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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
20./24. Juli 1954

Parteitag der SPD in Berlin. 379 Delegierte sind anwesend. Tagesordnung: Die Einheit Deutschlands und die Einigung Europas (E. Ollenhauer). Die sozialistische Gestaltung von Staat und Gesellschaft (W. Eichler).
Der Parteitag verabschiedet eine neue Fassung des Aktionsprogramms. In der Präambel heißt es u. a.: Die SPD vertritt nicht Sonderinteressen einzelner Gruppen. Ihr Ziel ist die Neugestaltung der Gesellschaft im Geiste des Sozialismus. Er allein ermöglicht allen Menschen die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Die Sozialisten kämpfen deshalb für die Gleichberechtigung aller Menschen und für ihre geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit, die in der bestehenden Gesellschaft nicht verwirklicht werden kann.
Das Menschheitsziel des Sozialismus macht ihn zu einer internationalen Bewegung. Er anerkennt das Lebensrecht und die Freiheit jedes Volkes und jeder Gemeinschaft.
Eine neue Gesellschaft, die nicht auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, fällt uns nicht durch einen gesetzmäßigen Ablauf der Geschichte zwangsläufig in den Schoß. Nur durch zielklares und verantwortungsbewußtes Handeln können wir uns eine bessere Gesellschaft erkämpfen. Im Kampf gegen die sittliche Verflachung und den materialistischen Ungeist unserer machthungrigen und profitgierigen Zeit ist der sozialistischen Bewegung auch eine große sittliche und pädagogische Aufgabe gestellt. Alle gesellschaftlichen Einrichtungen haben die Tendenz, ein Eigenleben zu entwickeln und bürokratisch zu erstarren. Es gilt, die Menschen zu befähigen, diese Gefahren zu erkennen und abzuwehren. Der Sozialismus wird also stets Aufgabe bleiben.
Die sozialistischen Ideen sind keine Ersatzreligion. Die sozialistische Bewegung stellt sich nicht die Aufgaben einer Religionsgemeinschaft. In Europa sind Christentum, Humanismus und klassische Philosophie geistige und sittliche Wurzeln des sozialistischen Gedankengutes. Die Sozialdemokratie begrüßt die wachsende Erkenntnis vieler Christen, daß das Evangelium eine Verpflichtung zum sozialen Handeln und zur Verantwortung in der Gesellschaft einschließt.
Die Kommunisten berufen sich zu Unrecht auf sozialistische Traditionen. In Wirklichkeit haben sie diese Tradition bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
Die Sozialdemokratie ist aus der Partei der Arbeiterklasse, als die sie erstand, zur Partei des Volkes geworden. Die Arbeiterschaft bildet dabei den Kern ihrer Mitglieder und Wähler. Das Verhältnis zwischen Planung und Wettbewerb wird unter die Devise gestellt: Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig.
Der Parteitag billigt gegen 20 Stimmen die Politik des Parteivorstandes und der Bundestagsfraktion im Kampf um die friedliche Wiederherstellung der Einheit Deutschlands in Freiheit. Die SPD fordert energische Anstrengungen der westlichen Welt, mit dem derzeitigen Machtbereich der Sowjets zu Verhandlungen über die Errichtung regionaler Sicherheitssysteme im Rahmen der Satzungen der UN zu kommen. In einem allumfassenden System kollektiver Sicherheit solle auch das wiedervereinigte Deutschland seinen Beitrag zur Erhaltung des Friedens leisten. Deshalb fordert die SPD beharrliches Eintreten der Bundesrepublik für weitere Verhandlungen der Großmächte.
Die feste Eingliederung der getrennten Teile Deutschlands in westliche und östliche Bündnisse wird die Fortsetzung des Kalten Krieges unvermeidlich machen und die Bedrohung des Friedens vergrößern.
Für den Fall, daß wirksame Vereinbarungen zwischen östlicher und westlicher Welt nicht zu erzielen sind, erklärt sich die SPD bereit, unter folgenden Bedingungen an gemeinsamen Anstrengungen zur Sicherung des Friedens und der Verteidigung der Freiheit auch mit militärischen Maßnahmen teilzunehmen:
Daß die Bemühungen um die Wiedervereinigung Deutschlands unablässig fortgesetzt werden; daß ein europäisches Sicherheitssystem im Rahmen der Vereinten Nationen angestrebt wird; daß Verträge, durch die sich die Bundesrepublik zu militärischen Leistungen verpflichtet, durch die Bundesregierung kündbar sind, wenn sie zu einem Hindernis für die Wiedervereinigung Deutschlands werden - sie dürfen die künftige Regierung des wiedervereinigten Deutschlands nicht binden; daß die Gleichberechtigung aller Teilnehmer und die Gleichwertigkeit der ihrem Schutz dienenden Sicherheitsvorkehrungen gewahrt sind; daß die demokratisch-parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte gesichert ist.
Die SPD wiederholt ihre Feststellung, daß die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) diesen Anforderungen nicht entspricht.
Die Bundestagsfraktion wird beauftragt, sich dafür einzusetzen, daß in einem Bundesgesetz zu Artikel 4 des Grundgesetzes »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden«, das Recht auf Verweigerung des Waffendienstes aus ethischen und religiösen Gründen gesichert wird.
Die SPD hält es für erforderlich, daß die sozialistischen Parteien aller Länder und die Internationale für eine internationale Kontrolle der Entwicklung der Atomkraft und das Verbot ihrer Verwendung im Kriege eintreten. Die Völker sollten nicht eher ruhen, bis die Großmächte einen Pakt über die Verwendung der Atomkraft abschließen, durch den eine wirksame Kontrolle der neuen Vernichtungswaffen in Ost und West garantiert wird. Die SPD richtet an alle Besatzungsmächte die Mahnung, dem deutschen Volk nicht länger den Friedensvertrag vorzuenthalten, auf den es Anspruch habe und der nur mit der freigewählten Regierung eines wiedervereinigten Deutschlands als Verhandlungspartner Zustandekommen kann.
Der Parteitag stellt mit Genugtuung fest, daß sich die Bevölkerung der Sowjetzone nicht von ihrer Forderung nach freien Wahlen und Wiedervereinigung hat ablenken lassen. Auch die SED könne nicht die Rolle verheimlichen, die die Sozialdemokraten im Widerstand der Zonenbevölkerung spielen.
Der Parteivorstand wird beauftragt, ein Programm für den Fall der Wiedervereinigung Deutschlands zu entwickeln. Das Programm soll festlegen, unter welchen Gesichtspunkten die Wiederherstellung der Einheit auf allen Gebieten des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens erfolgen soll.
Der Parteitag appelliert an die Staatsmänner, deutsche Frauen und Männer nicht noch weiterhin als Kriegsgefangene und Zivilinternierte hinter Stacheldraht in Haft zu halten.
Der Parteitag der SPD protestiert schärfstens gegen die Unterdrückungspolitik an der Saar. Der Parteitag fordert für die Grenzbevölkerung an der Saar die sofortige Herstellung der demokratischen Freiheiten und gibt dem Willen der SPD erneut Ausdruck, niemals der Abtrennung dieses Gebietes von Deutschland zuzustimmen.
Parteivorstand und Bundestagsfraktion werden aufgefordert, auf dem (mit den Anträgen zur Abschaffung der Visa und anderem) beschrittenen Weg einer eigenen aktiven Europapolitik entschlossen weiterzugehen.
Die SPD soll sich stärker als bisher mit den asiatischen Problemen befassen. Der Parteivorstand wird beauftragt, engere Beziehungen zur Asiatischen Sozialistischen Konferenz und den ihr angehörenden sozialistischen Parteien herzustellen.
Der Parteitag protestiert schärfstens gegen alle Versuche, in der Bundesrepublik die kulturelle, geistige und politische Freiheit einzuengen.
Die Unterrichtung der Presse darf nicht in den Händen der Regierung oder von ihr abhängiger Organe monopolisiert werden. Der Rundfunk muß eine unabhängige Einrichtung bleiben, die für alle Staatsbürger, die Regierung eingeschlossen, offen ist. Die Zulassung zum öffentlichen Dienst darf nur von den Fähigkeiten und der demokratischen Grundhaltung der Bewerber, nicht aber von ihrem religiösen Bekenntnis und ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Parteien abhängig sein. Die Versuche der Klerikalisierung und konfessionellen Aufspaltung aller Gebiete des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens wirken der Entwicklung der Bundesrepublik zu einer gesunden Demokratie entgegen.
Die SPD-Fraktionen in den Parlamenten sollen den Bestrebungen zur Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Unternehmungen grundsätzlich entgegentreten. Die Bundestagsfraktion wird beauftragt, sofort im Parlament Schritte zu unternehmen, die eine Einführung der Altersversorgung für die Bauern, die Handwerker und die selbständig Schaffenden sichern.
Die Bundestagsfraktion soll unverzüglich im Bundestag einen Antrag einbringen, daß die Konvention Nr. 100 über den gleichen Lohn für gleiche Arbeit, wie sie die Internationale Arbeitsorganisation im Juni 1951 beschlossen hat, durch die Bundesregierung ratifiziert wird.
Der Parteitag fordert, daß Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung unverzüglich entscheidende Maßnahmen treffen, um die rechtliche und sittliche Pflicht zur Wiedergutmachung, die eine Ehrenschuld des deutschen Volkes ist, endlich zu erfüllen. Der Parteitag beauftragt die Bundestagsfraktion, den Entwurf eines Jugendarbeitsschutzgesetzes dem Bundestag zur Verabschiedung vorzulegen.
Die Mitgliedschaft in akademischen Korporationen, die dem Kartellverband Deutscher Korporationsverbände (schlagende Verbindungen) angehören, ist mit der Mitgliedschaft in der SPD unvereinbar.
Der Parteitag beschließt eine Änderung des im Organisationsstatut festgelegten Ausschlußverfahrens.
Der Parteitag begrüßt die Feststellung des Parteivorstandes, daß Ämterhäufung die Parteiarbeit erheblich beeinträchtigt. Das dürfe sich aber nicht nur auf gleichzeitige Bundes- und Landtagsmandate beziehen, sondern auch auf andere Funktionen im öffentlichen Leben und in den Organisationen.
Der Umfang der Propagandatätigkeit der Partei muß gesteigert, die Wirksamkeit der Mittel noch erhöht und die Methoden der Verteilung verbessert werden. Größeres Gewicht muß auf die organisatorische Kleinarbeit gelegt werden, besonders auf die ständige Werbearbeit für die Partei in Betrieben, Haushaltungen und bei Zusammenkünften im Alltagsleben.
Die Gesellschaft »Konzentration« wird beauftragt, gemeinsam mit den zuständigen Organisationsleitungen der Partei zu prüfen, in welcher Weise die periodisch erscheinenden Parteipublikationen gefördert und auf eine bessere finanzielle Basis gestellt werden können.
Zur Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms wird eine Programmkommission eingesetzt. Ihr gehören unter der Federführung von W. Eichler an: H. Albertz, A. Arndt, S. Bärsch, O. Bennemann, W. Birkelbach, W. Brandt, M. Brauer, H. Demeter, W. Eichler, F. Erler, E. Franke, B. Genrich, Herta Gotthelf, W. Gülich, W. Hansen, F. Heine, W. Jacobi, W. Jaksch, W. Jansen, H. Kalbitzer, J. Kappius, Irma Keilhack, W. v. Knoeringen, H. Kriedemann, H. Kühn, G. Kurlbaum, J. Lipschitz, G. Lütkens, F. Maier, G. Markscheffel, K. Meitmann, W. Menzel, L. Metzger, P. Nevermann, W. Odenthal, K. Ohlig, K. Pohle, L. Preller, K. Schiller, C. Schmid, H. Schmidt, J. Schöne, E. Schoettle, G. Stierle, Käte Strobel, O. Suhr, W. Tenhagen, H. Veit, H. Wehner und G. A. Zinn.
E. Ollenhauer wird bei 366 gültigen Stimmen mit 342 zum Parteivorsitzenden, W. Mellies mit 279 Stimmen zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Zu besoldeten Mitgliedern werden W. Eichler (325), A. Nau (321), Herta Gotthelf (277), M. Kukil (244), F. Heine (242); zu unbesoldeten Mitgliedern H. Wehner (302), W. v. Knoeringen (288), W. Menzel (285), G. A. Zinn (278), H. Albertz (277), F. Neumann (270), Elfriede Selbert (257), Louise Schroeder (255), C. Schmid (250), F. Steinhoff (249), H. Veit (237), Luise Albertz (235), A. Gayk (235), E. Schoettle (230), E. Groß (225), M. Brauer (222), Lisa Albrecht (214), F. Haas (211), W. Jaksch (207), F. Bögler (206), F. Wenzel (196), H. Kühn (188) gewählt. Nicht gewählt werden u. a. F. Erler (173) und W. Brandt (155).
Mitglieder der Kontrollkommission werden A. Schönfelder (Vorsitzender), W. Damm, E. Herder, H. Höcker, P. Löbe, Grete Rudoll, J. Steffan, F. Ulrich, Ch. Wittrock.



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