Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
SPD-Parteitag in Hamburg. 371 Delegierte sind anwesend. Tagesordnung: Die Sozialdemokratie im Kampf für Deutschland und Europa (K. Schumacher); Sozialdemokratische Wirtschaftspolitik - der Weg zur Vollbeschäftigung (H. Veit); Die SPD vor der geistigen Situation dieser Zeit (C. Schmid). Bei 353 gültigen Stimmen wird K. Schumacher mit 345 Stimmen zum Vorsitzenden, E. Ollenhauer mit 348 Stimmen zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt. Als besoldete Mitglieder erhalten A. Nau 322, F. Heine 314, Herta Gotthelf 296, E. Franke 295 Stimmen; als unbesoldete Mitglieder W. v. Knoeringen 348, W. Menzel 340, H. Veit 339, C. Schmid 332, E. Schoettle 330, F. Henssler 328, Louise Schroeder 328, W. Eichler 318, Anni Krahnstöver 317, W. Jaksch 314, F. Neumann 310, A. Gayk 307, H. Albertz 302, F. Bögler 300, Elisabeth Selbert 294, E. Reuter 288, Lisa Albrecht 282, K. Meitmann 277, E. Groß 264, B. Leddin 257, W. Fischer 248, F. Steinhoff 242, A. Dobbert 234 und Luise Albertz 226 Stimmen.
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
21./25. Mai 1950
E. Ollenhauer erklärt, das erste Wort dieses Parteitages sei: »Wir rufen die Welt! Helft uns, damit unsere Kriegsgefangenen frei werden!« In der Diskussion zum Referat K. Schumachers wird hauptsächlich der Beitritt zum Europarat erörtert, wobei sich P. Löbe, M. Brauer, W. Brandt für einen Beitritt aussprechen.
C. Schmid erklärt in seinem Referat:
Es wird neu geprüft werden müssen, ob wir die Waffen vergangener Tage noch mit Nutzen werden gebrauchen können, und wir werden untersuchen müssen, ob wir Notwendigkeit und Richtigkeit unseres strategischen Konzeptes noch mit den alten Formeln glaubhaft machen können, und wir aufzugeben haben, was nur aus den spezifischen Umständen der Zeit heraus, in der es entstand, gerechtfertigt war. Aber wir haben nicht zurückzunehmen, daß es trotz aller Fortschritte der Sozialpolitik und aller Hebung des Lebensstandards eine unterdrückte Klasse gibt, die sich befreien will und nicht befreit wird. Sie ist unterdrückt, weil sie noch auf der Situation des Objektes festgehalten wird. Sie ist Objekt, weil ihre ökonomische Situation durch andere als sie selbst bestimmt wird, und weil innerhalb des Raumes, der ihr dabei angewiesen wird, das Los des einzelnen Arbeiters von dem Willen eines Fremden bestimmt wird, der dieses Bestimmungsrecht hat, weil er Eigentümer oder von Eigentümern bestellter Manager ist. Solange hier nicht der Wandel geschaffen ist, bleibt die politische Demokratie ein Torso. Wir haben auch nicht zurückzunehmen, daß die Schaffung der klassenlosen Gesellschaft das Endziel unserer Bemühungen sein muß.
Die Partei muß eine politische Partei sein, d. h. sie kann keine Ersatzkirche und keine Sekte sein wollen. Sie ist nichts als der Zusammenschluß von Menschen, die sich entschieden haben, auf der Grundlage gemeinsamer Vorstellungen von der Würde des Menschen und gemeinsamer Einsichten in das, was um der Wahrung und Wiederherstellung der Würde des Menschen willen not tut, einiges Grundlegende in den heutigen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen dieser Welt von der Wurzel aus zu verändern. Aus welchen Gründen der einzelne die Entscheidungen getroffen hat, zu unserer Partei zu stoßen, ist gleichgültig.
Diese Partei, die SPD, kann denen, die sich ihr angeschlossen haben, kein Rezept für die Erfüllung ihres eigenen individuellen Lebens geben. Sie kann ihnen auch nicht die letzten Entscheidungen abnehmen und auch nicht bieten, was man eine »geistige Heimat« nennt.
Man wird Sozialdemokrat dadurch, daß man sich jedesmal, wenn die Partei vor eine Entscheidung gestellt wird, zusammen mit allen anderen aus der Partei, an eine persönliche Entscheidung wagt und für die Entscheidung einsteht, für die sich die Partei ausgesprochen hat.
Die SPD lehnt eine Wiederaufrüstung und die Einführung einer militärischen Dienstpflicht ab.
Zur Initiative von R. Schuman erklärt der Parteitag, daß er jedes Bemühen willkommen heißt, das zu ernsten, gestaltenden Verhandlungen führen kann. Ihre endgültige Stellungnahme will die SPD von der tatsächlichen Gleichheit aller Partner abhängig machen.
Die SPD ruft alle Demokraten der Welt auf, sich zu einem gemeinsamen Protest für die schnelle Befreiung der Kriegsgefangenen zusammenzuschließen.
Der Parteitag weist warnend auf die Zustände in der Sowjetzone hin. Dort herrscht uneingeschränkter Terror. Der kommunistische Ausrottungskampf hat unter den Sozialdemokraten Mitteldeutschlands große Opfer gekostet. Tausende von Funktionären der SPD sowie zahllose namenlose Freiheitskämpfer, die heute in den Gefängnissen und KZ's der sowjetischen Besatzungszone oder der Sowjetunion leiden, sind Zeugen dieses Kampfes. Der Parteitag weist besonders auf die Militarisierung der Sowjetzone hin. Die kommunistische Aggressionspolitik hat die Zonengrenzen zu einer Frontlinie im kalten Krieg gemacht.
Der Parteitag grüßt mit Stolz und Zuversicht die Genossen in der Sowjetzone und erklärt seine enge Verbundenheit mit ihrem opferreichen Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie.
Der Parteitag fordert die Wiederherstellung der deutschen Einheit durch freie, gesamtdeutsche Wahlen. Voraussetzung dieser Wahlen ist jedoch die Gewährleistung der freien Betätigung aller demokratischen Parteien unter Viermächtekontrolle als wirksame Garantie für die Abwehr aller bolschewistischen Terrorversuche.
Der Parteitag billigt die vom Wirtschaftspolitischen Ausschuß vorgelegten Richtlinien:
Die wirtschaftliche Fehlentwicklung großen Ausmaßes seit der Währungsreform ist gekennzeichnet: durch die Millionenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik und in Berlin und durch die Gefahr, daß der nächste Winter ein weiteres erhebliches Anwachsen der Arbeitslosigkeit bringt; durch die Unterlassung, sofort nach Eintritt der Währungsreform neue Arbeitsmöglichkeiten an den geeigneten Stellen für freigesetzte Arbeitslose und Flüchtlinge zu schaffen; durch die immer ungerechter gewordene Einkommensverteilung; durch umfangreiche Fehlinvestitionen, in deren Folge eine übermäßige Ausdehnung insbesondere des Verkaufsapparates entstand, während die dringend notwendige Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze vernachlässigt wurde; durch das überhohe Maß der Selbstfinanzierung der Betriebe, die auf Kosten der Konsumenten durch überhöhte Preise erfolgte und ihnen Anschaffungen und Sparen weitgehend unmöglich machte; durch den Verzicht auf die zur Herstellung gesunder sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse erforderlichen Veränderungen.
Um diese wirtschaftliche Fehlentwicklung zu korrigieren, fordert die SPD u.a.:
Einen volkswirtschaftlichen Gesamthaushalt (Nationalbudget), der als Kernpunkte Investitionsbilanz und Zahlungsbilanz enthalten muß;
zur Vermehrung der Kapitalbildung, insbesondere durch Kleinsparen, steuerliche Anreize zur Anregung des Zwecksparens sowie Kapitalbildung der öffentlichen Hand. Das jetzige ungesunde Maß der Investitionsfinanzierung aus Gewinnen (Selbstfinanzierung) ist zugunsten der Investitionsfinanzierung über die gemeinnützigen und privaten Kapitalsammelstellen einzu-
schränken.
Die wünschenswerte Intensivierung des internationalen Güteraustausches bedingt das Eintreten der SPD für eine europäische Zahlungsunion. Das Ziel ist eine europäische Wirtschaftspolitik unter einer gemeinsamen demokratischen Autorität.
Die SPD protestiert dagegen, daß bei Betriebseinschränkungen Frauen in der Regel zuerst entlassen werden.
Die SPD unterstützt den Kampf der Helgoländer um Erhaltung und Rückgewinnung ihrer Heimat.
Der Parteitag fordert die Schaffung eines öffentlich verantwortlichen Beirats bei jeder Rundfunkanstalt, der sichern soll, daß die politischen Teile der Rundfunkprogramme unvoreingenommen der Aufklärung des Volkes dienen.
In allen Gemeinden, Städten, Kreisen und Ländern muß dafür gesorgt werden, daß die öffentlichen Gemeinde- und Schulbibliotheken so ausgestattet werden, daß die für die politische Erziehung notwendige Literatur vorhanden ist.
Die Bundestagsfraktion soll darauf achten, daß die Bundesregierung bei der Bildung von Ministerien und sonstigen Körperschaften sowie bei Erstellung und Einrichtung von Verwaltungs- und Repräsentationsgebäuden größte Sparsamkeit walten läßt. Bei Anstellung von Beamten und Angestellten ist strengstens darüber zu wachen, daß nur zuverlässige, sozial eingestellte Demokraten in Frage kommen.
Der Parteivorstand soll in Zusammenarbeit mit der Bundestagsfraktion unverzüglich ein Arbeitsprogramm für die dringlichsten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fragen ausarbeiten. Es muß Grundlage des nächsten Wahlkampfes sein und ein sozialdemokratisches Regierungsprogramm werden.
Der Parteivorstand wird beauftragt, die Tätigkeit der Fraktion des Bundestages, der sozialdemokratischen Mitglieder des Bundesrates und der Landtage in Fragen der Gesamtpolitik der Partei stärker als bisher zu koordinieren.
In dem neuen Organisationsstatut wird zwischen Ortsverein und Bezirk wieder der Unterbezirk anstelle der Kreisorganisation eingeführt. Die Finanzhoheit der Bezirke in der Festsetzung der Mitgliedsbeiträge geht auf die Gesamtpartei über.
Sitz der Gesamtpartei ist Berlin. In der Übergangszeit kann der Vorstand einen anderen Sitz bestimmen.
Mitglieder der Kontrollkommission werden bei 354 gültigen Stimmen A. Schönfelder (Vorsitzender) mit 344, W. Damm mit 348, E. Herder mit 347, J. Steffan mit 347, G. Bradtke mit 345, G. Richter mit 344, Chr. Wittrock mit 340 und H. Höcker mit 331 Stimmen.