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TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
4. Mai 1977

W. Brandt weist in seiner Rede zum 30. Jahrestag der Eröffnung des Karl-Marx-Hauses in Trier darauf hin, daß keine Veranlassung bestehe, den Standort der deutschen Sozialdemokraten neu zu bestimmen. Die SPD sei keine Partei, die vor ihrer eigenen Geschichte flüchte. Für die Sozialdemokraten sei dies eine willkommene Gelegenheit, sich erneut und selbstbewußt auf die freiheitlichen Traditionen der Arbeiterbewegung und des Sozialismus zu besinnen.
In der Periode zwischen den Weltkriegen hat die kommunistische Spaltungspolitik die sozialistische Arbeiterbewegung des Westens nur schwächen können; hier in Deutschland, wo die Kommunisten am stärksten waren, hat ihr blinder Kampf gegen die Sozialdemokratie - deren Schwächen und Irrtümer auf einem anderen Blatt stehen - mit dem Siege nicht der kommunistischen, sondern der nationalsozialistischen Diktatur geendet. Nach dieser Erfahrung sind die Kommunisten im Nachkriegsdeutschland außerhalb der sowjetischen Machtsphäre niemals über eine Sektenrolle hinausgekommen.
Aber es scheint mir noch bedeutsamer, daß dort, wo sich in der Nachkriegszeit kommunistische Massenparteien in entwickelten demokratischen Ländern behaupteten - in Frankreich, in Italien, in Japan - diese Parteien früher oder später in einem oft langen und mühsamen Prozeß begonnen haben, sich ihrer demokratischen Umwelt anzupassen und sich vom Dogma der Parteidiktatur wie von einer sklavischen Orientierung am sowjetischen Vorbild freizuschwimmen.
Aus der Sicht und Verantwortung der deutschen Sozialdemokratie sehe ich keine Basis für Bündnisse. Hier müssen zwei Dinge auseinandergehalten werden, die nicht in einen Topf gehören: Eine Sache sind die prinzipiellen Gegensätze, die uns vom Kommunismus trennen. Eine andere Sache ist die Erkenntnis, daß die Unterschiedlichkeiten der politischen Ordnungen und gesellschaftlichen Systeme das Bemühen um den Abbau von Spannungen nicht behindern darf. Im Gegenteil, die Verantwortung für das Überleben und für kommende Generationen gebietet, daß an der Friedenssicherung beharrlich gearbeitet wird und daß im Zusammenhang damit immer wieder neue Anstrengungen unternommen werden, Gebiete eines gemeinsamen Interesses zu erschließen. Dies ist der Weg, auf dem auch für menschliche Erleichterungen einiges erreicht werden kann. Die Welt wäre zum Untergang verurteilt, wenn sie ideologische Meinungsunterschiede durchgängig und radikal zur obersten Maxime der Auseinandersetzung und des Kampfes machen wollte.
Wir haben es längst noch nicht erreicht, daß Demokratie als praktische Form der Freiheit in allen relevanten Bereichen unserer Gesellschaft herrscht. Es kann uns nicht verborgen bleiben, daß - trotz der geschichtlichen Erfolge der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie - der arbeitende Mensch noch immer alte und immer wieder auch neue Formen der Entfremdung, der Unfreiheit zu überwinden hat. Die Herausforderung ist groß. Sie verlangt alle Anstrengungen von allen politischen Kräften, die darum ringen, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zunehmend Wirklichkeit werden zu lassen. Was immer wir erreichen werden: als Erben sozialistischen Denkens und der bürgerlichen Revolution werden demokratische Sozialisten nicht den Fehler machen, das Erreichte für endgültig zu halten. Die Vorstellung einer endgültigen Gesellschaftsreform ist ein ebenso schöner wie leerer und sie ist ein gefährlicher Traum. Wir werden also immer wieder prüfen, ob die erreichte Freiheit Hand in Hand geht mit Gerechtigkeit in all den Bereichen, in denen jeder einzelne frei sein kann. Und ob jene Brüderlichkeit, jene Solidarität herrscht, die Freiheit möglich macht. Für uns bleibt Freiheit, was sie für Karl Marx war: der kritische Maßstab, an dem sich jede Ordnung zu rechtfertigen hat.
Der demokratische Sozialismus wird damit nicht zur Utopie, Sozialismus nicht zu einer Leerformel - auch nicht zu einer solchen des Godesberger Programms. Sozialismus bedeutet für uns vielmehr einen Entwurf auf Freiheit hin, der offen bleibt, in Bewegung und damit menschlich.



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net edition fes-library | Juni 2001