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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
10./14. Juli 1956

Parteitag der SPD in München. 386 Delegierte sind anwesend. Tagesordnung: An der Wende der deutschen Politik (E. Ollenhauer); Die zweite industrielle Revolution (C. Schmid und L. Brandt).
Der Parteitag billigt und bestätigt die Politik des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion, die dazu beigetragen hat, die Grundlagen für eine Neuorientierung der Politik der Bundesrepublik zu schaffen.
In den Forderungen zur deutschen Wiedervereinigungspolitik stellt die SPD fest, zu einer dauerhaften Friedensordnung in Europa gehört die Wiedervereinigung Deutschlands in gesicherter Freiheit.
Die Teilung Deutschlands kann nur überwunden werden, wenn Ost und West die Absicht aufgeben, ein wiedervereinigtes Deutschland so in ihr militärisch-politisches System einzubeziehen, daß es die andere Seite als Bedrohung empfindet. Eine neue Außenpolitik der Bundesrepublik muß alle Anstrengungen machen, um auf die Schaffung eines kollektiven Sicherheitssystems in Europa hinzuarbeiten. Durch eine solche neue Außenpolitik kann die Voraussetzung für die Verständigung der vier Mächte über ein in einen europäischen Sicherheitspakt eingegliedertes wiedervereinigtes Deutschland geschaffen werden, das an diesem Sicherheitspakt mit gleichen Rechten und Pflichten teilnimmt. Das erfordert ein Übereinkommen über den militärischen Status des wiedervereinigten Deutschlands, dem alle vier Mächte zustimmen können, und das auch die Sicherheit des deutschen Volkes garantiert.
Eine neue Außenpolitik der Bundesrepublik muß auf die Einschränkung des Rüstens, die Verringerung der Truppenstärken und das Verbot atomarer, biologischer und chemischer Vernichtungsmittel hinstreben. Sie muß die Bemühungen um ein Abkommen über die international kontrollierte Abrüstung unterstützen. Die Außenpolitik der Bundesrepublik muß stets von dem Bemühen getragen sein, die freundschaftlichen Beziehungen zu den Westmächten und die erstrebten normalen Beziehungen zur UdSSR nicht gegeneinander auszuspielen. Zwischen den Staaten, die in Europa oder Asien zum Ostblock gehören, und der Bundesrepublik sollte die Normalisierung der Beziehungen als ein Beitrag zur Politik der Entspannung angestrebt werden.
Zur Volksrepublik China ist durch den Abschluß eines Handelsvertrages die Grundlage zu normalen Beziehungen zu schaffen. Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit kann nicht durch Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Regierung der SBZ erreicht werden. Solange die Regierung der SBZ nicht aus allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen hervorgegangen ist, kann die Bundesregierung zu ihr auch nicht normale Beziehungen aufnehmen. Andererseits muß die Bundesregierung bestrebt sein, das Zusammenleben der Deutschen während der noch andauernden Spaltung Deutschlands zu erleichtern und dadurch auch Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutschlands unter einer freigewählten Regierung zu schaffen.
Möglichst viele Sachgebiete menschlicher Beziehungen und Tätigkeiten sollen nach dem Grundsatz größtmöglicher Freizügigkeit für den gesamtdeutschen Verkehr und Austausch freigegeben werden.

Die Gestaltung des Wirtschafts- und Sozialsystems des wieder-vereinigten Deutschlands unterliegt allein den freien Entscheidungen eines frei gewählten gesamtdeutschen Parlaments. Die Rückgabe früheren agrarischen Großbesitzes zu Lasten selbständiger Bauern oder die Rückgabe der Schlüsselindustrien an frühere Besitzer und die Übereignung der öffentlichen Hand an Private sind nicht geeignet für die Lösung der mit der Wiedervereinigung zusammenhängenden Wirtschafts- und Sozialprobleme.

Der Parteitag verlangt, daß die Sowjetregierung in ihrer Deutschlandpolitik endlich auf die Anwendung des Stalinismus verzichtet und dem deutschen Volke das Recht auf Selbstbestimmung einräumt. Der Parteitag erklärt erneut seine solidarische Verbundenheit mit den Sozialdemokraten und der gesamten freiheitlich gesinnten Bevölkerung Mitteldeutschlands.

Der Parteitag bestätigt einstimmig die Beschlüsse des Berliner Parteitages, wonach die SPD in jedem Fall für eine demokratische Wehrverfassung zu kämpfen habe.

Die SPD bekennt sich erneut uneingeschränkt zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und drückt den nach Unabhängigkeit strebenden Völkern ihre Sympathie aus. Die SPD bekundet insbesondere ihre Solidarität mit den Sozialisten Asiens und beauftragt den Vorstand, die Beziehungen zu ihnen weiter auszubauen.

Die Menschheit steht an der Schwelle zur zweiten industriellen Revolution. Drei Elemente kennzeichnen sie: Die Atomenergie, die Automation und elektronische Maschinen.
Die Entfesselung der neuen Kräfte kann zur Vernichtung allen Lebens auf dieser Erde, ihre Bändigung zu nie geahntem Wohlstand für alle Menschen führen. Zum ersten Male können Armut und Hunger auf der ganzen Erde gebannt werden.
Weder die Diktatur noch die Methoden kapitalistischer Wirtschaft können die Menschen auf eine höhere Stufe führen.
Der Umbau unserer gesellschaftlichen Ordnung ist das Gebot der Stunde. Das entscheidende Merkmal dieser neuen Ordnung ist: Planung in Freiheit und Planung für die Freiheit des Menschen. Die Zusammenballung technischer, wirtschaftlicher und politischer Macht verlangt erhöhte und wirksamere Kontrolle der Macht. Die Kontrolle muß in der politischen Urteilsfähigkeit und in der Entscheidungsbereitschaft des ganzen Volkes wurzeln. Politische Bildung wird damit zur Schicksalsfrage der Demokratie.

Die Sozialdemokratie verlangt deshalb:
Eine ständige Beobachtung der gesellschaftlichen Entwicklung und dafür die Einsetzung eines unabhängigen Forschungsrates in der Bundesrepublik.
Ein umfassendes Programm zur Förderung von Wissenschaft und Forschung. Einigung zwischen Bund und Ländern über Schwerpunktaufgaben für Wissenschaft und Forschung; Förderung der Geistes- und Sozialwissenschaften und der Grundlagenforschung, ein Aufbauprogramm für Bildungs- und Forschungsstätten; verbesserte Besoldung der Wissenschaftler und ihrer Assistenten; ein Programm für Begabtenauslese und Begabtenförderung; Studentenhilfe durch Ausbau des Stipendienwesens; verstärkte Förderung des technischen Nachwuchses.
Ausreichende Studienplätze für Studenten aus wirtschaftlich unterentwickelten Gebieten.
Anpassung unserer Sozial- und Wirtschaftsordnung an die Bedingungen der zweiten industriellen Revolution; eine Sozialreform; Bereitstellung von Mitteln für Berufsumschulung; Arbeitszeitverkürzung; vorbeugende Gesundheitsfürsorge, insbesondere im Hinblick auf Zivilisationskrankheiten. Neue Formen der Kontrolle wirtschaftlicher Macht; volkswirtschaftliche Gesamtrechnung; Nationalbudget und Investitionssteuerung.
Die SPD fordert auch die Initiative der Bundesrepublik zum Aufbau einer europäischen Forschungsgemeinschaft und eine europäische Zusammenarbeit zur Förderung des technischen Nachwuchses.

Der Parteitag verabschiedet einen Atomplan: Die kontrollierte Kernspaltung und die auf diesem Wege zu gewinnende Kernenergie leiten den Beginn eines neuen Zeitalters für die Menschheit ein.
Die Erzeugung von Elektrizität aus Kernenergie hat in solchem Umfang zu erfolgen, daß die deutsche Wirtschaft nicht mehr auf die Einfuhr überteuerter Kohle angewiesen ist, der Raubbau in Kohlengruben vermieden und die schädigende Veränderung von Landschaft und Wasserversorgung beim Abbau von Braunkohle eingeschränkt wird;
der Aufbau und der Betrieb von Atomkraftwerken wird durch die öffentliche Hand durchgeführt, ihr Zusammenwirken mit den übrigen Elektrizitätserzeugungsunternehmen erfolgt nach langfristig festzusetzenden Plänen;
die Entwicklung von Kernkraftmaschinen an Stelle der Dieselmotoren und anderer Verbrennungskraftmaschinen für feste und fahrbare Kraftstationen, für Schiffe, Flugzeuge und andere Verkehrsmittel muß den Platz Deutschlands in der Reihe der Industrievölker sichern;
die Verwendung der radioaktiven Isotope in Medizin, Biologie, Landwirtschaft und Industrie muß so gefördert werden, daß die großen Möglichkeiten für die Gesundheitspflege, die Züchtung neuer Pflanzenarten und die Anwendung für die technischen Produktionsprozesse auch für Deutschland voll erschlossen werden;
die Forschung im Bereich der Atomwissenschaft und die Ausbildung von Arbeitskräften aller Art, müssen mit allen Kräften gefördert werden, sowohl die mit Kernstoffen Arbeitenden als auch die gesamte Bevölkerung müssen mit allen Mitteln und mit aller Sorgfalt gegen die Strahlenwirkungen geschützt werden.
Die deutsche Öffentlichkeit, das Parlament und die Regierung benötigen zur Beurteilung der Gesamtsituation und aller Veränderungen eine kontinuierlich arbeitende, unabhängig gutachterliche Beratung.
Die SPD fordert deshalb die Errichtung einer deutschen Atomkommission. Kernbrennstoffe können insbesondere durch Unglücksfälle oder Mißbrauch große und fortwirkende Schäden an Leib, Leben und Gütern hervorbringen. Deshalb muß die Allgemeinheit über den Staat und seine Organe schärfste Kontrolle und sorgfältigste Aufsicht auf allen Gebieten der Erzeugung und Verwendung von Kernbrennstoffen ausüben.
Um dieses zu sichern, ist ein »Deutsches Organ für Kernbrennstoffe und die Überwachung ihrer Verwendung« durch Gesetz als Bundeseinrichtung zu schaffen.
Die Atomenergie kann zu einem Segen für Hunderte von Millionen Menschen werden, die noch im Schatten leben. Deutschland muß in der Hilfe für diese Völker mitwirken, aber auch die Lebensmöglichkeiten des eigenen Volkes verbessern.

Der Parteivorstand wird beauftragt, beschleunigt eine Arbeitsgemeinschaft für Forschung und Technik ins Leben zu rufen.

Der Parteitag stellt fest: Das Wehrpflichtgesetz beschränkt das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerer in verfassungswidriger Weise. Der Parteitag erwartet von der Bundestagsfraktion, den unter Beteiligung von Sozialdemokraten gebildeten Länderregierungen und der gesamten Mitgliedschaft, jeden rechtlich und demokratisch zulässigen Schritt zu unternehmen und zu fördern, der zur Abwehr dieses Rechtsbruchs geeignet ist.

Parteivorstand und Fraktion des Deutschen Bundestages werden beauftragt, trotz der mühsam erkämpften Verbesserungen der Kriegsopferversorgung auch weiterhin dafür einzutreten, daß die Kriegsopferversorgung endlich eine gerechte Lösung findet.
Um die Bildung und Erziehung nicht länger an materiellen Voraussetzungen scheitern zu lassen, werden die sozialdemokratischen Fraktionen aufgefordert, Gesetzesentwürfe einzubringen, die die Schulgeld- und Lernmittelfreiheit an Oberschulen verwirklichen, materiell minderbemittelten Eltern Erziehungsbeihilfen gewähren und die Gebührenfreiheit an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen einführen.

Bund und Länder sollen sich verpflichten, allen antragstellenden Studierenden die für den Lebensunterhalt notwendigen Mittel in Form von Stipendien und Studiendarlehen zur Verfügung zu stellen, um Begabten ein von materiellen Sorgen freies Studium zu ermöglichen.

Parteitag und Parteivorstand verpflichten alle Gremien der Partei, sich noch mehr als bisher in jeder Form der Heimatvertriebenen anzunehmen. Durch Initiativantrag ist die Bundesregierung aufzufordern, das bestehende, in fast 100 Gesetzen und Verordnungen zersplitterte Arbeitsschutzrecht sowie das Arbeitsrecht den neuzeitlichen Erkenntnissen entsprechend überarbeiten zu lassen und in einem deutschen Arbeitsgesetzbuch zusammenzufassen.

Die SPD sieht in der 40-Stunden- Woche eines ihrer wesentlichsten politischen Ziele. Sie wird sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dafür einsetzen, daß die 40-Stunden-Woche in allen Teilen der Wirtschaft und Verwaltung verwirklicht wird. In der Öffentlichkeit ist die Notwendigkeit der Erhaltung gewinnbringenden Bundesvermögens stärker zu betonen. Einer leichtfertigen Veräußerung von Vermögenswerten an einzelne Privateigentümer ist entschiedener Widerstand entgegenzusetzen.

Der Parteitag macht der Bundesregierung zum Vorwurf, daß sie bei den Preissteigerungen der letzten Wochen nicht eingegriffen und der notleidenden Bevölkerung im letzten Winter keine genügende Hilfestellung gegeben hat.

Der Parteivorstand hat so rasch wie möglich eine knappe, wahrheitsgetreue Darstellung der Verbrechen der Politik Stalins als Material oder besondere Schrift herauszubringen.

Die SPD bedarf eines Grundsatzprogrammes, an dem sich das Aktionsprogramm jeweils auszurichten hat. Dieses Programm kann nur in lebendiger Diskussion der gesamten Partei entstehen.

Bei 379 gültigen Stimmen erhält E. Ollenhauer als Vorsitzender 368, W. Mellies als stellvertretender Vorsitzender 306 Stimmen; von den geschäftsführenden Vorstandsmitgliedern erhalten A. Nau 359, W. Eichler 346, Herta Gotthelf 331, M. Kukil 321, F. Heine 304, von den unbesoldeten Vorstandsmitgliedern W. v. Knoeringen 360, G. A. Zinn 359, F. Steinhoff 357 , H. Wehner 355, C. Schmid 353, A. Arndt 352, W. Menzel 332, F. Erler 331, Luise Albertz 324, E. Schoettle 323, M. Brauer 315, F. Neumann 300, Lisa Albrecht 292, Ella Kay 282, E. Groß 280, K. Conrad 279, H. Albertz 265, W. Birkelbach 263,Marianne Gründer 250, F. Wenzel 236, F. Bögler 222, H. Veit 218, E. Welke 213 Stimmen. In die Kontrollkommission werden gewählt: A. Schönfelder (Vorsitzender); W. Damm; E. Herder; H. Höcker; P. Löbe; Grete Rudoll; J. Steffan; F. Ulrich; Ch. Wittrock.

Nach dem Münchener Parteitag entsteht der »Wiesbadener Arbeitskreis«, dem Abgeordnete der Landtage und des Bundestages und Vertreter der Parteiorganisation angehören. Er soll weitere Schritte zur Durchführung der Münchener Resolution über die zweite industrielle Revolution vorbereiten.


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net edition fes-library | Juni 2001