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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
5./6. Okt. 1945

In Wennigsen bei Hannover wird die erste überregionale sozialdemokratische Parteikonferenz nach dem Kriege durchgeführt. Die Konferenz sollte ursprünglich die Parteivertreter aus allen westlichen Zonen umfassen und in dreitägigen Beratungen alle aktuellen politischen Fragen behandeln. Im letzten Augenblick muß auf Anordnung der britischen Militärregierung dieser Plan geändert werden. Zugelassen wird eine eintägige Konferenz der Delegierten aus der britischen Besatzungszone unter Hinzuziehung der Gäste aus London (E. Ollenhauer; F. Heine; E. Schoettle). Außerdem werden private Besprechungen K. Schumachers mit den anwesenden Delegierten aus den beiden anderen westlichen Zonen bewilligt.
Auf der Konferenz und bei den Besprechungen sind alle Parteibezirke vertreten. Vom Zentralausschuß in Berlin sind O. Grotewohl, M. Fechner und G. Dahrendorf erschienen.
Die Konferenz erklärt sich mit den Grundlinien des Hauptreferates von K. Schumacher einverstanden, in dem er u. a. sagt: Die Klasse der Industriearbeiter ist die Hausmacht der SPD. Ohne die Arbeiter kann die Sozialdemokratie keinen Schritt tun.
Entscheidende Erfolge freilich gibt es erst, wenn es von dieser Plattform aus gelingt, die mittelständischen Massen zu gewinnen. Der demokratisch orientierte Mittelstand ist die Voraussetzung für die Stabilität der neuen Ordnung.
Der Klassenkampf war und ist die große gesellschaftliche Tatsache. Nun müssen die klassenpolitischen Auseinandersetzungen in solchen Zeiten den ganzen Nachdruck auf die Veränderung der Wirtschaft und der Gesellschaft legen und noch stärker als sonst berücksichtigen, daß die Klassen variable und fluktuierende Grenzen haben, in sich aufgespalten sind und von differenzierenden Interessen der einzelnen Teile beherrscht werden. Starke Bestandteile der alten besitzenden Klassen sind aber noch vorhanden, und neue bilden sich heraus. Als äußerste Klassengrenze, nach der sich unsere Politik zu richten hat, wird jetzt nicht schlechthin die Tatsache des Eigentums an Produktionsmitteln erkennbar, sondern der Umfang, die Intensität und die Anwendung der Eigentumsrechte. Das Unterscheidungsmerkmal ist die Frage, ob das Eigentum im Sinne der kapitalistischen Ausbeutung angewendet wird oder nicht.
Der kleine Eigentümer gehört nicht zu den Besitzverteidigern, sondern an die Seite der Besitzlosen.
Gewiß ist heute die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes antikapitalistisch. Aber das bedeutet noch keine Bejahung des Sozialismus oder auch nur die Erkenntnis der Notwendigkeiten einer planmäßig gelenkten Wirtschaft.
Nachdem die Hoffnung der Kommunistischen Partei, sich als führende Arbeiterpartei etablieren zu können, von den Tatsachen so völlig unmöglich gemacht wird, muß sie nach dem großen Blutspender suchen. Das Rezept ist die Einheitspartei, die einen Versuch darstellt, der sozialdemokratischen Partei eine kommunistische Führung aufzuzwingen.
So wird die Sozialdemokratische Partei zur schicksalsentscheidenden Kraft der deutschen Politik!
Auch für uns gilt der Satz, daß wir nicht da anknüpfen können, wo wir 1933 aufgehört haben. Auch wir werden unser theoretisches Rüstzeug und unsere politischen Methoden überprüfen müssen.
Unverzichtbar ist für die Partei nur der Wille ihrer Mitglieder, Sozialist, Demokrat und Träger der Friedensidee zu sein.
Die Konferenz ist sich einig, daß eine programmatische Festlegung der Politik der Partei noch nicht möglich ist, sie stimmt jedoch überein, daß die Partei auf eine weitgehende Sozialisierung drängen müsse.
Bei den Verhandlungen zwischen den Delegationen wird festgestellt:
Der Zentralausschuß in Berlin und die Vertreter der Partei in den westlichen Zonen erkennen die Gültigkeit des Mandats des im April 1933 gewählten Parteivorstandes an. Sie akzeptieren den Standpunkt der Vertreter des Parteivorstandes, daß sie ihr Mandat dem ersten Parteitag mit einem Rechenschaftsbericht über ihre Tätigkeit in der Emigration zurückgeben und damit ihre Treuhänderrolle für die Partei beenden wollen. Unabhängig von der Beendigung dieses Treuhänderauftrages ist schon jetzt die Mitarbeit der Vertreter des Parteivorstandes beim Wiederaufbau der Partei in Deutschland dringend erwünscht. Es wird vereinbart, daß E. Ollenhauer und F. Heine sobald als möglich nach Deutschland zurückkehren. Soweit die Vertretung des Parteivorstandes in London bis zur Rückgabe ihres Mandats an die Gesamtpartei die Interessen der Partei im Ausland wahrnimmt, ist sie berechtigt, im Namen der jetzt in Deutschland wiedererstehenden Partei zu sprechen.
Zur Frage des Verhältnisses zu den Kommunisten werden keine offiziellen Beschlüsse gefaßt. Als übereinstimmende Auffassung aller Beteiligten kann aber festgestellt werden: Die Frage einer organisatorischen Einigung mit der KPD steht für die Sozialdemokraten in allen Teilen Deutschlands zur Zeit nicht zur Diskussion.
Zum Problem der Emigration sind die meisten Teilnehmer der Auffassung, daß es in der Partei keine Animosität gegen die politische Emigration gibt. Die Mitglieder im Lande sind nicht in jedem Fall davon überzeugt, daß die Notwendigkeit einer Emigration vorlag. Sie wünschen aber, die Emigranten, die bereit sind, in der Partei wieder mitzumachen, sobald als möglich wieder in Deutschland an der Arbeit zu sehen.



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net edition fes-library | Juni 2001