Chronik der deutschen Sozialdemokratie / Franz Osterroth ; Dieter Schuster. - [Electronic ed.]. - Berlin [u.a.]
Der Bundeskongreß der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD findet in Bremen statt.
3. Nach dem Zweiten Weltkrieg. 2., neu bearb. und erw. Aufl. 1978.
Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2001
Stichtag:
13./15. Juni 1975
In seinem Rechenschaftsbericht betont H. Rohde, daß eine arbeitnehmerorientierte Politik nach sozialdemokratischem Verständnis auf die Bewahrung des inneren und äußeren Friedens, auf wirtschaftliche und soziale Sicherheit, auf gerechtere Verteilung von Einkommen und Wohlstand, auf gleiche Bildungs- und Entfaltungschancen, auf gleichberechtigte Mitbestimmungs- und Beteiligungsmöglichkeiten in allen gesellschaftlichen Bereichen zielen. Damit ist die AfA das entscheidende Reformpotential der SPD. Dabei müssen wir uns nüchtern klarmachen, daß wir Reformen heute unter schwieriger gewordenen Bedingungen zu erkämpfen haben. Die wirtschaftlichen Leistungsräume sind enger und die politischen Widerstände härter geworden.
W. Brandt erklärt: Die SPD wird die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen, denen sich die deutsche Sozialdemokratie gegenüber gestellt sieht, meistern, wenn sie sich als das bewahrt und konsequent fortentwickeln wird, was sie von ihrem Ursprung an gewesen ist: die politische Heimat der konkreten Interessen und der Hoffnungen der breiten Schichten der arbeitenden Menschen. Herausforderungen nennt W. Brandt u.a.: die Herausforderung durch die Veränderungen in der Weltwirtschaft und die dadurch bedingte ökonomische Lage unseres Landes; auch bei Schlechtwetter an dem als richtig und notwendig erkannten Weg schrittweiser Reformen festzuhalten; die Herausforderung durch den politischen Gegner, unser Land und in ihm vor allem die Gewerkschaften und die durch sie vertretenen Arbeitnehmer auf den Stand von vorgestern zurückzudrücken; die Herausforderung, trotz aller Widerstände unsere Politik der aktiven Friedenssicherung, der europäischen Einigung, der internationalen Zusammenarbeit weiterzuentwickeln.
Das Netz der sozialen Sicherheit sei seit 1969 ganz besonders dicht ausgebaut worden. Jedes Jahr seien in dieses Netz mehrere zusätzliche Maschen hineingewoben worden, erklärt H. Schmidt. Aus der sozialen Stabilität habe sich auch die politische Stabilität der Bundesrepublik ergeben.
Für H. Wehner ist ein sozialdemokratischer Bundeskanzler nur denkbar, wenn die SPD nicht entgleist. Die SPD wird nicht entgleisen, wenn die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen dafür sorgt, daß die arbeitenden Menschen wissen, daß ihre Interessen von der SPD gewahrt und in guten Händen sind. Die SPD müsse außer Zweifel lassen, daß sie weiß, wo es lang geht, d.h., nicht Sprüche machen, sondern politisch kämpfen und ihre Führungsfähigkeit erweisen.
Obwohl H. Schmidt, W. Brandt und H. Wehner auf die Grenzen der Machbarkeit in einer Koalitionsregierung hinweisen, nehmen die Delegierten mit überwältigender Mehrheit einen Initiativantrag an, nach dem in dieser Legislaturperiode eher auf eine gesetzliche Regelung der Mitbestimmung verzichtet werden sollte, als daß sozialdemokratische Grundpositionen auf Druck der FDP aufgegeben werden. Zu diesen Grundpositionen gehören u.a.: keine Gruppenwahl der Arbeitnehmervertreter in die Aufsichtsräte; kein Sondervorschlags- oder Wahlrecht für leitende Angestellte; volle Parität; externe Vertreter auf Vorschlag der Gewerkschaften und Mitbestimmung auch für Pressevertreter.
H. Rohde wird wieder mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft gewählt.