privatwirtschaftlicher Form nicht mehr gelöst werden.

Die Energieversorgung Deutschlands wird sich in Zukunft auf vier wichtige primäre Energieformen stützen: Kohle, Wasserkraft, Erdöl und Kernenergie.

Im Kohlenbergbau reißen die Schwierigkeiten nicht ab. Bei guter Konjunktur werden wichtige Kohlenverbraucher wie die Versorgungsunternehmen und der Hausbrand nicht ausreichend versorgt. Bei einem leichten Rückgang der Konjunktur werden sinnlose, aber sozial gefährliche Feierschichten eingelegt. Es wird immer schwerer, ein angemessenes Lohnniveau für den Bergarbeiter zu sichern. Die Preispolitik für Kohle führt immer wieder zur Erschütterung des Preisniveaus. Darum muß der Kohlenbergbau, einschließlich der zugehörigen Kohlenchemie, im öffentlichen Interesse in Deutschland in Gemeineigentum überführt werden.

Die Entwicklung der Atomenergie verlangt große öffentliche Mittel für Ausbildung, Forschung und Entwicklung. Die Errichtung von Atomkraftwerken führt zu stärkster Kapitalkonzentration. Die Atomwirtschaft wird zwangsläufig von einigen wenigen Großunternehmen beherrscht. Die Erzeugung von Atomenergie ist mit ungeheuren Strahlungsgefahren verbunden. Atomkraftwerke gehören daher ebenso wie Kernbrennstoffe in öffentliche Hand.

Die Entwicklung einer Energiewirtschaft, die ihre gesamtwirtschaftliche Aufgabe erfüllt, erfordert daher die Errichtung einer zentralen Stelle, die für die planmäßige Entwicklung der gesamten Energiewirtschaft verantwortlich ist.

Der Parteivorstand wird beauftragt, einen Vorschlag für die gemeinwirtschaftliche Ordnung der Energiewirtschaft auszuarbeiten.

In dieser Zeit bedrohen zwei Gefahren die Grundlagen menschlichen Daseins: die physische Selbstzerstörung durch die kriegerisch entfesselten Mächte des Atoms und die moralische Entwertung des Menschen durch die Vergötzung des Materiellen.
Es gibt nur einen Weg diese Gefahren zu bannen: die Überwindung der immer größer werdenden Kluft, die sich zwischen dem technischen Fortschritt und dem Zurückbleiben des Menschen in seinem gesellschaftlichen und mitverantwortlichen Bewußtsein aufgetan hat.

Es geht um das ursprüngliche Ziel des Sozialismus: die Selbstentfremdung des Menschen zu überwinden.

Ein entscheidendes Mittel dazu ist Menschenbildung und Erziehung. Diese Aufgaben verlangen auch die Förderung der Wissenschaften vom Menschen und von der Gesellschaft. Weder Kommunismus noch Kapitalismus sind fähig, diese Aufgabe zu erfüllen.

Der demokratische Sozialismus sieht zwar in der Überwindung auch der materiellen Not und in der Sicherung der Wohlfahrt eine entscheidende Voraussetzung für die kulturelle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit, nicht aber sein Ziel. Das Herzstück seiner Ideen ist die Liebe zum Menschen, das Bekenntnis zur Gerechtigkeit und der Wille zu einer sittlichen Ordnung der Welt in Freiheit.

Die SPD erneuert ihre kulturpolitischen Forderungen vom Parteitag 1956.

Die Sozialdemokratie wird der einseitigen militärischen Machtpolitik der Bundesregierung die Alternative der Mobilisierung aller sittlichen, geistigen und ökonomischen Kräfte des Volkes gegenüberstellen. Sie wird damit die Voraussetzungen für die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und den besten Beitrag zur Sicherung unserer Freiheit leisten.
Die SPD lenkt die Aufmerksamkeit auf die auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens breitwerdenden Tendenzen der Restauration. Der Parteitag fordert alle in verantwortlicher Arbeit stehenden Mitglieder der Partei und alle fortschrittlich gesinnten Demokraten auf, diesen Tendenzen in klarer, eindeutiger und öffentlich wirksamer Weise entgegenzutreten.
Der Parteivorstand wird aufgefordert, die Tätigkeit der Betriebsgruppen noch mehr als bisher zu fördern. Die Bildung der sozialen Arbeitsgemeinschaften als wichtigstem Verbindungsglied zwischen Partei und Gewerkschaften hat auf allen Organisationsebenen zu erfolgen.

Der Parteivorstand soll dauernd auf alle Parteiinstanzen einwirken, daß sich bei den einzelnen Parteimitgliedern nicht zu viele Funktionen häufen und so die politische und organisatorische Schlagkraft der Partei behindert wird. Es ist insbesondere darauf zu achten, daß ständig jüngere Kräfte nachrücken. Alle Parteimitglieder sind verpflichtet, Erklärungen, die im Gegensatz zu offiziellen Erklärungen der Partei stehen, klar als eigene, private Meinung zu kennzeichnen.

In den Diskussionen über die Reorganisation der Partei werden Bestrebungen deutlich, gewisse Entscheidungsbefugnisse vom Partei- auf den Vorstand der Bundestagsfraktion zu übertragen. Eine derartige Verlagerung der Gewichte ist abzulehnen. Der Parteivorstand trägt in der Öffentlichkeit auch für die parlamentarische Tätigkeit die Verantwortung. Seine Vorstellungen bei allen politischen Entscheidungen müssen deshalb eindeutig anerkannt bleiben. Der Parteitag beschließt die Änderung des Organisationsstatutes. In Ländern mit mehreren Bezirken werden zur Erledigung landespolitischer Aufgaben Landesausschüsse beziehungsweise Landesvorstände gebildet.

Zur Durchführung der Parteivorstandsbeschlüsse und zur laufenden politischen und organisatorischen Geschäftsführung der Partei wählt der Parteivorstand aus seiner Mitte anstelle des engeren Parteivorstandes den geschäftsführenden Vorstand (Parteipräsidium). Die Wahl des Parteivorstandes erfolgt nun in vier getrennten Wahlgängen: Vorsitzender, stellvertretende Vorsitzende, Schatzmeister, übrige Parteivorstandsmitglieder. An Stelle des Parteiausschusses wird ein Parteirat gebildet, dem die Vorsitzenden der Bezirke und weitere je nach Mitgliedsstärke von den Bezirksvorständen zu wählende Vertreter, die Vorsitzenden der Landesausschüsse beziehungsweise -vorstände, die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen, die Ministerpräsidenten beziehungsweise stellvertretende Ministerpräsidenten der Länder angehören.

Der Parteirat ist anzuhören vor Beschlüssen des Parteivorstandes über grundlegende außen- und innenpolitische Entscheidungen, grundsätzliche organisatorische Fragen, Einrichtung von zentralen Parteiinstitutionen, die die Partei finanziell dauernd erheblich belasten und zur Vorbereitung der Bundestagswahlen. Der Parteirat hat außerdem die Aufgabe, die Politik in Bund und Ländern aufeinander abzustimmen. Der Kontrollkommission dürfen hauptamtlich in der Partei tätige Mitglieder nicht angehören. Das Grundsatzprogramm soll endgültig auf dem nächsten Parteitag beschlossen werden.
E. Ollenhauer wird mit 319 von 380 Stimmen zum Vorsitzenden, W. v. Knoeringen mit 346, H. Wehner mit 298 zu stellvertretenden Vorsitzenden, A. Nau mit 271 von 383 Stimmen zum Schatzmeister gewählt. Von 375 gültigen Stimmen bei der Wahl der unbesoldeten Parteivorstandsmitglieder entfallen auf: A. Arndt 368, G. A. Zinn 363, M. Brauer 359, W. Menzel 359, F. Steinhoff 351, A. Möller 344, C. Schmid 344, F. Erler 342, E. Schoettle 326, H. Deist 324, Luise Albertz 320, K. Conrad 319, W. Eichler 295, H. Veit 293, G. Heinemann 288, L. Metzger 287, E. Welke 272, W. Brandt 268, Maria Schanzenbach 265, E. Gross 256, K. Pohle 248, Luise Herklotz 246, Ella Kay 246, Käte Strobel 243, M. Kukil 239, Irma Keilhack 238, E. Franke 235 und H. Schmidt 232 Stimmen.
In die Kontrollkommission werden gewählt: P. Löbe, F. Ulrich, A. Schönfelder, W. Damm, G. Peters, Grete Rudoll, E. Herder, H. Höcker, O. Schmidt.
Das Parteipräsidium bilden: E. Ollenhauer (Büro des Präsidiums, Ausland und Internationale, Gewerkschaftspolitik); W. v. Knoeringen (Kulturpolitik, Koordinierung der Länderpolitik, Propaganda und Werbung. »SPD-Rednerdienst«, Werbehelfer, »eilt«, Rundfunkfragen, Jungsozialisten, Archiv, öffentliche Sicherheit); H. Wehner (Organisation, Presse, Rundfunk und Fernsehen, Betriebsgruppen, Sport, Vertriebenenpolitik, Referentenvermittlung); E. Ollenhauer / H . Wehner (Wiedervereinigungspolitik, Flüchtlingsbetreuung); A. Nau (Vermögens- und allgemeine Verwaltung, SPD-Unternehmungen, Restitution und Wiedergutmachung, Kasse, Buchhaltung, Revision, Sekretariat und Personalbüro), H. Deist (Wirtschaftspolitik, Arbeitsgemeinschaft selbständig Schaffender, Agrarpolitik); F. Erler (Wehrpolitik); Maria Schanzenbach (Frauenbüro, Sozialpolitik); E. Schoettle (Finanzpolitik, Kommunalpolitik, Sozialer Wohnungsbau); C. Schmid (ohne Fachbereich). Nach dem Stuttgarter Parteitag wird im Parteivorstand eine Pressestelle gebildet.



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