DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

DEKORATION DIGITALE BIBLIOTHEK DER FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG DEKORATION


TITEL/INHALT

Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001

Stichtag:
27./28. Jan. 1977

Auf einer öffentlichen Sitzung des erweiterten Parteirates der SPD in Bad Godesberg erklärt W. Brandt: Es gibt in diesem Abschnitt der deutschen Politik keine vernünftige Alternative zur sozial-liberalen Koalition. Sozialdemokraten sind nicht dazu da, Wunschträumen nachzujagen, aber auf das Prinzip Hoffnung können sie nicht verzichten. Womit wir es zu tun haben, sind drei miteinander verbundene Aufgabenfelder: Die geschlossene Unterstützung der von uns getragenen Bundesregierung und die unablässige Bereitschaft, ihren Maßnahmen und Vorhaben die notwendige Resonanz im Volke zu geben. Unser Wirken in den gesellschaftlichen Gruppen, unser andauerndes Gespräch mit dem Bürger, damit wir seine Wünsche und Bedürfnisse aufgreifen und ihn über Wahlen hinaus am demokratischen Prozeß teilhaben lassen können. Die Partei selbst, die ihre Grundwerte und ihre Grundforderungen zur Richtschnur für die Veränderung der Wirklichkeit macht und sich zugleich als ein Forum versteht, auf dem - unter uns und mit anderen - um die Lösung schwieriger Probleme gerungen wird - so freimütig und auch so frühzeitig, wie es nur möglich sein kann. Erst aus der Zusammenarbeit dieser drei Felder formt sich die Qualität, die wir brauchen, damit wir Orientierung geben können. Die SPD wird keine Partei des Kleinmuts und ganz gewiß keine Partei einer Philosophie des Verfalls und Untergangs; Spengler findet bei uns nicht statt.
Wir müssen uns rechtzeitig einstellen auf das, was sich, zumal bei den jüngeren Menschen, als ein neues Lebensgefühl zu entwickeln begonnen hat. Kein Sozialdemokrat darf sich dazu hergeben, dem politischen Gegner Munition zu liefern oder seine Kampagnen achtlos zu verstärken. Jeder sollte wissen, daß unsere Sympathie und unsere guten Wünsche bei denen sind, die in der DDR, in der CSSR und anderswo in Osteuropa drangsaliert werden, weil sie den Anspruch auf elementare Bürger- und Menschenrechte geltend machen.
Unser Verhältnis zum Kommunismus muß für jeden Gutwilligen zweifelsfrei bleiben, und ich muß darauf bestehen, daß allen Versuchen einer Unterwanderung weiterhin wachsam begegnet wird.
Wir setzen das Recht auf mitbürgerliche Eigenbestimmung gegen den kapitalistischen Kollektivismus der Verfremdung und gegen jenen kommunistischen Kollektivismus, bei dem von der Freiheit des einzelnen nichts übrigbleibt.
Wir sind gegen die »Vergesellschaftung« des einzelnen.
Für E. Eppler steht die SPD im Augenblick an einer Art Wegegabelung. Was wir da an Schildern finden, das ist entweder verrostet oder auch verdreht in den Richtungen. Dieses Bild bedeutet, daß keiner von uns weiß, wo der Weg langgeht, wie die Gesellschaft der 80er Jahre wirklich aussehen wird; aber es geht auch im Augenblick darum, eine Richtung zu finden, in der auch kleine Schritte richtig sein können. An diesem Punkt fürchte ich, daß die größte, vielleicht sogar lebensgefährlichste Gefahr für diese Partei ist, daß wir uns gegeneinander - übrigens gar nicht unbedingt nach dem alten Links-Rechts-Schema - in völlig falsche Alternativen verrennen.
Die Frage ist doch nicht, ob wir Wachstum wollen oder nicht, sondern was denn nun eigentlich wachsen soll und ob wir endlich Kriterien dafür finden.
H. Koschnick erläutert die von ihm und H. Börner im Auftrage des Parteivorstandes ausgearbeitete Analyse des Bundestagswahlkampfes und seine Folgerungen für die SPD und betont, daß die Konzeption der SPD von vornherein gegen die Schwierigkeit zu kämpfen hatte, mit der Perspektive eines »Modell Deutschland« ihren Weg zwischen kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaftsordnungen aufzuzeigen, denn die theoretischen Grundlagen dieses Weges und seine Ziele sind noch nicht bewußtseinsmäßig umgesetzt. Entscheidend war, daß wir allzulange von der Leistungsbilanz gelebt und zu wenig klar die konkreten Perspektiven herausgearbeitet haben.
In diesem Wahlkampf sind einige gravierende Mängel unserer Parteiorganisation deutlich geworden, die wir unbedingt überwinden müssen, wollen wir die alte Schlagkraft wieder erreichen.
Hemmungslose Auseinandersetzungen, Gruppenstreit ohne solidarische Bindung und ähnliches machen ein Umsetzen sozialdemokratischer Grundsätze in praktische Politik fast unmöglich. Denn wie wollen wir den Anspruch Solidarität gegenüber den Nichtmitgliedern vermitteln, wenn wir selbst im Umgang untereinander freundschaftliche und solidarische Bindungen preisgeben. Ähnliche Negativwirkungen hat die Diskussion um Ämterhäufung und Verfilzung.
Unsere Glaubwürdigkeit wird dadurch gestärkt, daß man in einer Zeit gefährdeter ökonomischer Existenz und vielfacher Unsicherheit über zukünftige Entwicklungen eine unruhige Bürgerschaft, die sich in Bürgerinitiativen und ähnlichen Organisationen zusammenfindet, nicht als parteifeindlich verteufelt. Soweit diese Gruppen mit legalen Mitteln um ihre Absichten streiten, soweit sollten wir versuchen, sie in die politische Meinungsbildung dadurch einzubeziehen, daß man politische Prozesse durchsichtiger macht und politische Alternativen entwickelt. Ängste und Sorgen beseitigt man nicht durch Verbote und auch nicht durch Gerichtsurteile, sondern nur in offener Aufklärungsarbeit, solange Bedürfnis und Bereitschaft zum Gespräch beim besorgten Bürger bestehen.
Für alle Arbeitsgemeinschaften gilt nach Auffassung von H. Börner und mir, daß sie im Wahlkampf keine Sonderrolle spielen dürfen, wohl aber sollten sie im Rahmen eines Gesamtkonzepts eigenständige Wahlaktivitäten entwickeln. Wahlkampfaussagen, die im Gegensatz zur zentralen Wahlplattform stehen, sind kaum geeignet, Vertrauensarbeit für die Gesamtpartei glaubwürdig zu machen.
Entgegen häufig anderen Darstellungen in der Öffentlichkeit - auch in den Parteigremien - können wir heute feststellen, daß der Wahlkampfeinsatz der Jungsozialisten dazu geführt hat, daß in weiten Teilen der Bundesrepublik die junge Generation auch diesmal wieder überwiegend SPD gewählt hat. Träger der sozialdemokratischen Erfolge sind im entscheidenden Maße die Arbeitnehmer. Nun kommt es darauf an, deren Vertrauen nicht zu verspielen.
E. Bahr stellt fest: Mängel in der Partei schaden der Regierung. Mängel in der Regierung schaden der Partei. Fehler bezahlen wir alle. Die Kommunikation hat in den letzten Wochen von unten nach oben besser funktioniert als umgekehrt. Es könnte nichts schaden, wenn wir uns auch generell in der Partei und nach außen so ausdrücken, daß es auch die Menschen verstehen, die nicht studiert haben. Die Partei und ihre Organisation ist in einer gewaltigen Umschichtung. Ich stelle mit Erschrecken immer wieder fest, daß eine große Zahl jüngerer Genossen von unserer Parteigeschichte zuwenig weiß. Diese Partei hat, während sie in der Bedrängnis wuchs, das entwickelt, was man inzwischen mit einer Mischung von Herablassung und Neid »Stallgeruch« nennt. Positiv heißt das: Ein Gefühl für Geborgenheit und politische Heimat. Wenn man es negativ ausdrückt, heißt das: »Mief«. Die junge Generation in unserer Partei fordert zuweilen unnachsichtig, daß allein Vernunft und Erkenntnis bei uns entscheiden sollen. Es gibt Parteimitglieder, die mit der Brillanz ihres Gehirns nicht nur leuchten, sondern auch Kälte ausstrahlen. Ich bin nicht stark in Physik gewesen, aber es gibt so etwas wie kaltes Licht - und sogar das muß es geben. Natürlich auch in einer Volkspartei wie der unseren. Aber insgesamt täte es gut, wenn wir etwas von dem Gefühl bewahren, was die Partei zur politischen Heimat macht. In unserem technischen Zeitalter sollten wir nicht geringachten, daß der Mensch Geborgenheit braucht.
Die Partei muß viele Themen diskutieren, die ihr von außen aufgezwungen werden. Sie sollte versuchen, sich auf ein eigenes Thema zu konzentrieren, für das sie auch unter Erfolgszwang steht und sich stellt. Ich meine die Durchsetzung des Prinzips gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Das ist uns eine politische Überzeugung, auch wenn hier die Kompetenz der Gewerkschaften besonders gefragt ist.
Bis zum Jahre 1984 hat das Bundesverfassungsgericht uns aufgegeben, die Gleichstellung von Mann und Frau, soweit es sich um Witwen und Witwer handelt, zu regeln. Über allen Sorgen von Heute und Morgen ist das eine Aufgabe, der wir uns in den nächsten Jahren zuwenden müssen, auch wenn sie uns heute übergroß erscheint. Ich hoffe, daß die Partei in allen Gliederungen für dieses Ziel kämpfen wird.
H. Schmidt erklärt: In einer Koalition sind Kompromisse notwendig, und manche Deutsche hören ja immer da das Adjektiv »faul« gleich mit. Dazu möchte ich sagen, auch wegen der Angst, die FDP werde zu stark und die Kompromisse könnten zu stark auf deren Seite gehen: Ich habe solche Furcht eigentlich nicht. Ich habe die Freien Demokraten als ganz faire Partner kennengelernt in diesen sieben Jahren; natürlich läuft auch mal etwas anders, als man es möchte. Es geht denen auch so. Klar ist, daß jede Partei ein Selbstdarstellungsbedürfnis hat. Das muß jede Partei auf ihre eigene Weise tun. Es wäre ganz gut, wenn einige FDP-Politiker davon absehen würden, uns allzu regelmäßig als ihren Watschenmann zu benutzen.
Welche Überschriften, welche Wahlprogramme, welche Bilder, welche Plakate, welche Handzettel, das ist alles schrecklich wichtig in einem Wahlkampf, aber die Gesamtpolitik in Gemeinden und Ländern und Bund über vier Jahre, die ist noch wichtiger, wenn man die Regierungs- und wenn man die Gesetzgebungsgewalt behalten will.
W. Brandt faßt das Tagungsergebnis zusammen: Wer geglaubt hat, die führenden Sozialdemokraten der Bundesrepublik würden hier zusammenkommen, um gegeneinander die Messer nicht nur zu wetzen, sondern auch zu benutzen, der sieht sich enttäuscht. Wir haben zwei Tage sachlich und solidarisch diskutiert. Wir haben damit einen guten Anfang gemacht für einen Abschnitt unserer Arbeit. Wir erwarten von den Bürgern Mitarbeit, wir laden sie ein zu dieser Mitarbeit an den Problemen, die wir nur gemeinsam meistern können. Die Bürger erwarten von uns Antworten auf ihre Fragen, die sie heute in der Sorge um die Sicherheit stellen, die sie aber auch an die Zukunft richten.
Nach diesen Wochen der Selbstkritik gilt es, Konsequenzen zu beherzigen und miteinander anzupacken, was vor uns liegt.
W. Brandt ist sicher, daß er ohne Widerspruch einige Feststellungen treffen kann: Die SPD wird H. Schmidt und seine, unsere Regierung, geschlossen unterstützen, d.h. zugleich, wir stehen im Sinne fairer Partnerschaft zum Regierungsbündnis mit den Freien Demokraten. Unsere Freunde im Bundestag und in der Regierung wissen, was wir von ihnen erwarten, damit es wieder Vollbeschäftigung gibt. Hier hat sich gezeigt, daß unsere Freunde in den Gewerkschaften bereit und fähig sind, ihre Position nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Partei in aller Offenheit zu vertreten. Die Ergebnisse des Koschnick/Börner-Papiers bilden eine wichtige Grundlage für unsere weitere Arbeit. Wir stimmen überein, daß an der Einigung Europas beharrlich weitergearbeitet werden muß und bereiten uns auf die Direktwahl zum Europäischen Parlament vor. Wir halten fest an dem Bemühen um aktive Sicherung des Friedens und bereiten uns vor auf einen konstruktiven Beitrag zur Überwindung des Konfliktes zwischen Nord und Süd in der Welt.
Auf dem kommenden Parteitag sollen behandelt werden: der Zusammenhang zwischen Beschäftigungs- und Bildungspolitik; Energie-, Umwelt- und Beschäftigungspolitik; Europapolitik und die Überwindung des Konflikts zwischen Nord und Süd in der Welt.



Vorhergehender StichtagInhaltsverzeichnisFolgender Stichtag


net edition fes-library | Juni 2001